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Splitter einer Deutschlandreise. Zwölf Geschichten in einem Satz

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05.03.2013
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Splitter einer Deutschlandreise. Zwölf Geschichten in einem Satz

Splitter einer Deutschlandreise. Zwölf Geschichten

Sieben Wochen reiste ich durch Deutschland, um für die Zeitschrift „Moral“ die kleinen Beobachtungen oder Geschichten aufzuschreiben, die mir erzählt wurden. Bedingung war, sie in nur einem Satz zu schreiben. Alle Personennamen, Orte und andere Fakten wurden so gewählt, dass das Erkennen der wirklichen Personen und Begebenheiten aus datenschutzrechtlichen Gründen unmöglich ist. Es wurde Wahrheit angestrebt, nicht Wirklichkeit.

Lebensabend
Am Abend nach der Abreise seiner Frau Mathilde zu einem Urlaub auf Ibiza, den sie sich nun endlich leisten konnte, nachdem sie nach ihrer beider Pensionierung ihren Mann gezwungen hatte, Haus und Garten in Großhennersdorf, die sein einziger Lebensinhalt waren, dem Sohn zu überschreiben und mit ihr in eine Neubauwohnung in Berlin-Mitte zu ziehen, weil sie damit weniger Arbeit hätte und endlich die Freiheit bekäme, zu reisen, Freundinnen zu besuchen und weniger im Haushalt zu tun, öffnete der Mann den Gashahn, nachdem er in einem Abschiedsbrief geschrieben hatte, dass er nun jeder Lebensgrundlage beraubt sei und seinem verpfuschten Leben ein Ende bereiten möchte.

Frühe Liebe
Walter U. (12) aus der Lottumstraße in Berlin vermietete seine Schwester (10) an seine Klassenkameraden und verlangte für einen Kuss drei Euro, für eine Minute Berühren des Busens fünf Euro, für Abtasten des Hinterns zehn Euro, wobei er immer sagte, dass mehr nicht „drinne“ sei, denn er müsse das Wesentliche für später aufsparen, da würde er mehr dafür bekommen.

Rosa Schleifchen
Der Hund mit dem rosa Schleifchen, der parallel zu seinem Kompagnon mit einem blauen Schleifchen trottete, mit dem ihn eine Lederleine verband, von deren Mitte aus eine Hauptleine zur Hand des Herrchens führte, das mit stockgerader Haltung durch die Halle des Münchener Hauptbahnhofes marschierte, beide Augen starr darauf gerichtet, dass seine Hunde nicht seinen Sinn für geometrische Ordnung störten, also nicht ein wenig nach rechts oder links abdrifteten, was sofort mit einem heftigen Schlag mit einem biegsamen Weidenstock von ihm geahndet wurde, dieser Hund also erschrak beim Knall eines geplatzten Luftballons so sehr, dass er sich panikartig in die Waden eines etwa vierjährigen Kindes, das den Ballon bis zu seinem Knall beinahe andächtig aus der neu eröffneten Filiale der Stadtsparkasse getragen hatte, verbiss, bis es schreiend zu Boden sank und zitternd dalag, während der Hund von seinem Herrchen blutig geschlagen wurde.

Tote Katze
Creszenzia, die siebenjährige Tochter des Wirts Michael S. in Geretsried, der vom Unglück verfolgt schien, weil sein Anwesen zur Zwangsversteigerung ausgeschrieben war und seine Frau in dieser Notlage lieber mit einem anderen Mann ihre Lebenslust befriedigte, als sich um Kind, Haus und Mann zu kümmern, und dazu noch der Arzt bei dem übergewichtigen Michael eine schwere Zuckerkrankheit festgestellt hatte, schleppte eine tote Katze in den Gastraum und legte das Tier dem Vater vor die Füße: „Jetzt hamms uns d´Muschi a no zsammgfahrn.“

86 %
In einem Andenkenladen am Kölner Bahnhof stritt ein Sachse mit der Verkäuferin über den Preis einer Gipsloreley, für die er nur 86 % des geforderten Preises zahlen wollte, da er als Bürger der ehemaligen DDR auch nur 86 % des Westgehaltes bekäme und ging, als die Besitzerin ihn aus dem Laden wies, eine halbe Stunde später vor dem Geschäft mit einem schnell angefertigten Plakat hin und her, auf dem geschrieben stand: „Ostdeutsche sind hier unerwünscht!“
(Neue Version; Dank an Gisanne)

Konzertbesuch
Während der Aufführung von „Le Sacre du Printemps“ in der Berliner Philharmonie erregte sich ein vornehmer älterer Konzertbesucher über seinen Nachbarn, der nicht eine Minute lang ruhig sitzen konnte, sondern sich ständig an unterschiedlichen Körperstellen kratzte, Hände und Finger streichelte, mit seinem Gesäß nach vorne oder hinten rutschte, die Brille zurechtrückte, die Haare glatt strich, die Nase entjuckte, in derselben bohrte, die Hosenbeine hinaufzog, den Jackenknopf auf und zu knöpfte, an der Krawatte herumzerrte, den Hals im Hemdkragen neu positionierte, die Hände verschränkte, an den Nägeln kaute, den Nasenschleim hinaufrotzte, die Augen rieb, die Schuhbänder öffnete, in der Hosentasche das Handy suchte ..., so sehr, dass er aufstand und in eine sehr leise Stelle zu dem Mann neben ihm so laut rief, dass es im ganzen Saal zu hören war: „Sie sind ein Arschloch!“


Schuldig

Ein Mann namens Manfred S. saß eines Morgens im Hotel Adlon in Berlin, wo er täglich seinen Cappuccino einnahm, und las in Zeitungen Artikel über Überfälle von Kampfhunden auf Kinder, über eine Schießerei im Rotlichtbezirk von Hamburg mit vier Verletzten, über die Beleidigung von Beamten durch den Stinkfinger, über die Untreue der Lebensgefährtin von J. Ö., über den Bankrott einer kleinen Handwerkerfirma, die die Außenstände nicht bekommen hatte, über den Mord eines bisher unbescholtenen Bürgers an seiner Ehefrau, über den Amoklauf eines Waffennarren mit vier Toten, als ihn darüber so ein Schuldgefühl überwältigte, als hätte er all diese Taten begangen, sodass er sich beim nächsten Polizeirevier all dieser Taten bezichtigte und nach einigen Stunden in eine psychiatrische Klinik gebracht wurde.

Der schöne Toni
Frau Käte T. erzählte in München, dass sie ihrem Nachbarn, der seit Jahren Wand an Wand mit ihr im Altersheim gewohnt hatte, nie die Hand gegeben habe, weil sie körperliche Abscheu vor dem Mann, der in seiner Jugend der schöne Toni genannt worden sei, auch in seinem hohen Alter von achtundachtzig Jahren noch wie ein Gentleman ausgesehen habe und von Damen umschwärmt worden sei, nicht hätte überwinden können, so, als hätte ihr Körper gespürt, dass dieser Anton R. einer der schlimmsten Aufseher, Quäler und Mörder im KZ Theresienstadt gewesen war, was herausgekommen sei, als er vor einigen Wochen verhaftet worden war.

Kynologische Heilung
In einer sehr entlegenen Gegend der Rhön riet ein Geistheiler einem besorgten Vater, dessen dreijährige Tochter seit Monaten von Ausschlägen, Durchfall und Krämpfen geplagt worden war, sie mit einem Hund zu verheiraten, was wenige Tage nach der Hochzeit mit einem Dackel, die der Geistheiler vorgenommen hatte, zum Erfolg führte.

Millionen
Als Frau Theresa Z im Lotto vier Millionen Euro gewonnen hatte, ging sie noch am selben Abend mit ihrem Mann in ihr Lieblingslokal und zahlte für alle Gäste Speisen und Getränke (Kosten: 3000.00 €), fuhr am nächsten Tag mit einem Taxi nach München, um ihre Millionen abzuholen (Kosten: 300,00 €), hielt im Hofbräuhaus alle, die an ihrem Tisch saßen, frei (Kosten: 2500.00 €), richtete ein großes Fest im vornehmsten Hotel von S. für alle Freunde und Bekannten aus (Kosten: 120000.00 €) und lebte so weiter, bis sie nach zwei Jahren ihr Haus, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, verkaufen musste, um ihre Schulden bezahlen zu können, was für ihren Mann so eine Schande bedeutete, dass er sich am obersten Dachbalken des Hauses aufhängte.

Spitzel
In einem großen Einkaufszentrum in Magdeburg deutete Herr Isbert V. mit ausgestreckter Hand auf einen Mann, der in einem Blaumann offensichtlich Hausmeisterdienste verrichtend durch die Regalschluchten eilte, und schrie seiner neben ihm gehenden Frau so lautstark zu: „Wegen diesem Stasi-Spitzel musste ich zwei Jahre ins Gefängnis und solche Leute kriegen heute wieder Arbeit!“, dass viele Kunden ihn hörten, den derart Geächteten scheu musterten und schnell weiter gingen.
(Neue Version; Dank an Gisanne)

Porno
Der Philosophieprofessor Werner K. erzählte in einer Tagungspause in Freiburg, dass er nach den Vorträgen von der Verlogenheit, dem Profilierungsgehabe, der moralinsauren Höchstethik, der glatten Sonntagsrhetorik, dem Ich-bin-ein-wichtiger-Mann/Frau-Blick, der verantwortungstragenden Gesichtsmaske und dem Wichtigkeitsgetue seiner Kolleginnen und Kollegen so genervt sei, dass er sich im Hotelzimmer einen Pornofilm ansähe, um wieder ein Gefühl von Anstand, Ehrlichkeit und Realität zu bekommen.

 

Hallo Wilhelm,
diese Geschichten lesen sich angenehm; sie sind amüsant, nachdenklich, depressiv, heiter oder humorvoll. Sie haben zum Teil philosophischen Inhalt, was viele Geschichten nicht haben, die unter Philosophisches stehen. Und Du hast „Philosophisches“ trotzdem nicht gewählt!

Es wurde Wahrheit angestrebt, nicht Wirklichkeit.
Schön, dass du das so erwähnst. Man kann die Geschichten ja nur aus einem bestimmten Kulturkontext verstehen. Alle zwölf Sätze sind theorieabhängig.
ihren Mann, der zeitehelebens schweigsam die Rolle des Pantoffelhelden gespielt hatte, gezwungen hatte
zweimal hatte, ich kann dir aber keine richtige Lösung bieten. Vielleicht „spielte“, weil er das immer noch spielt.
Zwölf Geschichten in einem Satz
in je einem Satz
Hat insgesamt Spass gemacht zu lesen.
Viele Grüsse
Fugu

 

Hallo Fugusan,
vielen Dank für die positive Einschätzung der Miniliteraturwelt. Das "Hatte" ist weg, hoffentlich besser. Entstanden sind diese Geschichten durch Beobachten und Zuhören. Wie man das halt so macht. Man sitzt irgendwo, sieht zu, hört zu und es sind großartige Dramen, die am Kinderspielplatz, im Wirtshaus oder im Zug stattfinden. Da lernt man das Staunen, das hoffentlich die Geschichten in einem Satz auch ein wenig hervorrufen.
Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren.
Fröhliche Grüße
Wilhelm Berliner

 

Lieber Willhelm Berliner,

ich konnte wenig damit anfangen. Ich bewundere deine Fähigkeit, Schachtelsätze zu fabrizieren. Der Grund, warum du uns hier zwölf Geschichten ihrer trauten räumlichen Eintracht zum Trotz ohne jeglichen inhaltlichen Zusammenhang kredenzt, ist mir leider nicht ganz klar geworden. Die Auswahl aus den Myriaden von Geschichten und Geschehnissen, die sich Tag für Tag auf Deutschlands Straßen ereignen mögen, erscheint mir recht beliebig. Zumal ich es persönlich lieber hätte, wenn es in einem Thread genau eine Geschichte zu diskutieren gäbe. In dieser zusammengewürfelten Form bin ich ehrlich gesagt nicht geneigt, auf die innere, inhaltliche Beliebigkeit und vor allem Bemühtheit mancher Miniatur einzugehen.

Interessanter, sicherlich auch eine große Herausforderung wäre es gewesen, die Geschichten auf irgendeine originelle Art zu verknüpfen, so dass sie eine einzige große ganze, kaleidoskopartige Geschichte ergeben. Von mir aus auch in zwölf Schachtelsätzen vorausgesetzt, dass jeder von ihnen mein Interesse weckt und verspricht, dass sich der investierte Gehirnschmalz lohnt.


-- floritiv

 

Servus Wilhelm,
Also sprachlich gibt's daran nichts auszusetzen, ich mag ja solche Satzungetüme, sofern sie lesbar bleiben, und das sind sie hier zweifellos. Allerdings fehlt mir wie floritiv der rote Faden, der die Geschichtchen zusammenhält. Auch ich fände es weit interessanter, wenn sich ein durchgängiges Motiv darin erkennen ließe oder irgendeine Art von Zusammenhang halt, und wenn es nur eine klitzekleine Winzigkeit wäre. Oder zumindest eine formale Hintergründigkeit in der Art zum Beispiel, dass sich das Ende mit dem Anfang zum Kreis schließt, was weiß ich, irgendwas einfach, das die Kombination dieser Textsplitter plausibler und bewusster erscheinen ließe.
Diese etwas wahllos wirkende Zusammenstellung erinnert mich nämlich beinahe an die Fünfzeiler auf der Seite "Vermischtes" in einer Zeitung.

offshore

 

Hallo Wilhelm Berliner,
ich finde, das ist eine interessante Idee, aber nicht konsequent genug umgesetzt. Ich stimme zunächst floritiv und ernst zu, wenn sie sich einen roten Faden wünschen. Im besten Fall sollte das in irgendeiner Form eine, meinetwegen moralische Deutschlandkarte ergeben. Ich sehe hier entsprechende Ansätze, etwa bei der Einbindung der Ossis, des alten Nazis und der Stasitypen auch wenn das natürlich etwas stereotype Figuren sind. Aber sei es drum, Deutschland ist riesig und es findet sich hier alles was du beschreibst, da du jedoch eine sehr breite Palette abdecken wolltest, wirkt es sehr beliebig.
Das größte Problem ist für mich hier aber die Art, wie du die Sätze konstruierst. Ich finde, wenn man eine solche Form wählt, müssten die Sätze viel prägnanter sein, viel mehr auf Implikation setzen. Schachtelsätze sind da, mMn, nicht das Mittel der Wahl, da kann man ja ewig fortfahren. Hier auf der Seite gabs doch vor ein paar Tagen einen Text, der bestand komplett aus einem Satz. Hat nur nicht so richtig funktioniert. Es gibt auch Romane, die auf Punkte verzichten, etwa "Zone" von Mathias Énard. Ich fände die Herausforderung hier wäre eben die Sätze zu verknappen und mit subtilem Gehalt zu füllen. Würde viel stärker wirken, wenn die Beobachtungen etwa wie diese Acht-Wort-Geschichten hier auf der Seite strukturiert wären. Müsste natürlich nicht aus acht Wörtern bestehen, wichtig wäre dabei vor allem, dass da viel zwischen den Zeilen steht (oder eben zwischen den Wörtern).
Du hast da ein paar gute, am besten gefiel mir die "Frühe Liebe."
Aber Lebensabend, z.B., da benennst du ja wirklich alles, wo ist da der Platz für den Leser. Ja, ist natürlich eine ganz persönliche Meinung, aber ich würde es bei der gewählten Form bevorzugen, wenn die Aussagen viel indirekter wären, wenn du nur was anstupsen würdest und den Rest dem Leser überlassen würdest.
Es gibt da eine Kürzesterzählung von Augusto Monterroso, "Der Dinosaurier", vllt kennst du sie ja. Sie geht so: "Als er aufwachte, war der Dinosaurier noch da."
So in etwa gestaltet, hätte deine Geschichte eine viel stärkere Wirkung auf mich.
Grüße,
randundband

 

Hallo Wilhelm Berliner,

das Grundsätzliche deiner Idee, hier lauter kleine Geschichten zu posten, finde ich gar nicht mal schlecht.
Die einzelnen Passagen sind auch gut zu lesen.

Aber mir fehlt das Geniale. Das könnte darin bestehen, dass du, obwohl die Geschichten mal hier hin, mal dorthin driften, dem Leser am Ende den Genuss bietest, dass alle Teile zu einem großen ganzen Übergeordneten gehören. Sozusagen der Aha-Effekt nachdem man von Geschichte zu Geschichte gehüpft ist.
So hatte ich das Gefühl, es handelt sich hier nur um ein Wimmelbild ohne versteckten Schatz. ;)

Lieben Gruß

lakita

 

Hallo Wilhelm,
ich muss schreiben, dass mich die sportiliche Leistung, spitze Anekdoten des Alltags in einen Satz zu formen, nicht beeindrucken konnte. Dass manches besser, anders banaler geriet, soll nicht verschwiegen werden, und ein Lob Deiner sprachlichen Kapazität insgl.
Jedoch, ins Offshorssche Horn blasend, dünkte mich dies tatsächlich auch der Rubrik 'Vermischtes' aus der Zeitung entsprungen, und ich bin mir nicht gewiss, ob denn eine hier häufig ersehnte inhaltliche Vernetzung der Abteilungen in der Tat abhülfe oder eher bloß der Lese(r)gewohnhet zum Tribut gereichte.
All diese Sätze, die dahinter lauernden Ideen, manche mehr, andere weniger, wären geeignet, sie zu einer Geschichte zu erweitern, und auch , ihnen originellen Geist zu verleihen; in dieser Form, als Häppchen, verpuffen sie mir wie eine belanglose Fastfood-Nachricht.
7

 

Hallo floritiv,
nett von dir, dass du vorbeigeschaut hast, wenn auch mit offenkundigem Missvergnügen. Aber das Vergnügen liegt ja auch in der Auseinandersetzung um Texte.
Der Satz, häufig zu hören,

ich konnte wenig damit anfangen
hat ja eine merkwürdige Aura und einen verblüffenden Inhalt, denn der Sprecher bekennt sich zu eigenem Unvermögen („konnte wenig damit anfangen“), erkennt dies aber nicht als eigenen Mangel, sondern sieht hier den Mangel in einem Objekt, hier einem Text, der ihn in seinen Bedürfnissen nicht befriedigt oder seinen Vorstellungen nicht entspricht, wobei er damit, wenigstens bei den Leuten, die ich persönlich kenne, immer den Sprecher in eine überlegene Position bringt.
Und stimmt diese Aussage, lieber floritiv, die du da getroffen hast? Du hast immerhin mehr Wörter geschrieben als der positiver gestimmter Fugusan, hast also etwas damit angefangen, nämlich kritisiert und mir dankenswertweise damit geholfen.
Ich bewundere deine Fähigkeit, Schachtelsätze zu fabrizieren.
Immerhin! Ich wollte einfach ausprobieren, wie ich einen beobachteten Vorgang oder eine gehörte Erzählung in einem Zusammenhang formulieren kann. Sozusagen ein abstract. Die Zusammenhänge sollten nicht unterbrochen werden, weil es in der Wirklichkeit keine Zeichensetzungsregeln u. ä. gibt.
Die Auswahl der zwölf Geschichten von weit über hundert ist sicherlich „beliebig“, wobei ich das keineswegs so negativ sehen kann, denn ein Vergleich des Inhalts von Geschichten gibt doch Anschlussmöglichkeit. Braucht man immer einen roten Faden? Ich suche mir gerne die Fäden, denen ich folgen will, selber aus.
Interessanter, sicherlich auch eine große Herausforderung wäre es gewesen, die Geschichten auf irgendeine originelle Art zu verknüpfen, so dass sie eine einzige große ganze, kaleidoskopartige Geschichte ergeben.
„Der Reigen“ ist uns schon bekannt. So hätte man es machen können. In meiner Absicht lag es aber, tatsächlich Beobachtetes und Gehörtes in einem Satz zusammenzufassen. Nicht mehr und nicht weniger. Und eigentlich fand ich die Aufgabe, mich irgendwo hinzusetzen, zu hören und zu sehen und alles in einen Satz zu bannen, schon sehr hilfreich.
Vielen Dank und es tut mir leid, wenn du missvergnüglich die Geschichten gelesen hast, aber du hast mir doch zu (Er)Klärung geholfen.
Fröhliche Grüße
Wilhelm Berliner

Hallo Igni,

vielen Dank für dein Interesse und deine ermutigende Rückmeldung.

die Ein-Satz-Episoden sind ein interessanter Ansatz, der mal sehr passend, manchmal allerdings auch ein wenig hemmend auf mich wirkt.
Wie immer, wenn man nach einem Schema arbeitet.

Bei "Porno" beispielsweise muss einfach nicht mehr gesagt werden, auch "Frühe Liebe" und "Kynologische Heilung" funktionieren sehr gut in diesem Stil.
Es freut mich, dass wenigstens einige Geschichten Anklang finden.

dass du dich durch die gewählte Vorgabe selbst limitierst,
Siehe oben, die Form passt nicht immer. Wann sie passt und wann nicht, lehrt nur Erfahrung und Rückmeldung von Lesern.

Also, insgesamt gerne gelesen und gerne darüber nachgedacht.
Das war meine Hoffnung, vor allem Letzteres und danke für die Hinweise.
Fröhliche Grüße
Wilhelm Berliner

Servus offshore!

Also sprachlich gibt's daran nichts auszusetzen, ich mag ja solche Satzungetüme, sofern sie lesbar bleiben, und das sind sie hier zweifellos.
Danke! Mich wundert es immer wieder, dass viele Leute etwas gegen lange Sätze haben. Ich weiß nicht, aber die Romane, die ich lese, haben alle viel längere Sätze als diese hier es sind. Mir schienen lange Sätze eine Kühle in die Erzählung zu bringen, sie schaffen Distanz, sie geben Überblick und fügen Zusammengehörendes zusammen (wahrscheinlich noch mehr). Und das fand ich beim Schreiben der Geschichten interessanter, zu beobachten, wie mitleideregende Geschehnisse durch die langen Sätze nüchtern wurden und nüchtern machten. Das war und ist mit ein Grund, warum ich diese Form ausprobierte.

Allerdings fehlt mir wie floritiv der rote Faden, der die Geschichtchen zusammenhält. Auch ich fände es weit interessanter, wenn sich ein durchgängiges Motiv darin erkennen ließe oder irgendeine Art von Zusammenhang halt, und wenn es nur eine klitzekleine Winzigkeit wäre. Oder zumindest eine formale Hintergründigkeit in der Art zum Beispiel, dass sich das Ende mit dem Anfang zum Kreis schließt, was weiß ich, irgendwas einfach, das die Kombination dieser Textsplitter plausibler und bewusster erscheinen ließe.
Ich habe gesammelt und gegenübergestellt, nicht künstlerisch manipuliert. Sicher ist es eine Auswahl aus einer ganzen Menge. Die Konfrontation von Geschichten, scheint mir ebenso anregend zu sein wie eine Rotefadengeschichte. Beobachtungen im Alltag folgen keinem roten Faden, oder anders gesagt, beliebig geschehen die Ereignisse im Alltag, so beliebig wie meine Zusammenstellung. Sicher hat unser Hirn die Tendenz zur schönen Form, zu Ganzheitlichkeit und zu Sinn, also zum roten Faden. Aber der ist ein Konstrukt, eine Erfindung, ein Trostplästerchen in der waidwunden Welt. Sieht man es nüchtern, sieht man nur Beliebigkeit bzw. undurchschaubares Chaos. Deswegen muss ein roter Faden nicht sein.

Diese etwas wahllos wirkende Zusammenstellung erinnert mich nämlich beinahe an die Fünfzeiler auf der Seite "Vermischtes" in einer Zeitung.
Man könnte es auch mit den Übersichtssätzen vergleichen. Aber der Vergleich ist richtig und es war auch so gedacht. Die Beobachtungen sollten aus einem Sinnzusammenhang herausgerissen werden und als solche an und für sich stehen. Der Effekt dürfte dem des Verfremungseffekt ähnleln: Distanz, Kühle und Rationalität.

Und deine letzte Bemerkung erinnert mich daran, dass Ibsen aus diesem Vermischten seine Dramenstoffe genommen hat.
Vielen Dank an dich als Langsatzliebhaber und Kritiker
Fröhliche Grüße
Wilhelm Berliner

Für weitere Kommentare bitte ich um Bedenkzeit.

 

Hallo randundband,

ich finde, das ist eine interessante Idee, aber nicht konsequent genug umgesetzt. Ich stimme zunächst floritiv und ernst zu, wenn sie sich einen roten Faden wünschen.
Der „Faden“ war der vom Schicksal vorgezeichnete Weg, der Faden der Ariadne half Theseus aus dem Labyrinth, die Nornen spannen die Fäden des Schicksals.
Brecht schrieb „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“. Es gibt keinen roten Faden, der sich durchzieht, wo eines notwendigerweise dem anderen folgt. Der rote Faden ist ein Hilfskonstrukt zur Erleichterung des Lebens. Man wünscht ihn sich, aber er ist Illusion ist. Da das so ist, wirkt das Einzelne, das Individuelle für sich. Die Geschichten können sich überschneiden, widersprechen, verlängern, vorausgehen, vielfach verbunden sein, nur einen roten Faden sollten sie nicht haben, weil sie in vielfältigen Beziehungen zueinander stehen. Mit rotem Faden wäre es Trostliteratur. Ich könnte die Geschichten mit den Bildern von Ernst Wilhelm Nay vergleichen. Das scheint mir gut zu veranschaulichen, was ich wollte.

meinetwegen moralische Deutschlandkarte
Ein guter Vorschlag. Der Erzähler schreibt ja für die Zeitschrift „Moral“, die moralische Deutschlandkarte ist eine gute Idee, aber da höre ich schon die Vorwürfe der Pauschalierung. Und es gehörten viele Geschichten dazu.

Ich sehe hier entsprechende Ansätze, etwa bei der Einbindung der Ossis, des alten Nazis und der Stasitypen auch wenn das natürlich etwas stereotype Figuren sind.
Auch Tod wäre so ein Ansatz.

Ich fände die Herausforderung hier, wäre eben die Sätze zu verknappen und mit subtilem Gehalt zu füllen. Würde viel stärker wirken, wenn die Beobachtungen etwa wie diese Acht-Wort-Geschichten hier auf der Seite strukturiert wären.
Wir sind einer Meinung, dass die kurzen, knappen besser wirken.

Würde viel stärker wirken, wenn die Beobachtungen etwa wie diese Acht-Wort-Geschichten hier auf der Seite strukturiert wären. Müsste natürlich nicht aus acht Wörtern bestehen, wichtig wäre dabei vor allem, dass da viel zwischen den Zeilen steht (oder eben zwischen den Wörtern).
Du hast da ein paar gute, am besten gefiel mir die "Frühe Liebe."
Da hast du recht.

Aber Lebensabend, z. B., da benennst du ja wirklich alles, wo ist da der Platz für den Leser.
Die Expansion der Beschreibung überwältigt den Leser, wie bei den Erzählungen von Beteiligten an Rosenkriegen. Die langen Sätze sollen erfahrbar zu machen, wie die Beteiligten in den Wörterfluten absaufen und wie der Leser darin absäuft, weil er nicht in die Geschichte gehen kann, wie kein „Platz für den Leser“ da ist. Sperrt sich ein Text gegen das Eindringen des Lesers, muss dieser auf die Metaebene gehen.
Welche Reaktion ich mir beim Leser so einer „geschlossenen Geschichte“ vorstelle ist, diese Geschlossenheit infrage zu stellen. Ähnlich wie Brecht mit Arturo Ui gezeigt hat, war den Weg Hitlers nicht vorgezeichnet, wie manche behaupten. Auch der Entwicklung zur kommunistischen Gesellschaft wurde die naturwissenschaftliche Konsequenz, also ein roter Faden, unterstellt. Bei „Lebensabend“ könnte sich der Leser fragen, wo andere Möglichkeiten bestanden hätten, das Ende zu verhindern. Bei „Frühe Liebe“, die von manchen eher als gelungen angesehen wird, wird einfach nur konstatiert.
Die Geschichten könnte man vielleicht auch mit Meditationsanlässen vergleichen oder mit Mediationsbildern.

da kann man ja ewig fortfahren.
Richtig! Dies wollte ich ausprobieren, wie lange man eine kleine Handlung durch Beschreibung unterteilen kann, immer genauer, immer genauer, bis ins Unendliche. Was hat man davon?
Mir schwebt so etwas wie der Schmetterlingseffekt vor. Ändert man eine Kleinigkeit, ändert man die gesamte Handlung. Wann und wo ist da die Grenze? Nicht dass ich mich mit Proust vergleichen möchte, natürlich nicht, aber ich wollte seine Genauigkeit eben mal ausprobieren.
Ein Beispiel von Proust:
Wenn ich dem Reiz eines neuen Gesichts erlag, wenn ich mit Hilfe einer neuen Mädchenerscheinung die gotischen Kathedralen, die Paläste und Gärten Italiens kennenzulernen hoffte, sagte ich mir mit Trauer im Herzen, daß unsere Liebe, soweit sie Liebe eines bestimmten Wesens ist, vielleicht nichts sehr Reales an sich hat, denn wenn auch Assoziationen von angenehmen oder schmerzlichen Träumereien sie eine zeitlang an eine Frau verhaftet halten können, so daß wir meinen, sie sei uns unweigerlich von jener Seite, her eingeflößt, so lebt sie doch auch andererseits,wenn wir uns willentlich oder unwillkürlich von jenen Assoziationen lösen, diese Liebe, als entstehe sie spontan in uns selbst, wieder auf zugunsten einer anderen Frau.
(Im Schatten junger Mädchenblüte, Frankfurt 1981, S. 285)
Mir gefällt hier das genaue schrittweise Durchdenken diese Beobachtung. Leider gelingen mir solche Sätze nicht. Mea culpa! Dieser Kritik schließe ich mir traurig an.

Jedenfalls danke ich dir sehr für die so ausführlichen Bemerkungen. Wir können uns vielleicht auf eine Kürzesterzählung einigen:
Als er aufwachte, lag seine „Theorie der Literatur“ frisch gedruckt vor ihm auf dem Nachtkästchen.

Mit fröhlichen Grüßen
Wilhelm Berliner

 

Müde in einem Außenzipfel der Welt habe ich deine Geschichten gelesen, mich unterhalten lassen und gleichzeitig sehr effektiv Heimweh abgekühlt, deine Splitter waren nützlich und vermisst hab ich nichts, schon gar keinen roten Faden, denn dafür sind es ja Splitter, die muss man sich einzeln aus dem Fleisch ziehen und jeder tut auf seine Weise weh.

Herzlichst
GF

 

Liebe lakita,

vielen Dank für deinen kurzen, aber treffenden Hinweis.

das Grundsätzliche deiner Idee, hier lauter kleine Geschichten zu posten, finde ich gar nicht mal schlecht.
Die einzelnen Passagen sind auch gut zu lesen.
Vielen Dank für deine Anerkennung und Kritik.
Aber mir fehlt das Geniale.
Mir fehlt es halt leider auch.
Das könnte darin bestehen, dass du, obwohl die Geschichten mal hier hin, mal dorthin driften, dem Leser am Ende den Genuss bietest, dass alle Teile zu einem großen ganzen Übergeordneten gehören. Sozusagen der Aha-Effekt nachdem man von Geschichte zu Geschichte gehüpft ist.
Das hast du richtig gut beschrieben.
So hatte ich das Gefühl, es handelt sich hier nur um ein Wimmelbild ohne versteckten Schatz.
Wimmelbild ist gut. Das ist eine richtige Bezeichnung, nur dass dafür zwölf Geschichten nicht ausreichen. Die zwölf sind ja nur eine Auswahl aus einer größeren Sammlung.
Ja, und dann der versteckte Schatz. Du hast wunderbar kurz die Kritik an den zwölf Geschichten zusammengefasst.
Bei Meditationsbildern sind die Vorgänge im Inneren des Meditierenden wichtig. Und darin liegt hoffentlich ein Schatz.
So haben wir beide alles kurz und bündig abgehandelt – und, so glaube ich, treffend.
Vielen Dank
Fröhliche Grüße
Wilhelm Berliner

 

Hallo Wilhelm

Deine Dichterworte, die sich im Format zuweilen greifbaren Normen entheben, sind mir diesmal nicht so einfach zuordnungsbar. Kürzlich hatte ich in anderem Zusammenhang aus gegebenem Anlass darüber sinniert, welchen Stellenwert „experimentelle Kuriositäten“ literarisch einnehmen könnten – und war zur Meinung gelangt, ein sehr hohes Risiko im Argen zu landen, wäre dabei real zugegen.

So wie Du eröffnest, ist diese Fiktion anekdotisch, doch sind es keine Anekdoten, da die einzelnen Teile im Kern die entsprechenden Charakteristiken nicht erfüllen. Die Form des Aphorismus würde sich zu solchen Wortspielereien auch anbieten, doch dazu fehlen vorliegend etwa Antithese und Paradox. So erkenne ich darin nur Kürzest-Episoden, deren Kuriosa sich in den Satzdehnungen als auch in den Inhalten anbiedern. Natürlich sind sprachliche Experimente legitim. Doch macht es ästhetisch Sinn, den Aufbau und die Ausformulierung von Kurzgeschichten nur des Experiments willen auf den Kopf zu stellen? Als Experiment für die Schublade vielleicht. Im Rahmen eines Selbstfindungsprozesses meinetwegen. Aber als Mix von fragmentarischen Texten, die sich einzig von zufällig gesetzten Pointen speist?

Im Nachgang habe ich kurz Deine Antworten zu Kommentaren überflogen. Das Fehlende von Genialem daran beklagst Du selbst. Na ja, von solch Superlativen leben die wenigsten Geschichten, müssen sie auch nicht, wenn sie das Erfordernis an Unterhaltung erfüllen. Dies sollte ein Autor für sich bejahen können, ansonsten wird die Veröffentlichung zur Farce, was er jedoch nur sich selbst gegenüber verantworten muss.
Da ist mir noch Dein Vergleich zu Meditationsbildern aufgefallen, was mich nicht unbedingt einfallsreich dünkt. Die Möglichkeit der Reflexion als technisches Moment ist sicher gegeben, ein tiefsinniger Witz tut dies auch, doch darüber hinaus sind die Inhalte bestimmend.

Mich vermag das Vorgelegte in dieser Form also nicht zu überzeugen. Einzelne Inhalte würden sich jedoch gut als „Kurzgeschichten“ anbieten, wenn sie entsprechend ausgebaut wären.

;)

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo 7

vielen Dank für deinen Kommentar.

Jedoch, ins Offshorssche Horn blasend, dünkte mich dies tatsächlich auch der Rubrik 'Vermischtes' aus der Zeitung entsprungen, und ich bin mir nicht gewiss, ob denn eine hier häufig ersehnte inhaltliche Vernetzung der Abteilungen in der Tat abhülfe oder eher bloß der Lese(r)gewohnhet zum Tribut gereichte.
Hier stimme ich dir auch zu. Vermischtes, ich gestehe es, finde ich manchmal interessanter als die hohe Politik. Da findet man viel Alltagsleben. Insofern ist der Vergleich meiner Geschichten mit „Vermischtes“ richtig und für mich positiv. Dass hinter dem Wunsch nach bewusster, offensichtlicher Vernetzung den Lesegewohnheiten geschuldet sein könnten, sehe ich auch so. Vor allem wollte ich sie nicht, obwohl es natürlich eine Möglichkeit wäre.
Vielleicht hilft ein Vergleich, meine Überlegung klar zu machen.
Eine Campbells Tomatensuppendose als Bild ist Kunst. Herausgenommen aus der gewohnten Umgebung frappiert sie und provoziert. Meine Beobachtungen sollen herausgenommen werden aus dem Kontext, um Reflexion zu provozieren. Was jeder reflektiert, ist seine Sache.
All diese Sätze, die dahinter lauernden Ideen, manche mehr, andere weniger, wären geeignet, sie zu einer Geschichte zu erweitern, und auch , ihnen originellen Geist zu verleihen;
Das ist richtig.
in dieser Form, als Häppchen, verpuffen sie mir wie eine belanglose Fastfood-Nachricht.
Fastfood – eine tolle Vorlage. Ich stelle mir jetzt einen Burger vor und sehe in diesem Burger eine spannende Welt von Kulturaufbau- und -management, Produktions- und Verteilungsweisen, Politik und selbst Religion und wenn ich das schon so sehe, schreibe ich einfach mal eine Fastfood Geschichte in einem Satz:
Aus der Filiale der Deutschen Bank Leipzig stolzierte Adrian B., mit seinen fünfundzwanzig Jahren immerhin schon stellvertretender Leiter der Abteilung Devisen, mit seinen klappernden italienischen Schuhen über die Straße und steuerte McDonalds an, seit seiner frühen Kindheit sein liebstes Lokal, verbunden mit vielen angenehmen Erinnerungen an Kindergeburtstage und Liebesdinners, bestellte, wie gewohnt, einen Big Mac mit Pommes und einer großen Cola light, nahm seinen Platz ein, in der Ecke, die am weitesten von der Eingangstür entfernt ist, tat genussvoll einen ersten Biss in den Big Mac, was für ihn immer das größte Vergnügen war, packte alles wieder auf das Tablett, ging zu dem Geschäftsführer und beschwerte sich darüber, dass heute der Big Mac anders schmecke als sonst, was der Geschäftsführer bezweifelte, denn dieser wäre genauso hergestellt worden wie immer, woraufhin der Banker das Tablett dem Geschäftsführer in die Hände drückte und nach einem kurzen, heftigen Wortwechsel nie mehr seine klappernden italienischen Schuhe in ein McDonalds setzte.
Vielen Dank für deine Anregungen und deine Kritik
Fröhliche Grüße
Wilhelm Berliner

 

Hallo Gorinilla Furks

Müde in einem Außenzipfel der Welt habe ich deine Geschichten gelesen, mich unterhalten lassen und gleichzeitig sehr effektiv Heimweh abgekühlt, deine Splitter waren nützlich und vermisst hab ich nichts, schon gar keinen roten Faden, denn dafür sind es ja Splitter, die muss man sich einzeln aus dem Fleisch ziehen und jeder tut auf seine Weise weh.
Es freut mich, dass diese Geschichten doch auch Leser haben, für die sie geschrieben wurden. Ein Außenzipfel ist manchmal eine hilfreiche Position. Deine Assoziation mit Splitter im Fleisch (immerhin kein Pfahl im Fleische - Sartre) gefällt mir gut. Was als Grundgefühl hinter allen Geschichten steckt ist Angst, wie man sie auch in einem Außenzipfel der Welt fühlen kann. Das zu erkennen, muss man sich ein wenig in die Geschichten hineinfühlen, wie du das getan hast. Herzlichen Dank.
Dort wünsche ich dir etwas weniger Heimweh, aber ein Weh ist für die persönliche Entwicklung nicht schlecht.
Vielen Dank für dein Verstehen meiner Intention.
Fröhliche Grüße an das Ende der Welt (wo du Odysseus, Orpheus und Christus begrüßen kannst.

Wilhelm Berliner

 

Salü Wilhelm,

ja, das sind tolle Übungen, in denen man alle seine Hirnwindungen rauf und runter durchforsten kann. Aber, na ja, auch hier kann man noch kürzen, straffen, feilen und polieren. z.B. hier:

86 %
In einem Andenkenladen am Kölner Bahnhof begann ein Mann aus Sachsen einen Streit mit der Besitzerin des Ladens, weil er für die Figur der Loreley nur 86 % des Ladenpreises zahlen wollte, denn er würde als Bürger der ehemaligen DDR auch nur 86 % des Westgehalts bekommen, und, als die Besitzerin ihm den Wunsch nicht erfüllte und ihn aus dem Laden wies, ging eine halbe Stunde vor dem Laden mit einem schnell angefertigten Plakat mit dem Satz „Ostdeutsche sind hier unerwünscht!“ auf und ab.
86 %
In einem Andenkenladen am Kölner Bahnhof stritt ein Mann aus Sachsen mit der Verkäuferin über den Preis der Gipsloreley, für die er nur 86 % des geforderten Preises zahlen wollte, da er als Bürger der ehemaligen DDR auch nur 86 % des Westgehaltes bekäme und als die Besitzerin ihn verärgert aus dem Laden wies, ging er eine halbe Stunde spätervor dem Geschäft mit einem schnell angefertigten Plakat hin und her, auf dem geschrieben stand: „Ostdeutsche sind hier unerwünscht!“
Damit reduzieren sich Wortwiederholungen (Laden) und es kommt mehr Fluss ins Ganze.
Und hier:
Spitzel
In einem großen Einkaufszentrum in Magdeburg schrie Herr Isbert V. seiner neben ihm gehenden Frau, dabei mit der ausgestreckten Hand auf einen Mann deutend, der diensteifrig-gebückt in einem Blaumann offensichtlich Hausmeisterdienste verrichtend durch die Regalschluchten eilte, so lautstark zu: „Wegen diesem Stasi-Spitzel musste ich zwei Jahre ins Gefängnis. Und solche Leute kriegen heute wieder Arbeit!“, dass viele Kunden dies hörten, scheu den ehemaligen Stasi-Offizier musterten und schnell weiter gingen.
Spitzel
In einem großen Einkaufszentrum in Magdeburg deutete Herr Isbert V. mit ausgestreckter Hand auf einen Mann, der in einem Blaumann offensichtlich Hausmeisterdienste verrichtend durch die Regalschluchten eilte, und schrie seiner neben ihm gehenden Frau so lautstark zu: „Wegen diesem Stasi-Spitzel musste ich zwei Jahre ins Gefängnis und solche Leute kriegen heute wieder Arbeit!“, dass viele Kunden ihn hörten, den derart Geächteten scheu musterten und schnell weiter gingen.

Hier hab ich nur umgestellt und das diensteifrig-gebückt scheint mir nicht so passend, wenn er dazu noch eilt. Stasi-Spitzel und die Nachdoppelung Stasi-Offizier finde ich zu viel.

Das mache ich auch oft gern. So Reduktionen sind gut gegen Geschwätzigkeiten und sind prima geeignet, sich auf Wesentliches zu konzentrieren, was dann einem Text mit vielen Sätzen zugute kommt. Inhaltlich finde ich, dass du durchaus Geschichten antippst, die man weiterspinnen kann.

Herzlich lieben Gruss für heisse Pfingsttage,
Gisanne

 

Hallo Wilhelm,

ich melde mich noch mal. Ich finde diesen induktiven Ansatz, nämlich aus vielen Einzelbeobachtungen auf ein zugrundeliegendes Phänomen oder eine Erklärung zu kommen, oft als den einzig möglichen aber sehr schweren Weg und Dir ist das irgendwie hervorragend gelungen.

Gemeinsame Empfindungen, die die Geschichten im einzelnen und in ihrer Gesamtheit auf der Metaebene herausdrücken, hast du ja inzwischen explizit erwähnt: Angst, Konfrontation, der vom Schicksal vorgezeichnete Weg …

„Wie weit kann Toleranz gehen?“ käme vielleicht noch hinzu: In „Millionen“ allerdings könnte das Verhalten der Frau einfach als Naivität oder Dummheit abgetan werden.

Jetzt stelle ich mir weiter vor, dass Undeutsche und Andersländer Deine Geschichten lesen. Ein Japaner würde wahrscheinlich derart kondensierte und strukturierte Aussagen sehr mögen. „86 %“ ist aber ein Spezialfall. Das verstehen nur Inländer. Wie wäre es, wenn in dieser Geschichte ein Inder der untersten Hindukaste in das Geschäft käme …?

Viele Grüsse
Fugu

 

Hallo Wilhelm Berliner,

ich habe nicht alle Kommentare durchgelesen und wiederhole mich eventuell.
Der rote Faden ist dein Schreibstil, der mir als Verbindung völlig genügt.
Das Lesen dieser originellen Szenen ist ähnlich wie das Blättern in einem Bilderbuch, einem recht skurrilen an manchen Stellen.
Ich war oft überrascht, musste lachen, habe auch mal geschluckt.
Diese Idee einer Reise gefällt mir sehr und ich genieße den Ausflug noch ein Weilchen.
Wenn es noch etwas an den Texten zu schleifen gibt, hast du das schon in den vorhergehenden Kommentaren erfahren, nehme ich an.

Viele Grüße und ich würde es spannend finden, wenn du dieses Projekt weiter entwickelst - vielleicht zusammen mit anderen?

Sylvi

 

Gott zum Gruße Anakreon,

es ist Pfingsten.

Deine Dichterworte, die sich im Format zuweilen greifbaren Normen entheben,
Könnte ich fast als Lob auffassen.
sind mir diesmal nicht so einfach zuordnungsbar. Kürzlich hatte ich in anderem Zusammenhang aus gegebenem Anlass darüber sinniert, welchen Stellenwert „experimentelle Kuriositäten“ literarisch einnehmen könnten – und war zur Meinung gelangt, ein sehr hohes Risiko im Argen zu landen, wäre dabei real zugegen.
Der Arge ist ja durchaus ein Anfacher literarischer Würfe, beim ihm zu landen oder in der Vieldeutigkeit der Bedeutungswelt von „arg“ herumzuirren, kann so unproduktiv nicht sein.

So wie Du eröffnest, ist diese Fiktion anekdotisch, doch sind es keine Anekdoten, da die einzelnen Teile im Kern die entsprechenden Charakteristiken nicht erfüllen. Die Form des Aphorismus würde sich zu solchen Wortspielereien auch anbieten, doch dazu fehlen vorliegend etwa Antithese und Paradox.
Das ist richtig.
So erkenne ich darin nur Kürzest-Episoden, deren Kuriosa sich in den Satzdehnungen als auch in den Inhalten anbiedern.
Deine Beschreibung „Kürzest-Episoden“ ist gut. Danke! Warum hier der Begriff anbiedern? Macht das nicht der größte Teil der Literatur, die sich Gedanken um den geneigten Leser macht und ihn unterhalten will? Die künstliche Setzung von „ein Satz“ sollte eher das Gegenteil bewirken: Distanzierung, Befremdung, Verfremdung. Wenn das nicht gelungen ist, wäre es schade.
Natürlich sind sprachliche Experimente legitim. Doch macht es ästhetisch Sinn, den Aufbau und die Ausformulierung von Kurzgeschichten nur des Experiments willen auf den Kopf zu stellen?
Wofür soll man sie sonst auf den Kopf stellen? Sind es eherne Gesetze in Granit gemeißelt?
Als Experiment für die Schublade vielleicht. Im Rahmen eines Selbstfindungsprozesses meinetwegen. Aber als Mix von fragmentarischen Texten, die sich einzig von zufällig gesetzten Pointen speist?
Stell dir vor, ein Physiker macht ein Experiment und versteckt es in der Schublade? Gerade Experimente bedürfen der Kontrolle durch andere. Auch am Selbstfindungsprozess scheint irgendein Makel zu sein. Ich behaupte einfach mal, alle Literatur ist zu einem Teil ein Selbstfindungsprozess. Was soll man sonst mit ihr finden? Ich würde sagen, die Entdeckung der Welt, aber trenne das mal.
Zum Sinn von Fragmenten haben die Romantiker genügend gesagt, muss ich nicht mehr. Ob eine Pointe zufällig oder absichtlich gesetzt wird, ist doch egal, wenn sie nur sitzt. Was an einem Mix falsch sein soll, wird mir auch nicht klar. So siehst du mich in großer Ratlosigkeit.

Im Nachgang habe ich kurz Deine Antworten zu Kommentaren überflogen. Das Fehlende von Genialem daran beklagst Du selbst.
Ein Eingeständnis, das für so viele Texte, nicht nur hierorts, gilt, oder soll ich sagen, ich finde sie genial?
Na ja, von solch Superlativen leben die wenigsten Geschichten, müssen sie auch nicht, wenn sie das Erfordernis an Unterhaltung erfüllen.
Hier haben wir wirklich keinen Konsens, denn Unterhaltung hat für mich was mit Dschungelcamp, Marika Rökk oder Peter Alexander (siehe Kehlmann Vorlesung) zu tun. Schon die Wortbestandteile lassen mich erschauern, Haltung und Unter taugen mir nicht. Macht durch panem et circenses, besser nicht mit mir, weder als Empfänger noch als Organisator.
Dies sollte ein Autor für sich bejahen können, ansonsten wird die Veröffentlichung zur Farce, was er jedoch nur sich selbst gegenüber verantworten muss.
Auch hier differieren wir, wenn auch vielleicht nur graduell. Wortkrieger ist eine Plattform, auf der Schreiber mit Texten an die begrenzte, interessierte Öffentlichkeit gehen, um Texte zu diskutieren und zu verbessern, man könnte sie als Werkstatt auffassen. Wer darin etwas zur Diskussion stellt, muss es nicht nur für sich bejahen können, sonder auch den Kritikern antworten, was ich ja ausführlich tue. Ein Zwang zur Einheitlichkeit besteht nicht. Es gibt aber hier auch Texte, deren Autoren die Frage stellen, kann man das so machen, wie wirkt es auf euch. Das ist doch das Schöne hier. Es als Farce zu bezeichnen, wenn sich jemand dieser Diskussion stellt, scheint mir übertrieben. Wenn du allerdings wirklich Farce meinst, wie die Zwischenspiele im Mysterienspielen genannt werden, ist es höchstes Lob und da gibt sich der Arge mit dem Narren die Hand zum Narren- und Totentanz und schreien laut hinaus: Totus mundus histrionem. So feiern wir seinen 450.

Da ist mir noch Dein Vergleich zu Meditationsbildern aufgefallen, was mich nicht unbedingt einfallsreich dünkt.
Ob einfallsreich oder nicht, es ist die Frage, ob die Geschichten so ähnlich wie Meditationsbilder wirken. Wer nicht meditiert, kann dies nicht abschätzen.
Die Möglichkeit der Reflexion als technisches Moment ist sicher gegeben,
Freut mich, ich sehe das auch so
ein tiefsinniger Witz tut dies auch,
und auch Gebete, Gedichte, Aphorismen u. a. m., das ist doch gut?
doch darüber hinaus sind die Inhalte bestimmend.
Bestimmend wofür?

Mich vermag das Vorgelegte in dieser Form also nicht zu überzeugen.
Das tut mir leid.
Einzelne Inhalte würden sich jedoch gut als „Kurzgeschichten“ anbieten, wenn sie entsprechend ausgebaut wären.
Ja, sicherlich, das sehe ich auch so, habe es aber anders gemacht.
Ich hoffe, dass du mir nicht allzu böse bist, aber manche deiner Anmerkungen haben mich einfach ratlos zurückgelassen. Ich habe schon herausgespürt, dass dir etwas an den Geschichten nicht passt. Aber was es ist, konnte ich nicht so recht herausbringen, außer, dass meine Dichterworte
sich im Format zuweilen greifbaren Normen entheben.
Nichts für ungut!
Fröhliche Grüße
Der arge Wilhelm Berliner
:baddevil:

 

Hallo Wilhelm

In solcher Versinnbildlichung: :baddevil: nahm ich Dich als Person niemals wahr, ansonsten wäre keine Silbe von mir verlautet. Ungehemmter erlaube ich mir jedoch bei „Produkten“, manchmal eine kritischere oder pointiertere Optik zu erwägen.

Ohne den Disput nun auszureizen, erscheint mir Dein folgender Satz noch erwägenswert, um den Sinn von „Geschichten“ zu hinterfragen, nicht belehrend aber Wissen (und Verständnis) mehrend:

Hier haben wir wirklich keinen Konsens, denn Unterhaltung hat für mich was mit Dschungelcamp, Marika Rökk oder Peter Alexander (siehe Kehlmann Vorlesung) zu tun.

Den Inhalt der Antrittsvorlesung „Kommt Geister“, welche Daniel Kehlmann vor vier Tage hielt, kenne ich nicht detailliert. Doch zu den literaturtheoretischen Gedanken von ihm zählen eine Differenzierung zwischen „Vorlieben für eine unterhaltende Literatur“ sowie „eine Literatur, die dem Leser ein Angebot macht, sich selbst und die Welt zu deuten.“ Damit trägt er m. E. jedoch vorab dem Wandel in der Literatur ab dem 19. Jahrhundert Rechnung, der eben freiere Lebensgefühle einleitete.
Ich mag jetzt nicht die literaturwissenschaftlichen Quellen suchen, welche betonen, dass „Geschichten“ stets unterhaltend verfasst sind, ansonsten die Texte anderen Formen von Literatur zuzurechnen sind.
Auch wenn Du literaturfremde Elemente von Unterhaltung ansprichst, setze ich sie mal mit Trivialliteratur gleich. Die qualitative Spannbreite in Geschichten, die von anspruchslos bis kunstvoll sein kann, weist auf die Verschiedenartigkeit an Bedürfnissen und dem Verständnis von Lesern hin. Jemandem das Recht abzusprechen, seine Sinnesfreuden in nicht anspruchsvoll unterhaltsamen Geschichten zu finden, wäre aber doch eher verfehlt? Plátōn hatte den Fehler in seiner idealen Republik begangen, indem er die Dichter verbannte.
Ich stehe also durchaus für die Freiheit der Ausdrucksformen, dennoch meine ich, gewisse Normierungen sind in der Verständigung erforderlich. Veränderungen treten, wie ich Dir als Historiker nicht unterbreiten muss, nur in langen Zeiträumen ein. Vielleicht bist Du aber der Zukunft bereits weit voraus.

Lass Dir die sommerlichen Tage also von mir nicht vergällen. ;)

Schöne Grüsse

Anakreon

 

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