- Beitritt
- 05.03.2013
- Beiträge
- 558
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 30
Splitter einer Deutschlandreise. Zwölf Geschichten in einem Satz
Splitter einer Deutschlandreise. Zwölf Geschichten
Sieben Wochen reiste ich durch Deutschland, um für die Zeitschrift „Moral“ die kleinen Beobachtungen oder Geschichten aufzuschreiben, die mir erzählt wurden. Bedingung war, sie in nur einem Satz zu schreiben. Alle Personennamen, Orte und andere Fakten wurden so gewählt, dass das Erkennen der wirklichen Personen und Begebenheiten aus datenschutzrechtlichen Gründen unmöglich ist. Es wurde Wahrheit angestrebt, nicht Wirklichkeit.
Lebensabend
Am Abend nach der Abreise seiner Frau Mathilde zu einem Urlaub auf Ibiza, den sie sich nun endlich leisten konnte, nachdem sie nach ihrer beider Pensionierung ihren Mann gezwungen hatte, Haus und Garten in Großhennersdorf, die sein einziger Lebensinhalt waren, dem Sohn zu überschreiben und mit ihr in eine Neubauwohnung in Berlin-Mitte zu ziehen, weil sie damit weniger Arbeit hätte und endlich die Freiheit bekäme, zu reisen, Freundinnen zu besuchen und weniger im Haushalt zu tun, öffnete der Mann den Gashahn, nachdem er in einem Abschiedsbrief geschrieben hatte, dass er nun jeder Lebensgrundlage beraubt sei und seinem verpfuschten Leben ein Ende bereiten möchte.
Frühe Liebe
Walter U. (12) aus der Lottumstraße in Berlin vermietete seine Schwester (10) an seine Klassenkameraden und verlangte für einen Kuss drei Euro, für eine Minute Berühren des Busens fünf Euro, für Abtasten des Hinterns zehn Euro, wobei er immer sagte, dass mehr nicht „drinne“ sei, denn er müsse das Wesentliche für später aufsparen, da würde er mehr dafür bekommen.
Rosa Schleifchen
Der Hund mit dem rosa Schleifchen, der parallel zu seinem Kompagnon mit einem blauen Schleifchen trottete, mit dem ihn eine Lederleine verband, von deren Mitte aus eine Hauptleine zur Hand des Herrchens führte, das mit stockgerader Haltung durch die Halle des Münchener Hauptbahnhofes marschierte, beide Augen starr darauf gerichtet, dass seine Hunde nicht seinen Sinn für geometrische Ordnung störten, also nicht ein wenig nach rechts oder links abdrifteten, was sofort mit einem heftigen Schlag mit einem biegsamen Weidenstock von ihm geahndet wurde, dieser Hund also erschrak beim Knall eines geplatzten Luftballons so sehr, dass er sich panikartig in die Waden eines etwa vierjährigen Kindes, das den Ballon bis zu seinem Knall beinahe andächtig aus der neu eröffneten Filiale der Stadtsparkasse getragen hatte, verbiss, bis es schreiend zu Boden sank und zitternd dalag, während der Hund von seinem Herrchen blutig geschlagen wurde.
Tote Katze
Creszenzia, die siebenjährige Tochter des Wirts Michael S. in Geretsried, der vom Unglück verfolgt schien, weil sein Anwesen zur Zwangsversteigerung ausgeschrieben war und seine Frau in dieser Notlage lieber mit einem anderen Mann ihre Lebenslust befriedigte, als sich um Kind, Haus und Mann zu kümmern, und dazu noch der Arzt bei dem übergewichtigen Michael eine schwere Zuckerkrankheit festgestellt hatte, schleppte eine tote Katze in den Gastraum und legte das Tier dem Vater vor die Füße: „Jetzt hamms uns d´Muschi a no zsammgfahrn.“
86 %
In einem Andenkenladen am Kölner Bahnhof stritt ein Sachse mit der Verkäuferin über den Preis einer Gipsloreley, für die er nur 86 % des geforderten Preises zahlen wollte, da er als Bürger der ehemaligen DDR auch nur 86 % des Westgehaltes bekäme und ging, als die Besitzerin ihn aus dem Laden wies, eine halbe Stunde später vor dem Geschäft mit einem schnell angefertigten Plakat hin und her, auf dem geschrieben stand: „Ostdeutsche sind hier unerwünscht!“
(Neue Version; Dank an Gisanne)
Konzertbesuch
Während der Aufführung von „Le Sacre du Printemps“ in der Berliner Philharmonie erregte sich ein vornehmer älterer Konzertbesucher über seinen Nachbarn, der nicht eine Minute lang ruhig sitzen konnte, sondern sich ständig an unterschiedlichen Körperstellen kratzte, Hände und Finger streichelte, mit seinem Gesäß nach vorne oder hinten rutschte, die Brille zurechtrückte, die Haare glatt strich, die Nase entjuckte, in derselben bohrte, die Hosenbeine hinaufzog, den Jackenknopf auf und zu knöpfte, an der Krawatte herumzerrte, den Hals im Hemdkragen neu positionierte, die Hände verschränkte, an den Nägeln kaute, den Nasenschleim hinaufrotzte, die Augen rieb, die Schuhbänder öffnete, in der Hosentasche das Handy suchte ..., so sehr, dass er aufstand und in eine sehr leise Stelle zu dem Mann neben ihm so laut rief, dass es im ganzen Saal zu hören war: „Sie sind ein Arschloch!“
Schuldig
Ein Mann namens Manfred S. saß eines Morgens im Hotel Adlon in Berlin, wo er täglich seinen Cappuccino einnahm, und las in Zeitungen Artikel über Überfälle von Kampfhunden auf Kinder, über eine Schießerei im Rotlichtbezirk von Hamburg mit vier Verletzten, über die Beleidigung von Beamten durch den Stinkfinger, über die Untreue der Lebensgefährtin von J. Ö., über den Bankrott einer kleinen Handwerkerfirma, die die Außenstände nicht bekommen hatte, über den Mord eines bisher unbescholtenen Bürgers an seiner Ehefrau, über den Amoklauf eines Waffennarren mit vier Toten, als ihn darüber so ein Schuldgefühl überwältigte, als hätte er all diese Taten begangen, sodass er sich beim nächsten Polizeirevier all dieser Taten bezichtigte und nach einigen Stunden in eine psychiatrische Klinik gebracht wurde.
Der schöne Toni
Frau Käte T. erzählte in München, dass sie ihrem Nachbarn, der seit Jahren Wand an Wand mit ihr im Altersheim gewohnt hatte, nie die Hand gegeben habe, weil sie körperliche Abscheu vor dem Mann, der in seiner Jugend der schöne Toni genannt worden sei, auch in seinem hohen Alter von achtundachtzig Jahren noch wie ein Gentleman ausgesehen habe und von Damen umschwärmt worden sei, nicht hätte überwinden können, so, als hätte ihr Körper gespürt, dass dieser Anton R. einer der schlimmsten Aufseher, Quäler und Mörder im KZ Theresienstadt gewesen war, was herausgekommen sei, als er vor einigen Wochen verhaftet worden war.
Kynologische Heilung
In einer sehr entlegenen Gegend der Rhön riet ein Geistheiler einem besorgten Vater, dessen dreijährige Tochter seit Monaten von Ausschlägen, Durchfall und Krämpfen geplagt worden war, sie mit einem Hund zu verheiraten, was wenige Tage nach der Hochzeit mit einem Dackel, die der Geistheiler vorgenommen hatte, zum Erfolg führte.
Millionen
Als Frau Theresa Z im Lotto vier Millionen Euro gewonnen hatte, ging sie noch am selben Abend mit ihrem Mann in ihr Lieblingslokal und zahlte für alle Gäste Speisen und Getränke (Kosten: 3000.00 €), fuhr am nächsten Tag mit einem Taxi nach München, um ihre Millionen abzuholen (Kosten: 300,00 €), hielt im Hofbräuhaus alle, die an ihrem Tisch saßen, frei (Kosten: 2500.00 €), richtete ein großes Fest im vornehmsten Hotel von S. für alle Freunde und Bekannten aus (Kosten: 120000.00 €) und lebte so weiter, bis sie nach zwei Jahren ihr Haus, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, verkaufen musste, um ihre Schulden bezahlen zu können, was für ihren Mann so eine Schande bedeutete, dass er sich am obersten Dachbalken des Hauses aufhängte.
Spitzel
In einem großen Einkaufszentrum in Magdeburg deutete Herr Isbert V. mit ausgestreckter Hand auf einen Mann, der in einem Blaumann offensichtlich Hausmeisterdienste verrichtend durch die Regalschluchten eilte, und schrie seiner neben ihm gehenden Frau so lautstark zu: „Wegen diesem Stasi-Spitzel musste ich zwei Jahre ins Gefängnis und solche Leute kriegen heute wieder Arbeit!“, dass viele Kunden ihn hörten, den derart Geächteten scheu musterten und schnell weiter gingen.
(Neue Version; Dank an Gisanne)
Porno
Der Philosophieprofessor Werner K. erzählte in einer Tagungspause in Freiburg, dass er nach den Vorträgen von der Verlogenheit, dem Profilierungsgehabe, der moralinsauren Höchstethik, der glatten Sonntagsrhetorik, dem Ich-bin-ein-wichtiger-Mann/Frau-Blick, der verantwortungstragenden Gesichtsmaske und dem Wichtigkeitsgetue seiner Kolleginnen und Kollegen so genervt sei, dass er sich im Hotelzimmer einen Pornofilm ansähe, um wieder ein Gefühl von Anstand, Ehrlichkeit und Realität zu bekommen.