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Splitter einer Deutschlandreise. Zwölf Geschichten in einem Satz

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05.03.2013
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Splitter einer Deutschlandreise. Zwölf Geschichten in einem Satz

Splitter einer Deutschlandreise. Zwölf Geschichten

Sieben Wochen reiste ich durch Deutschland, um für die Zeitschrift „Moral“ die kleinen Beobachtungen oder Geschichten aufzuschreiben, die mir erzählt wurden. Bedingung war, sie in nur einem Satz zu schreiben. Alle Personennamen, Orte und andere Fakten wurden so gewählt, dass das Erkennen der wirklichen Personen und Begebenheiten aus datenschutzrechtlichen Gründen unmöglich ist. Es wurde Wahrheit angestrebt, nicht Wirklichkeit.

Lebensabend
Am Abend nach der Abreise seiner Frau Mathilde zu einem Urlaub auf Ibiza, den sie sich nun endlich leisten konnte, nachdem sie nach ihrer beider Pensionierung ihren Mann gezwungen hatte, Haus und Garten in Großhennersdorf, die sein einziger Lebensinhalt waren, dem Sohn zu überschreiben und mit ihr in eine Neubauwohnung in Berlin-Mitte zu ziehen, weil sie damit weniger Arbeit hätte und endlich die Freiheit bekäme, zu reisen, Freundinnen zu besuchen und weniger im Haushalt zu tun, öffnete der Mann den Gashahn, nachdem er in einem Abschiedsbrief geschrieben hatte, dass er nun jeder Lebensgrundlage beraubt sei und seinem verpfuschten Leben ein Ende bereiten möchte.

Frühe Liebe
Walter U. (12) aus der Lottumstraße in Berlin vermietete seine Schwester (10) an seine Klassenkameraden und verlangte für einen Kuss drei Euro, für eine Minute Berühren des Busens fünf Euro, für Abtasten des Hinterns zehn Euro, wobei er immer sagte, dass mehr nicht „drinne“ sei, denn er müsse das Wesentliche für später aufsparen, da würde er mehr dafür bekommen.

Rosa Schleifchen
Der Hund mit dem rosa Schleifchen, der parallel zu seinem Kompagnon mit einem blauen Schleifchen trottete, mit dem ihn eine Lederleine verband, von deren Mitte aus eine Hauptleine zur Hand des Herrchens führte, das mit stockgerader Haltung durch die Halle des Münchener Hauptbahnhofes marschierte, beide Augen starr darauf gerichtet, dass seine Hunde nicht seinen Sinn für geometrische Ordnung störten, also nicht ein wenig nach rechts oder links abdrifteten, was sofort mit einem heftigen Schlag mit einem biegsamen Weidenstock von ihm geahndet wurde, dieser Hund also erschrak beim Knall eines geplatzten Luftballons so sehr, dass er sich panikartig in die Waden eines etwa vierjährigen Kindes, das den Ballon bis zu seinem Knall beinahe andächtig aus der neu eröffneten Filiale der Stadtsparkasse getragen hatte, verbiss, bis es schreiend zu Boden sank und zitternd dalag, während der Hund von seinem Herrchen blutig geschlagen wurde.

Tote Katze
Creszenzia, die siebenjährige Tochter des Wirts Michael S. in Geretsried, der vom Unglück verfolgt schien, weil sein Anwesen zur Zwangsversteigerung ausgeschrieben war und seine Frau in dieser Notlage lieber mit einem anderen Mann ihre Lebenslust befriedigte, als sich um Kind, Haus und Mann zu kümmern, und dazu noch der Arzt bei dem übergewichtigen Michael eine schwere Zuckerkrankheit festgestellt hatte, schleppte eine tote Katze in den Gastraum und legte das Tier dem Vater vor die Füße: „Jetzt hamms uns d´Muschi a no zsammgfahrn.“

86 %
In einem Andenkenladen am Kölner Bahnhof stritt ein Sachse mit der Verkäuferin über den Preis einer Gipsloreley, für die er nur 86 % des geforderten Preises zahlen wollte, da er als Bürger der ehemaligen DDR auch nur 86 % des Westgehaltes bekäme und ging, als die Besitzerin ihn aus dem Laden wies, eine halbe Stunde später vor dem Geschäft mit einem schnell angefertigten Plakat hin und her, auf dem geschrieben stand: „Ostdeutsche sind hier unerwünscht!“
(Neue Version; Dank an Gisanne)

Konzertbesuch
Während der Aufführung von „Le Sacre du Printemps“ in der Berliner Philharmonie erregte sich ein vornehmer älterer Konzertbesucher über seinen Nachbarn, der nicht eine Minute lang ruhig sitzen konnte, sondern sich ständig an unterschiedlichen Körperstellen kratzte, Hände und Finger streichelte, mit seinem Gesäß nach vorne oder hinten rutschte, die Brille zurechtrückte, die Haare glatt strich, die Nase entjuckte, in derselben bohrte, die Hosenbeine hinaufzog, den Jackenknopf auf und zu knöpfte, an der Krawatte herumzerrte, den Hals im Hemdkragen neu positionierte, die Hände verschränkte, an den Nägeln kaute, den Nasenschleim hinaufrotzte, die Augen rieb, die Schuhbänder öffnete, in der Hosentasche das Handy suchte ..., so sehr, dass er aufstand und in eine sehr leise Stelle zu dem Mann neben ihm so laut rief, dass es im ganzen Saal zu hören war: „Sie sind ein Arschloch!“


Schuldig

Ein Mann namens Manfred S. saß eines Morgens im Hotel Adlon in Berlin, wo er täglich seinen Cappuccino einnahm, und las in Zeitungen Artikel über Überfälle von Kampfhunden auf Kinder, über eine Schießerei im Rotlichtbezirk von Hamburg mit vier Verletzten, über die Beleidigung von Beamten durch den Stinkfinger, über die Untreue der Lebensgefährtin von J. Ö., über den Bankrott einer kleinen Handwerkerfirma, die die Außenstände nicht bekommen hatte, über den Mord eines bisher unbescholtenen Bürgers an seiner Ehefrau, über den Amoklauf eines Waffennarren mit vier Toten, als ihn darüber so ein Schuldgefühl überwältigte, als hätte er all diese Taten begangen, sodass er sich beim nächsten Polizeirevier all dieser Taten bezichtigte und nach einigen Stunden in eine psychiatrische Klinik gebracht wurde.

Der schöne Toni
Frau Käte T. erzählte in München, dass sie ihrem Nachbarn, der seit Jahren Wand an Wand mit ihr im Altersheim gewohnt hatte, nie die Hand gegeben habe, weil sie körperliche Abscheu vor dem Mann, der in seiner Jugend der schöne Toni genannt worden sei, auch in seinem hohen Alter von achtundachtzig Jahren noch wie ein Gentleman ausgesehen habe und von Damen umschwärmt worden sei, nicht hätte überwinden können, so, als hätte ihr Körper gespürt, dass dieser Anton R. einer der schlimmsten Aufseher, Quäler und Mörder im KZ Theresienstadt gewesen war, was herausgekommen sei, als er vor einigen Wochen verhaftet worden war.

Kynologische Heilung
In einer sehr entlegenen Gegend der Rhön riet ein Geistheiler einem besorgten Vater, dessen dreijährige Tochter seit Monaten von Ausschlägen, Durchfall und Krämpfen geplagt worden war, sie mit einem Hund zu verheiraten, was wenige Tage nach der Hochzeit mit einem Dackel, die der Geistheiler vorgenommen hatte, zum Erfolg führte.

Millionen
Als Frau Theresa Z im Lotto vier Millionen Euro gewonnen hatte, ging sie noch am selben Abend mit ihrem Mann in ihr Lieblingslokal und zahlte für alle Gäste Speisen und Getränke (Kosten: 3000.00 €), fuhr am nächsten Tag mit einem Taxi nach München, um ihre Millionen abzuholen (Kosten: 300,00 €), hielt im Hofbräuhaus alle, die an ihrem Tisch saßen, frei (Kosten: 2500.00 €), richtete ein großes Fest im vornehmsten Hotel von S. für alle Freunde und Bekannten aus (Kosten: 120000.00 €) und lebte so weiter, bis sie nach zwei Jahren ihr Haus, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, verkaufen musste, um ihre Schulden bezahlen zu können, was für ihren Mann so eine Schande bedeutete, dass er sich am obersten Dachbalken des Hauses aufhängte.

Spitzel
In einem großen Einkaufszentrum in Magdeburg deutete Herr Isbert V. mit ausgestreckter Hand auf einen Mann, der in einem Blaumann offensichtlich Hausmeisterdienste verrichtend durch die Regalschluchten eilte, und schrie seiner neben ihm gehenden Frau so lautstark zu: „Wegen diesem Stasi-Spitzel musste ich zwei Jahre ins Gefängnis und solche Leute kriegen heute wieder Arbeit!“, dass viele Kunden ihn hörten, den derart Geächteten scheu musterten und schnell weiter gingen.
(Neue Version; Dank an Gisanne)

Porno
Der Philosophieprofessor Werner K. erzählte in einer Tagungspause in Freiburg, dass er nach den Vorträgen von der Verlogenheit, dem Profilierungsgehabe, der moralinsauren Höchstethik, der glatten Sonntagsrhetorik, dem Ich-bin-ein-wichtiger-Mann/Frau-Blick, der verantwortungstragenden Gesichtsmaske und dem Wichtigkeitsgetue seiner Kolleginnen und Kollegen so genervt sei, dass er sich im Hotelzimmer einen Pornofilm ansähe, um wieder ein Gefühl von Anstand, Ehrlichkeit und Realität zu bekommen.

 

Hallo Gisanne,

ja, das sind tolle Übungen, in denen man alle seine Hirnwindungen rauf und runter durchforsten kann. Aber, na ja, auch hier kann man noch kürzen, straffen, feilen und polieren. z.B. hier:
86 %
In einem Andenkenladen am Kölner Bahnhof begann ein Mann aus Sachsen einen Streit mit der Besitzerin des Ladens, weil er für die Figur der Loreley nur 86 % des Ladenpreises zahlen wollte, denn er würde als Bürger der ehemaligen DDR auch nur 86 % des Westgehalts bekommen, und, als die Besitzerin ihm den Wunsch nicht erfüllte und ihn aus dem Laden wies, ging eine halbe Stunde vor dem Laden mit einem schnell angefertigten Plakat mit dem Satz „Ostdeutsche sind hier unerwünscht!“ auf und ab.
86 %
In einem Andenkenladen am Kölner Bahnhof stritt ein Mann aus Sachsen mit der Verkäuferin über den Preis der Gipsloreley, für die er nur 86 % des geforderten Preises zahlen wollte, da er als Bürger der ehemaligen DDR auch nur 86 % des Westgehaltes bekäme und als die Besitzerin ihn verärgert aus dem Laden wies, ging er eine halbe Stunde spätervor dem Geschäft mit einem schnell angefertigten Plakat hin und her, auf dem geschrieben stand: „Ostdeutsche sind hier unerwünscht!“
Damit reduzieren sich Wortwiederholungen (Laden) und es kommt mehr Fluss ins Ganze..
Richtig; auch „verärgert“ weg, ein Sachse statt Mann aus Sachsen, schnell angefertigten Plakat mit der Aufschrift:

Und hier:
Spitzel
In einem großen Einkaufszentrum in Magdeburg schrie Herr Isbert V. seiner neben ihm gehenden Frau, dabei mit der ausgestreckten Hand auf einen Mann deutend, der diensteifrig-gebückt in einem Blaumann offensichtlich Hausmeisterdienste verrichtend durch die Regalschluchten eilte, so lautstark zu: „Wegen diesem Stasi-Spitzel musste ich zwei Jahre ins Gefängnis. Und solche Leute kriegen heute wieder Arbeit!“, dass viele Kunden dies hörten, scheu den ehemaligen Stasi-Offizier musterten und schnell weiter gingen.
Spitzel
In einem großen Einkaufszentrum in Magdeburg deutete Herr Isbert V. mit ausgestreckter Hand auf einen Mann, der in einem Blaumann offensichtlich Hausmeisterdienste verrichtend durch die Regalschluchten eilte, und schrie seiner neben ihm gehenden Frau so lautstark zu: „Wegen diesem Stasi-Spitzel musste ich zwei Jahre ins Gefängnis und solche Leute kriegen heute wieder Arbeit!“, dass viele Kunden ihn hörten, den derart Geächteten scheu musterten und schnell weiter gingen.
Auch hier geht es noch: dass viele Kunden den derart Geächteten scheu musterten und schnell weiter gingen.
Hier hab ich nur umgestellt und das diensteifrig-gebückt scheint mir nicht so passend, wenn er dazu noch eilt. Stasi-Spitzel und die Nachdoppelung Stasi-Offizier finde ich zu viel.
Ich auch.

Das mache ich auch oft gern. So Reduktionen sind gut gegen Geschwätzigkeiten und sind prima geeignet, sich auf Wesentliches zu konzentrieren, was dann einem Text mit vielen Sätzen zugute kommt. Inhaltlich finde ich, dass du durchaus Geschichten antippst, die man weiterspinnen kann.
Was soll ich zu deinem Kommentar sagen? Ich fühle mich von dir voll verstanden und freue mich, dass du ebenso gerne so an einem Text arbeitest wie ich.
Darf ich deine Bearbeitung so übernehmen?
Vielen Dank für die positive Rückmeldung und in alter Leninscher Manier: kürzen, kürzen und nochmals kürzen.
Fröhliche Grüße und schöne Pfingsten
Wilhelm Berliner

 

Darf ich deine Bearbeitung so übernehmen?

Na klar darfst du, inklusive der Kürzungen, die du selbst noch gemacht hast. Finde ich gut.
Ja, die Leninsche Manier ... wenn du dabei nicht deine Texte um Köpfe kürzer machst und das, was gut ist, nicht in die Verbannung schickst, will mir eine Revolutionierung guter Texte schon gefallen :D Also auch beim Kürzen immer schön die Balance wahren. :)

Liebe Grüsse,
Gisanne

 

„Was vernünftig ist, das ist wirklich;
und was wirklich ist, das ist vernünftig.“
Hegel, Rechtsphilosophie​

Es wurde Wahrheit angestrebt, nicht Wirklichkeit.

Ein hoher Anspruch,

lieber Wilhelm,

denn als „wahr“ gilt immer schon, was einer wahrnimmt – ob als Glaube an eine frohe Botschaft, Google oder auch die Statistik (die Macht der großen Zahl, was zum mainstream führt) und der Religionsersatz Wissenschaft mit der Kernspaltung der einen Wahrheit in Wahrscheinlichkeiten – und trifft sich also doch mit der Wirklichkeit, eben das, was auf einen wirkt (glaube keiner, er sei frei von fremden Einflüssen) und zugleich für Wahr nimmt, was in Deinen Kleinstreportagen mit ästhetischem Anspruch, eben der Begrenzung auf einen Satz, und gibst in zwölf Schlaglichtern die Zerrissenheit und den Irrgarten (oder doch [W]Irrenanstalt?) der kleinbürgerlichen, bundesrepublikanischen Seelen wieder – von der Geschäftstüchtigkeit des Zehnjährigen bis zu den verlorenen Träumen des Ruheständlers. Der Ariadnefaden (der von manchem hier vermisste „rote“ Faden) ist eben Deine Erzählkunst. Führte der Faden den Theseus hinaus aus dem Irrgarten (der in Wirklichkeit der Palast zu Knossos, der Sitz der minoischen Elite gewesen ist), führstu uns hinein und wir müssen selbst herausfinden. Dabei gibstu Dich als Schüler Karl Kraus’ zu erkennen.

Der erfand nicht, sondern fand (wie Du durch selbst erleben und notieren) und so heißt es im Vorwort zu den letzten Tagen der Menschheit: „Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate”, womit Kraus sich der Methode Georg Büchners bedient (Akten- / Dokumentenstudium - mit Ausnahme von Leonce und Lena, durch die freilich neben Shakespeare Jean Paul durchschimmert). Ausgedachtes reicht i. d. R. nicht an die Wirklichkeit heran und literarische Sprache sagt „noch als Lüge die Wahrheit […] und der Satz [beschreibt] noch als Aussatz die Verwahrlosung der Seele […]”. Nun Totenmasken unserer Zeit sind es nicht, aber Kraus reiste auch nicht: Sein Fundort war die Presse.

Kleinere Reparaturen wären vorzunehmen

als schnappte die Fälle-Falle (ohne Schleifchen) ab und an zu

Der Hund mit dem rosa Schleifchen, der parallel zu seinem Kompagnon mit einem blauen Schleifchen trottete, mit dem ih[n] eine Lederleine verband, von deren Mitte …

Die Tochter Creszenzia … stieß schluchzend die Tür zum Gastraum auf, in dem gerade der berühmte Kunsthistoriker Alfred H. seiner jungen und hübschen Begleiterin einen Vortrag über Tizian hielt und am Stammtisch über de[n] baldigen Tod des 87jährigen Sebastian G. spekuliert wurde …

…, als die Besitzerin ihm den Wunsch nicht erfüllte und ihn aus de[n] Laden wies, …

Hier müsste ich eigentlich Herrn Isbert V. tadeln, aber so spricht man halt in der Sprache, mit der und durch die man mit den Leuten oder umgeht, um ihm den Genitiv nahezulegen („wegen dieses Spitzels …“), aber das klänge ihm (und vielen andern) seltsam. Da passt man sich halt an den mainstream, ob als Spitzel oder ordentlicher Bürger …, an ...
„Wegen diesem Stasi-Spitzel musste ich zwei Jahre ins Gefängnis. Und solche Leute kriegen heute wieder Arbeit!“, …

Hier wäre ein Komma entbehrlich
…, nachdem sie nach ihrer beider Pensionierung ihren Mann[…] zeitehelebens an die Rolle des Pantoffelhelden gewöhnt, …
Aber – ich sag’s mal einfach so: Es zeigt eine Atempause an

Eine letzte Anmerkung, schon beim Eingangssatz

Sieben Wochen reiste ich durch Deutschland, um für die Zeitschrift „Moral“ die kleinen Beobachtungen oder Geschichten, die mir erzählt wurden, aufzuschreiben.
Die schwache Klammer um den Infinitivsatz ließe schadlos sich vermeiden mitsamt eines eingesparten Kommas, indem der eingeschobene Relativsatz ans Ende gesetzt würde:
… , um … die kleinen Beobachtungen oder Geschichten [aufzuschreiben], die mir erzählt wurden[.]

Mir hats gefallen, findet der

Friedel,

der eingedenk des Erfolges von Katja Petrowskaja davon aubrät, die Einsatzgeschichten auch nur zu einer (oder mehrereh) Kurzgeschichte(n) auszubauen.

Gruß und frohe Pfingsten aus dem inneren eines Grills ...

 

Hallo Fugu

ich melde mich noch mal. Ich finde diesen induktiven Ansatz, nämlich aus vielen Einzelbeobachtungen auf ein zugrundeliegendes Phänomen oder eine Erklärung zu kommen, oft als den einzig möglichen aber sehr schweren Weg und Dir ist das irgendwie hervorragend gelungen.
Das freut mich aber sehr.

Gemeinsame Empfindungen, die die Geschichten im einzelnen und in ihrer Gesamtheit auf der Metaebene herausdrücken, hast du ja inzwischen explizit erwähnt: Angst, Konfrontation, der vom Schicksal vorgezeichnete Weg …
Richtig hast du bemerkt: Man kann die Geschichten (nur?) von einer Metaebene aus verstehen. Sie zwingen einen ja auch, auf die Metaebene(n) zu gehen.
„Wie weit kann Toleranz gehen?“ käme vielleicht noch hinzu: In „Millionen“ allerdings könnte das Verhalten der Frau einfach als Naivität oder Dummheit abgetan werden.
Ja, als Dummheit, aber was steckt hinter dieser? Sie wollte (ich kenne sie etwas genauer) einfach geachtet und geliebt werden und wollte sich Achtung und Liebe erkaufen. Dummheit also ja, weil jeder weiß, dass das nicht gut geht, aber wie viele Menschen tun dies dennoch auf unterschiedliche Art.
Jetzt stelle ich mir weiter vor, dass Undeutsche und Andersländer Deine Geschichten lesen. Ein Japaner würde wahrscheinlich derart kondensierte und strukturierte Aussagen sehr mögen. „86 %“ ist aber ein Spezialfall. Das verstehen nur Inländer. Wie wäre es, wenn in dieser Geschichte ein Inder der untersten Hindukaste in das Geschäft käme …?
Das wäre tatsächlich interessant. Da ich dies nicht erlebt habe, kann ich es auch nicht schreiben. Es ging mir darum, tatsächlich Beobachtetes, Erlebtes oder Gehörtes niederzuschreiben und dann zu bearbeiten.
Ich bin sehr froh, dass du offenkundig mit meinen Geschichten und den Intentionen etwas anfangen konntest.
Vielen Dank für die Rückmeldung.
Fröhliche Grüße
Wilhelm Berliner

 

Hallo Silvi!

Vielen Dank für deine Anmerkungen.

Der rote Faden ist dein Schreibstil, der mir als Verbindung völlig genügt.
Das ist der formale Aspekt, der eine Verbindung schafft.

Das Lesen dieser originellen Szenen ist ähnlich wie das Blättern in einem Bilderbuch, einem recht skurrilen an manchen Stellen.
Wer mit wachen Augen und mit einem beobachtenden Blick durch die Welt geht, sieht so manches Merkwürdige. Bilderbuch ist ein guter Vergleich, denn diese Kürzest-Episoden, wie Anakreon sie nennt, sind Versuche, Geschehnisse als „Lektüre für Minuten“, wahrscheinlich eher für Sekunden, zu schreiben.
Ich war oft überrascht, musste lachen, habe auch mal geschluckt.
Vielen Dank, denn das hatte ich als Leserreaktion erhofft.
Diese Idee einer Reise gefällt mir sehr und ich genieße den Ausflug noch ein Weilchen.
Wenn es noch etwas an den Texten zu schleifen gibt, hast du das schon in den vorhergehenden Kommentaren erfahren, nehme ich an.
Leider meine ich, an Texten, wenigstens an meinen, gibt es immer was zum Schleifen.
Viele Grüße und ich würde es spannend finden, wenn du dieses Projekt weiter entwickelst - vielleicht zusammen mit anderen?
Du kannst die Reise auf diese Art und Weise selber machen. Dazu noch etwas in einem folgenden Kommentar.
Vielen Dank für deine Rückmeldung und die positive Einschätzzung. Ich freue mich jedenfalls, dass dir dies auch Spaß gemacht hat.
Fröhliche Grüße
Wilhelm Berliner


Hallo Gisanne!

Vielen Dank für die Erlaubnis.

Ja, die Leninsche Manier ... wenn du dabei nicht deine Texte um Köpfe kürzer machst und das, was gut ist, nicht in die Verbannung schickst, will mir eine Revolutionierung guter Texte schon gefallen Also auch beim Kürzen immer schön die Balance wahren.
Wie recht du natürlich hast.
Aber Lust hätte ich schon, diesen deinen Warnhinweis in eine Geschichte zu fassen, in der ein Autor eine Kurzgeschichte wunderbar vollendet hat und sich ans Kürzen macht und dies so lange tut, bis nur noch ein leeres Blatt da ist. In den Kürzungsargumenten würde sich eine Geschichte spiegeln. Vielen Dank für die Anregung.
Fröhliche Grüße
Wilhelm Berliner

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Wilhelm,
zuerst mal, eine schöne Idee, diese Splitter. Mir gefielen manche ganz ausgezeichnet, manche fand ich doof (zum Beispiel die erste Geschichte). Naja, wie es halt so ist.
Aber wehe, du hältst mir jetzt wie floritv eine Abhandlung, über dieses Geschmacksurteil, so dass man sich dann hinterher noch döfer vorkommt. :D Wehe! Äh, döfer, das sieht komisch aus. Schreibt man das so? Zu heiß, um nachzugucken.

Als ich dann die Kritik der anderen las, fand ich auch, dass es toll wäre, die Geschichten hingen alle schön zusammenhängend an einem roten Faden. Aber das willst du explizit nicht. Soll eher Vermischtes sein. Gut, es ist so, wie es ist.
Besonders lakitas Idee hat mir trotzdem gefallen, das Zusammenführen am Ende, der Aha-Effekt, dass die Wimmelbildchen trotz Gewimmel am Ende zu etwas Gemeinsamem gehören, was sich am Schluss sozusagen enttarnt.
Naja, aber man müsste halt wirklich eine gute Idee haben, um zu prüfen, ob das einem dann taugt oder ob man das Geniale gefunden hat.

Hab mich also mehr mit den Geschichtchen im Einzelnen befasst entsprechend deiner Splitterintention.
Aber vorher noch was allgemein zu deinem Versuch, alles in langen Sätzen zu schreiben. Ich fand das einerseits schön. Ich mag lange Sätze auch, es ist eine Kunst sie zu spinnen und trotzdem lesbar zu halten. Ich persönlich bevorzuge eine Mischung aus beidem. Das ist für mich lesbar. Lese ich beispielsweise Stakkatosätze, ununterbrochen Ellipsen, alles reduziert auf Satzlängen von höchstens sieben Wörtern (als Beispiel) dann habe ich immer das Gefühl, ich kriege Asthma beim Lesen oder - alle sind in der gleichen Schreibschule gewesen. Todlangweilig.
Hab neulich Zsuzsa Bank gelesen, da war es dann umgekehrt, die schreibt echt lange Sätze und wienert sich satzmäßig von einer Assoziation zur anderen. Das ist auf Dauer auch total ermüdend, man hat das Gefühl, neben einem sitzt die von Kaffee besoffene Freundin, die sich von der Waschmaschine zu dem neusten Film quatscht und wieder zurück. Oh, ich merke, ich schweife ab, aber das bleibt jetzt so.
Ich finde aber auch, dass man sich nicht von dieser Idee "lange Sätze sollen es unbedingt und immer sein" knechten lassen sollte. Mir ist deine Intention an dieser Stelle nicht klar geworden.
Denn einige deiner Splitter finde ich schwer lesbar, weil man immer wieder den Anfangspunkt suchen muss.Wenn man das macht, sollte es, finde ich, nicht nach Unbeholfenheit klingen.

Ein Wort noch zu deinem Vorbild Proust. Hast du dir schon mal überlegt, warum kein Schwein den gelesen hat? Jeder fängt an mit "Auf der Such nach der verlorenen Zeit", keiner bringts zuende. Naja, paar Ausnahmen gibts. Vielleicht auch dich.
Aber ich bin echt froh, Wilhelm, dass du nicht schreibst wie Proust, guck dir z. B. mal den Inhalt dieser nörgeligen Liebesbetrachtung an, die du zitiert hast. Weil die Liebe zu einer Person relativ ist, ich mich also nach der einen Frau in eine andere verlieben könnte, deswegen muss die Liebe ein hehres Ideal bleiben. Pfui Deibel, ich sag das echt gern in diesem Falle, das ist idealistischer Quark. Und Proust ist ein alter Misanthrop.

Aber jetzt zu deinen Splittern. Ich geh die mal durch:

Lebensabend:
Ist gut lesbar, aber das fand ich zu vorhersehbar, zu vorgekaut. Traurig und düster könnte es schon sein, und man könnte sich fragen, warum hat sich der Mann nie gewehrt. Aber diese Reflektionsmöglichkeit bzw. Fragestellung hast du dem Leser mit dem Hinweis genommen, dass er zeitlebens zum Pantoffelhelden gedrillt worden ist. Ich glaube, dieser Splitter wäre mehr ohne die Pantoffel-Auflösung.

Frühe Liebe:
Ja, vielleicht auch ein bisschen vorhersehbar. Aber trotzdem viel weniger auserzählt als das erste Splitterchen. Und gut lesbar.

Rosa Schleifchen:
Super, das ist ein echt toller Splitter, erstens ein schönes Bild mit diesen Schleifchenhunden. Dann das Herrchen, das so unglaublich hart in der Hundeerziehung ist, also diese ganze eskalierende Situation, man siehr nur, aber man versteht sofort, dass Gewalt Gewalt gebiert. Und sei es auch nur ein Schleifchenhund, der so sehr drangsaliert dann zum Beißer wurde.
Eine großartige Szene. Aber sprachlich nicht ganz einwandfrei.
Einen sehr starken Ruckler gibt es, und zwar ist das hier. Du sprichst die ganze Zeit vorher von dem Herrchen und nimmst dann den ursprünglichen Hauptsatz mit dem Subjekt "Hund mit Schleifchen" wieder auf, aber dieses Subjekt hat der Leser dann schon längst vergessen und bezieht das verbeißt sich zunächst auf das Herrchen. Übrigens auch nicht schlecht. Aber das nur am Rande. Das könnte man lösen, wenn du einfach noch einmal einen Rückbezug zum Subjekt einfügst. Vorschlag mach ich keinen, kannst du als Satzverlängerer eh besser als ich.

Ordnung störten, also nicht ein wenig nach rechts oder links abdrifteten, was sofort mit einem heftigen Schlag mit einem biegsamen Weidenstock von ihm geahndet wurde, erschrak beim Knall eines geplatzten Luftballons so sehr, dass er sich panikartig in die Waden eines etwa vierjährigen Kindes, das den Ballon bis zu seinem Knall beinahe andächtig aus der neu eröffneten Filiale der Stadtsparkasse getragen hatte, verbiss, bis es schreiend zu Boden sank und zitternd dalag, während der Hund von seinem Herrchen blutig geschlagen wurde.

Tote Katze:
Super. Sowohl inhaltlich als auch sprachlich.

86 %:
Auch super. Aber ich hab mir erlaubt, ein Wort hier mal umzutauschen, ich finde, das macht den Satz lesbarer. Ging ist nach vorne gezogen.

In einem Andenkenladen am Kölner Bahnhof begann ein Mann aus Sachsen einen Streit mit der Besitzerin des Ladens, weil er für die Figur der Loreley nur 86 % des Ladenpreises zahlen wollte, denn er würde als Bürger der ehemaligen DDR auch nur 86 % des Westgehalts bekommen, und ging, als die Besitzerin ihm den Wunsch nicht erfüllte und ihn aus dem Laden wies, eine halbe Stunde vor dem Laden mit einem schnell angefertigten Plakat mit dem Satz „Ostdeutsche sind hier unerwünscht!“ auf und ab.

Konzertbesuch:
Auch gut. Und gut lesbar wegen der Aufzählungen.

Schuldig:
Tja, hmmm. Ist schon auch gut. Aber war nicht so überraschend für mich wie die Katze. Mehr wie der Konzertbesuch nur nicht ganz so lustig. Aber sicherlich auch sehr Geschmackssache.

Der schöne Toni:
okay, auch gut lesbar. Aber inhaltlich vorhersehbar. Und splitteriger im Sinne von Merkwürdigkeiten einer Reise wäre es gewesen, dass Frau Käte dem schönen Toni schon nicht abgeneigt gewesen wäre, wenn denn er usw. Oder wenn der schöne Toni durchaus nicht so mit seinen Ansichten hinter dem Berg gehalten hätte, wie das Frau Käthe nun impliziert.
Zugute halten muss man aber, dass du hier mit dem Klischee, dass ein so guter Mensch sich als Bösewicht entpuppt, brichst.
Also gerade bei dieser Geschichte musste ich an den Bibelspruch denken mit "du siehtst den Splitter im Auge deines Bruders, aber nicht den Balken im eigenen Auge". Okay, passt natürlich nicht genau auf so eine Altersheimdame, aber es ist ja wirklich so, dass sich alle immer empören, wenn eine Meinung aus dem Munde eines demokratisch verpönten NPD-Funktionärs rauskommt, aber mit großer Inbrunst und Rechtsbewusstsein recht deutliche Rassismen vor sich hinerzählen.

Kynologische Heilung: :lol:

Millionen: Nee, viel zu vorhersehbar und klar das Ganze. Da fehlt ein Dreh.

Spitzel: Auch gut.

Porno:
Super. Das hast du sowohl sprachlich als auch inhaltlich total überraschend und toll gemacht. Hut ab. Das war nicht nur treffend, sondern zudem sehr pointiert, du spielt hier sehr geschickt mit den Kontrasten und Klischees einer Gesellschaft, und von daher und zum Nachdenken anregend. Das gin bei mir sogar so weit, dass ich dachte, ach ja, Werner K., gute Entschuldigung. Aber das meine ich nicht als Kritik, sondern al Splitter, der einen Prozess anregt.


Insgesamt aus der Rückschau muss ich sagen, mir gefällts, eine oder nur zwei solcher Geschichtchen in der Kürze, das wäre wirklich eine Zeitungsmeldung oder ein Witzlein unter Vermischtes gewesen, und ich hätte mich sicherlich massiv beschwert. So finde ich schon, das hat was. Hätte gern noch mehr sein können.
Also sehr gerne gelesen und sehr gerne über Proust nachgedacht und über lange Sätze. Und über kleine bösartige Splitter.
Viele Grüße von der Novak

 

Der Titel verspricht leider mehr als er halten kann - statt „Splitter einer Deutschlandreise. Zwölf Geschichten“ hätte „Vermischtes“ treffender deine Sammlung angekündigt bzw. charakterisiert, und so die eventuell aufkommende Enttäuschung in Grenzen gehalten. Die Geschichten sind schon interessant und mitunter auch kurios, aber man merkt ihnen das Bemühen – oder das Mühen – an, alles in einem Satz sagen zu wollen.

Für sowas haben wir früher eine Rubrik namens Experimente gehabt. Da hätte der Text wunderbar gepasst und die Kritiken wären dann sicher entgegenkommender bzw. milder ausgefallen. So aber muss ich in das Horn von ernst offshore und 7miles blasen: Aus jeder dieser Ein-Satz-Zusammenfassungen bzw. Notizen ließe sich eine richtige Geschichte schmieden. Oder gar ein Roman, wenn ich da an die Episode mit dem KZ-Aufseher denke.

Aber was nicht ist, kann es noch werden – ich denke nicht, dass damit Dein Pulver schon verschossen ist. :thumbsup:

 

Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.
Mit Worten läßt sich trefflich streiten,
Mit Worten ein System bereiten,
An Worte läßt sich trefflich glauben,

Wie gut, dass diese Worte des Teufels sind, oft zitiert und wirkungslos,

lieber Friedel,

denn was haben wir sonst als Worte, wenn wir nicht wie Leonce dasitzen und lamentieren wollen:
„Mein Leben gähnt mich an, wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich bringe keinen Buchstaben heraus.“
Leben und Wort, Wahrheit und Wirklichkeit und Vernunft und …
Das hilft halt das Revolutionslied: „Hei, da sitzt e Fleig an der Wand“, bis auch sie durch Paral totgemacht wird.

Es wurde Wahrheit angestrebt, nicht Wirklichkeit.
Ein hoher Anspruch,
und hohe Worte
denn als „wahr“ gilt immer schon, was einer wahrnimmt – ob als Glaube an eine frohe Botschaft, Google oder auch die Statistik (die Macht der großen Zahl, was zum mainstream führt) und der Religionsersatz Wissenschaft mit der Kernspaltung der einen Wahrheit in Wahrscheinlichkeiten –
Ist das Wahre ein Wort oder Zeichen?
und trifft sich also doch mit der Wirklichkeit, eben das, was auf einen wirkt (glaube keiner, er sei frei von fremden Einflüssen)
Sollte es solche Menschen geben?
und zugleich für Wahr nimmt, was in Deinen Kleinstreportagen mit ästhetischem Anspruch, eben der Begrenzung auf einen Satz,
Ein Korsett, das einen zusammenhält, aber auch drückt.
und gibst in zwölf Schlaglichtern die Zerrissenheit und den Irrgarten (oder doch [W]Irrenanstalt?) der kleinbürgerlichen, bundesrepublikanischen Seelen wieder
[W]Irrenanstalt ? Ja, nun, es scheint so, es kommen beim Beobachten so viele merkwürdige Dinge zu Vorschein, die anfangs das Staunen wecken, das durch die bändigende Wörterzahl gezügelt wird, um Wesentliches herauszustellen.
– von der Geschäftstüchtigkeit des Zehnjährigen
Und der erbarmungslos vermarkteten Schwester – Wie mag die sich fühlen? Ob er ihr etwas abgibt oder nur schlägt, damit sie gehorcht?
bis zu den verlorenen Träumen des Ruheständlers,
der unter die Räder einer Lebenslustigen geraten ist.
. Der Ariadnefaden (der von manchem hier vermisste „rote“ Faden) ist eben Deine Erzählkunst. Führte der Faden den Theseus hinaus aus dem Irrgarten (der in Wirklichkeit der Palast zu Knossos, der Sitz der minoischen Elite gewesen ist), führstu uns hinein und wir müssen selbst herausfinden.
In die Orte des Alltags und aus ihnen heraus.
Das hast du sehr schön ausgedrückt. [W]Irrenanstalt ? Irrgarten? Tatsächlich hatte ich beim Erstellen dieser zwölf und der vielen anderen dieses Gefühl. Ich wollte zunächst einmal mich zwingen, solche kleinen Szenen oder Erzählungen oder Lebensgeschichten möglichst zeitnah aufzuschreiben. Auf diesen Reisen erlebte ich die Stätten der Erholung als Irrgarten mit kuriosen Menschen.
Dabei gibstu Dich als Schüler Karl Kraus’ zu erkennen.
Dass die Grundidee ihm abgeschaut ist, liegt auf der Hand, auch wenn ein Vergleich mit KK vermessen wäre.
Der erfand nicht, sondern fand (wie Du durch selbst erleben und notieren)
Er dokumentierte.
und so heißt es im Vorwort zu den letzten Tagen der Menschheit: „Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate”, womit Kraus sich der Methode Georg Büchners bedient (Akten- / Dokumentenstudium - mit Ausnahme von Leonce und Lena, durch die freilich neben Shakespeare Jean Paul durchschimmert)
und worin die Langeweile eigentlich Ursprung der filosofischen Gedanken der Personen ist. Narren, Außenseiter, Beobachter und Künstler leben die Distanz und nutzen sie zur Produktion.
Ausgedachtes reicht i. d. R. nicht an die Wirklichkeit heran und literarische Sprache sagt „noch als Lüge die Wahrheit […] und der Satz [beschreibt] noch als Aussatz die Verwahrlosung der Seele […]”. Nun Totenmasken unserer Zeit sind es nicht, aber Kraus reiste auch nicht: Sein Fundort war die Presse.
So wurde die Sprache seine Wirklichkeit.
Kleinere Reparaturen wären vorzunehmen
und sind vorgenommen.

Mir hats gefallen, findet der

Friedel,

der eingedenk des Erfolges von Katja Petrowskaja davon aubrät, die Einsatzgeschichten auch nur zu einer (oder mehrereh) Kurzgeschichte(n) auszubauen.

Dein Rat ist angenommen.
Gruß und frohe Pfingsten aus dem inneren eines Grills ...
Gegrillte Geschichten?

Vielen Dank für Deine so gründliche wie anregende Einordnung der zwölf Geschichten, die doch auch eine Möglichkeit von Wirklichkeitsaneignung und -verarbeitung sein können.
Fröhliche Grüße

Wilhelm


Hallo Novak, hallo Dion,
da ich auf Reisen bin - keine Angst, nicht zu neuen Einsatzgeschichten -, könnte es mit meinen Antworten noch etwas dauern.
Fröhliche Grüße
Wilhelm

 

Hallo Novak,

Du gehst sehr ausführlich auf die Geschichten ein. Bisher überwog die Bewertung der Methode.

zuerst mal, eine schöne Idee, diese Splitter. Mir gefielen manche ganz ausgezeichnet, manche fand ich doof (zum Beispiel die erste Geschichte). Naja, wie es halt so ist.
Auch mir gefallen natürlich nicht alle gleich gut. Aber dein eher positives Urteil baut auf.

Als ich dann die Kritik der anderen las, fand ich auch, dass es toll wäre, die Geschichten hingen alle schön zusammenhängend an einem roten Faden. Aber das willst du explizit nicht. Soll eher Vermischtes sein. Gut, es ist so, wie es ist.
Die Idee ist schon gut. Im Prinzip sollte es das auch werden. Aber mit wie vielen Geschichten? Und ein Problem ist, dass ich versucht habe, quasi dokumentarisch meine tatsächlichen Wahrnehmungen festzuhalten, sodass sich ein roter Faden hätte zufällig ergeben müssen.

Ich finde aber auch, dass man sich nicht von dieser Idee "lange Sätze sollen es unbedingt und immer sein" knechten lassen sollte. Mir ist deine Intention an dieser Stelle nicht klar geworden.
Die abstrakte Grundidee ist, dass die Wirklichkeit fließend zusammenhängt und man dies am besten mit einem Satz nachbilden kann. Deshalb der Versuch, mich zu zwingen, möglichst viel in einen Satz zu bringen (in einer ersten Phase) und dann zu kürzen. Natürlich war Molly Bloom Vorbild. Aber ich wollte das etwas praktikabler machen. Ich finde es eine schöne Schulung, sich dazu zu zwingen, die Zusammenhänge so darzustellen.

Deine Verbesserungsvorschläge zu den Geschichten habe ich dankend eingebaut. Sie waren schnell einzusehen und richtig,

Insgesamt aus der Rückschau muss ich sagen, mir gefällts, eine oder nur zwei solcher Geschichtchen in der Kürze, das wäre wirklich eine Zeitungsmeldung oder ein Witzlein unter Vermischtes gewesen, und ich hätte mich sicherlich massiv beschwert. So finde ich schon, das hat was. Hätte gern noch mehr sein können.
Ich hatte mir zwei Schwierigkeiten gesetzt: Alles in einem Satz zu schreiben und das Gehörte, Gesehene … nicht (literarisch) zu verbiegen. Es sollte eher einen Dokumentationscharakter haben. Diese Geschichten könnte man wie etwa Geschichtsquellen behandeln, die exemplarisch über sich hinausweisen und ein Feld für Fragen, Material sammeln u. Ä. eröffnen.
Nicht nur „Die letzten Tage der Menschheit“ gaben mir Anregung, sondern auch Kempowskis „Echolot“.
Also sehr gerne gelesen und sehr gerne über Proust nachgedacht und über lange Sätze. Und über kleine bösartige Splitter.
Sehr gerne habe ich wieder von dir so ausführlich gehört. Humorvoll und doch bestimmt hast du Proust kritisiert, von dessen sieben Bänden ich immerhin fünf gelesen habe, aber ich lebe ja noch, den Rest auch noch zu schaffen. Deine verständnisvolle Annäherung an meinen Versuch hat mich doch ein wenig darin bestärkt, dass nicht alles umsonst war.
Vielen Dank für deine Zeit und Mühe

Fröhliche Grüße
der von der Autofahrt erholte
Wilhelm Berliner

Hallo Dion,

vielen Dank für deine Anmerkungen.

Der Titel verspricht leider mehr als er halten kann - statt „Splitter einer Deutschlandreise. Zwölf Geschichten“ hätte „Vermischtes“ treffender deine Sammlung angekündigt bzw. charakterisiert, und so die eventuell aufkommende Enttäuschung in Grenzen gehalten.
Splitter entstehen, wenn man zum Beispiel einen Spiegel zerdeppert und einzelne Scherben aufliest und aus den Einzelstücken, wie Archäologen bei Tonscherben, auf den Rest schließt. Das fand ich gamz passend. Wobei mir der Unterschied zu „Vermischtes“ oder „Kurioses“ nicht so riesig erscheint.

Die Geschichten sind schon interessant und mitunter auch kurios, aber man merkt ihnen das Bemühen – oder das Mühen – an, alles in einem Satz sagen zu wollen.
Das gilt für einige, bei den kürzeren vielleicht doch nicht so.

Für sowas haben wir früher eine Rubrik namens Experimente gehabt. Da hätte der Text wunderbar gepasst und die Kritiken wären dann sicher entgegenkommender bzw. milder ausgefallen.
So hatte ich das auch gedacht: ein Experiment.
So aber muss ich in das Horn von ernst offshore und 7miles blasen: Aus jeder dieser Ein-Satz-Zusammenfassungen bzw. Notizen ließe sich eine richtige Geschichte schmieden. Oder gar ein Roman, wenn ich da an die Episode mit dem KZ-Aufseher denke.
Das ist immerhin schon etwas. Danke für das Lob des Rohstoffes.

Aber was nicht ist, kann es noch werden – ich denke nicht, dass damit Dein Pulver schon verschossen ist.
Wortkrieger haben immer noch ein Pülverchen zu verschießen.
Vielen Dank für dieses Zutrauen. Wenn ich diese zwölf Geschichten verlängern will, habe ich drei Jahre zu tun. Schau'ma mal.
Es hat mich gefreut, auch deine Stimme zu hören.
Fröhliche Grüße
Wilhelm

 

Hallo Wilhelm Berliner,

ich mag das, wenn etwas aus so vielen unterschiedlichen Teilen besteht, da hab ich hinterher immer das Gefühl, mehr mitgenommen zu haben, als wenn ich eine normale Geschichte gelesen hätte (ich habe gerade Palahniuks "Die Kolonie" gelesen, das sind 23 Kurzgeschichten, die in so eine Rahmenhandlung eingebettet sind - interessant). Besonders gefallen haben mir "86 %" und "Porno". "Schuldig" lädt zum Nachdenken ein, was da wohl passiert sein könnte. Bei "Tote Katze" hast du dich m.E. etwas verrannt, da sind mir zwei Fehler aufgefallen und am Ende stimmen irgendwie die Bezüge nicht, also mich hat's da rausgehauen. Die Form ist interessant, kann man machen, hat mich jetzt aber auch nicht soo gepackt, ich hätte es glaub ich reizvoller gefunden, ein Wortmaximum von 100 oder so festzulegen, dann kann man in dem Rahmen wenigstens noch normaleren Satzbau praktizieren - aber das ist Geschmackssache. Wie einige Vorredner fänd ich's auch besser, wenn es einen deutlicheren roten Faden gäbe. Trotzdem gern gelesen.

Viele Grüße,
Maeuser

 

Hallo Maeuser,
vielen Dank für deine Rückmeldung.

Die Form ist interessant, kann man machen, hat mich jetzt aber auch nicht soo gepackt,
Es war ein Versuch, der anscheinend bei ein paar Geschichten klappte, bei anderen nicht. Inwiewiet ich das zu einer zusammenhändgenden Story mit rotem Faden machen sollte oder könnte, ist fraglich. Eigentlich wollte ich das, was ich als Splitter wahrnahm, als Splitter belassen.
Den
roten Faden
wollte ich deshalb nicht erfinden, weil es ihn in der Wirklichkeit nur in den menschlichen Vorstellungen als Wunschtraum von der Ordnung der Dinge gibt, er in der Wirklichkeit nicht zugänglich ist.

Die

"Tote Katze"
ist repariert. Vielen Dank für den Hinweis. Da muss mir eine falsche Version hineingeraten sein.
Vielen Dank für deine Hinweise und doch auch positiven Bemerkungen.
Fröhliche Grüße
Wilhelm

 

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