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Spieltrieb
Paul erinnerte sich lückenhaft an die letzten Tage. Sein Redakteur hatte ihn nach New York geschickt, um einen Artikel über diese Mordserie zu schreiben. Was war dann geschehen?
Er setzte sich im Bett auf und zog die Decke enger um den schmächtigen Körper. Regenwolken verdeckten den Novemberhimmel, durchs geschlossene Fenster drang kein Laut. Paul griff nach dem Pappbecher mit Wasser auf dem Nachttisch, leerte ihn in einem Zug, aber der pelzige Geschmack im Mund blieb.
Da war diese Frau gewesen. Kinnlanges, schwarzes Haar, dicht wie eine Perücke, schneeweiße Haut. Paul lächelte schwach, merkte, dass er ins Schwärmen geriet und streckte den Rücken durch. Bloß keine Gefühlsduselei. Er musste sichergehen, dass nichts passiert war, was er nicht wollte.
Gleich am Flughafen war er ihr begegnet. Er saß in einem dieser Schnellrestaurants und beobachtete, wie sie in ihren Stöckelschuhen auf und ab lief und den Trolley hinter sich herzog. Sie schien wohlhabend zu sein, das graue Kostüm war bestimmt nicht billig gewesen. Suchend blickte sie über die Köpfe der Leute hinweg.
Nach einer Weile blieb sie stehen, um sich die Lippen nachzuziehen. Zögernd erhob er sich, wusste genau, was er sagen würde. Das hatte bisher immer gezogen. Er wich einer Gruppe Rednecks aus, die zu fünft einen Gepäckwagen schob und laut sang.
„Mam“, begann er, „ich ...“ Im selben Moment spürte er etwas Schweres gegen seinen rechten Arm prallen, geriet aus dem Gleichgewicht, wurde gegen die Frau gestoßen. Ihr Taschenspiegel fiel herunter, und bevor Paul einen klaren Gedanken fassen konnte, fuhr sie herum. Quer über ihrer Wange sah er einen roten Strich, der wie eine Kriegsbemalung aussah.
Die Rednecks lachten, einer half seinem Freund vom Boden auf und verpasste ihm eine Kopfnuss. Gröhlend zogen sie weiter.
„Ich ... Ich bitte vielmals um Entschuldigung“, sagte Paul, während er sich die Hosenbeine abklopfte. Sie sah ihn an, als wäre nichts passiert. Ihr Blick war unschuldig und gleichzeitig auf eine seltsame Art neutral, wie gemalt wirkten die großen, dunklen Augen. Paul musste sofort an das Buch denken, mit dem er als Junge unter dem Ahornbaum gesessen und mit nackten Zehen im Sand gegraben hatte. Sein Herz klopfte laut, wenn er es auf einer bestimmten Seite aufschlug. Da war es. Schneewittchen. Derselbe unschuldige Blick, als könne nichts auf der Welt ihr etwas anhaben. Er schaffte es immer wieder, sich davonzuschleichen und sie anzuschauen, ohne dass die Alte ihn entdeckte.
„Paul Anders.“
Sie gab ihm die Hand, stellte sich aber nicht vor. Paul ging in die Knie, um den Spiegel aufzuheben. Das Glas war zerbrochen, und als die Frau hineinsah, wusste Paul, dass ihr Gesicht in tausend Teile zerfiel.
Der zerbrochene Spiegel verschwand in ihrer Handtasche, dann lächelte sie und sagte: „Ich dachte schon, Sie kommen nie.“
Paul sah sie fragend an. Statt einer Antwort ließ sie ihren Koffer stehen und stöckelte Richtung Damentoilette. Er zog die Stirn kraus. Kannte sie ihn? In seinem Kopf lief alles durcheinander. Er stellte sich vor einen Zeitungskiosk, trat von einem Bein auf das andere, überflog die Schlagzeilen. Überall nur Mord und Totschlag. Aber seine Reportage würde mehr hergeben, der Täter wurde seit zehn Jahren gesucht, und jetzt standen sie kurz davor, ihn zu fassen. Wenn er die Story lieferte, würde er endlich seine Beförderung bekommen.
Die Frau kam mit entschlossenem Gesicht in die Flughalle zurück. Sie blieb vor der Toilettentür stehen und telefonierte. Paul sah auf die Uhr. Die Hände waren so nass, dass er sie mehrmals an der Jeans abwischen musste. Selten war ihm eine Frau begegnet, die genau wie in dem Buch aussah. Die anderen hatten ihr ähnlich gesehen, die letzte sogar sehr, aber sie war perfekt. Wieder sah er auf die Uhr. Im Hotelzimmer wartete eine Menge Arbeit auf ihn, und er musste den Gedanken an das Buch aus dem Kopf bekommen. Wie es im Laufe der Jahre immer mehr zerfledderte, die roten Lippen verblassten, das schwarze Haar abstumpfte, der Deckel fehlte. Warum brauchte sie so lange?
Endlich klappte sie das Telefon zu und kam zu ihm. Er schnappte sich ihren Koffer und zog ihn neben seinem eigenen hinter sich her. Das Spiel fing an, ihm zu gefallen. Eine Inspiration für seine nächste Kolumne. Mit wem verwechselte sie ihn? Einem Blind Date? Einem Freund von demjenigen, der sie eigentlich abholen sollte, aber verhindert war? Es konnte sich auch um einen Job handeln.
„In der Nähe von meinem Hotel soll es ein sehr nettes, chinesisches Restaurant geben“, sagte er. „Wenn Sie keine anderen Verpflichtungen haben, würde ich Sie gerne zum Essen einladen. Als Entschädigung für den kaputten Spiegel.“
„Das ist wirklich nicht nötig“, beeilte sie sich zu sagen und senkte den Blick. „Aber ich nehme trotzdem gerne an.“
Der Himmel war grau, als sie ins Freie traten, die Luft roch nach Regen. Paul steuerte auf ein Taxi zu, ließ den Fahrer das Gepäck im Kofferraum verstauen, hielt der Frau die Tür zur Rückbank auf und setzte sich neben sie.
Während der Fahrt durch den Newark-Tunnel sah sie aus dem Fenster. Später flogen Menschen und Gebäude an ihr vorbei, aber sie schien sie gar nicht wahrzunehmen. Paul fragte sich, ob sie die Tropfen zählte, die in immer kürzeren Abständen auf der Scheibe landeten. Der Fahrer schaltete die Scheibenwischer ein.
Es war bereits dunkel, als der Wagen in eine Seitenstraße bog, durch eine große Pfütze glitt und direkt vor dem Restaurant hielt. Über dem Eingang blinkten chinesische Schriftzeichen. Endlich wandte die Frau sich Paul mit einem sanften Lächeln zu. Ihre Augen glitzerten.
An das Abendessen konnte Paul sich zunächst nicht erinnern. Für ihn hatte diese Frau gleich nach der Taxifahrt hier auf dem Bett gesessen. Der Akt verlief routiniert, sie quiekte ein paarmal, aber außer sich geriet sie nicht. Dann musste er eingeschlafen sein.
Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und sah sich hastig um. Kein Schrank, kein Stuhl, kein Spiegel, nur der Nachttisch mit dem leeren Wasserbecher und dem Hoteltelefon. Er griff nach dem Hörer und tippte die Nummer, die auf dem Gehäuse stand. Der Zimmerservice sollte ihm etwas zu trinken bringen.
Als es klopfte, torkelte Paul schlaftrunken zur Tür, aber der Page war bereits eingetreten. Er trug einen roten Gegenstand in der Hand, etwa so groß wie ein Sofakissen. Mehr konnte Paul ohne Brille nicht erkennen.
„Herr Anders, Sie sollen doch nicht aufstehen“, sagte der Page betont ruhig und in perfektem Deutsch. Er blieb seitlich vor dem Nachttisch stehen, dann legte er den Gegenstand aufs Bett. Paul rieb sich die Augen. Das Buch. Aber als er darauf zuging, erkannte er ein rotes Plastikarztköfferchen für Kinder. Genau wie das, das er damals im Gebüsch neben dem Ahornbaum gefunden hatte. Die Alte hatte ihn grün und blau geschlagen, als sie es herausfand. „Du! Sollst! Lernen!“, hatte sie geschrien. Immer und immer wieder. Dann hatte sie ihn zu den Schulbüchern gezerrt.
Paul fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Er musste sich konzentrieren. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Zumal das weiße Kreuz auf dem Koffer größer zu werden schien. Es sah jetzt wie eine längliche Schale aus. Und in seinem Kopf brüllte immer noch die Alte: „Du! Sollst! Lernen!“ Bis er merkte, dass er selbst es war, der schrie.
Der Page nahm jetzt etwas aus der Schale und kam auf Paul zu. Aus der Nähe erkannte er eine Spritze in der Hand des Mannes.
„Was wollen Sie von mir?“, schrie Paul, sprang zur anderen Seite des Bettes, riss das Kopfkissen hoch und warf es nach dem Pagen. Es landete auf dem Boden. Der Page griff nach dem Telefonhörer.
„Hallo? Ja, hallo, hier ist Quermann, Station 11c“, hörte Paul ihn mit kehliger Stimme telefonieren. „Patient beginnt die Kissenschlacht. Bitte um Verstärkung.“
Er hatte den Satz kaum beendet, als zwei Männer in grauen Kitteln hereinstürmten. Sie packten Paul und drückten ihn auf die Matratze. Er spürte ein Ziepen im Oberarm, wollte schreien, aber eine Hand presste ihm den Mund zu. Paul versuchte zu treten, wand den Oberkörper in alle Richtungen und tatsächlich - sie ließen ihn los.
Nun war auch die Frau wieder da. Sie war noch weißer als zuvor, und ihr Lächeln war noch sanfter.
„Wo kommen Sie denn her?“, fragte Paul. Als er sich umblickte, waren die Männer verschwunden.
„Aber ich bin doch gar nicht weggewesen.“
Paul wurde schwindelig. Wie weiß sie war. Noch nie hatte er einen Menschen mit so weißer Haut gesehen.
Sie fanden einen kleinen Tisch in der Ecke, er bestellte die Acht. Chop Suey mit Reis. Die Frau wollte nur einen Salat.
„Die Beerdigung ist morgen um zwei“, sagte sie.
Er zuckte zusammen. Sie wusste davon. Sicher hatte man sie auf dieselbe Story angesetzt.
Er sah vor sich auf das pinkfarbene Tischtuch, krallte die Finger im Schoß ineinander und hatte die Tote genau vor Augen, in einem gläsernen Sarg, das schwarze Haar wie ein Fächer um das weiße Gesicht drappiert, ein kleiner Schnitt quer über der Kehle.
„Ich werde da sein“, sagte er.
Die Augen der Frau schienen ihn zu verschlingen. Hoffentlich geriet er jetzt nicht außer Kontrolle. Wie konnte er einen kühlen Kopf bewahren, wenn sie ihn so ansah?
Ihr Handy vibrierte auf dem Tisch. Sie warf einen kurzen Blick auf das Display, entschuldigte sich und ging mit dem Telefon vor die Tür. Wieder brauchte sie lange. Paul trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. Das Lokal füllte sich. Zwei Herren in grauen Anzügen nickten ihm kurz zu und nahmen am Nebentisch Platz.
Als sie zurückkam, zupfte sie sich die Haare zurecht. Da waren ein paar helle Strähnen an den Schläfen, die ihm vorher nicht aufgefallen waren. Noch bevor er Zeit fand, darüber nachzudenken, lächelte sie ihm warm zu, setzte sich wieder, in Zeitlupe, wie ihm schien, legte die Hand auf seinen Unterarm. Ihm wurde heiß. Er lockerte seinen Schlips. Sie beugte sich etwas vor und sprach leiser.
„Cecile war meine beste Freundin. Aber sie war einfach zu leichtsinnig. Wir waren alle hinter der Story her, aber sie musste ja unbedingt alles alleine machen.“
Paul sah, dass ihre Hand leicht zitterte, als sie nach dem Glas Mineralwasser vor sich auf dem Tisch griff, trank und sich die Lippen mit der roten Serviette abtupfte.
„Mein Beileid“, sagte er.
Jetzt hatte sie sich wieder im Griff, blickte ihm fest in die Augen. Da war etwas Unzüchtiges in ihrem Blick, das konnte er genau erkennen. Die Alte hatte ihm immer wieder gesagt, dass etwas Verdorbenes in Schneewittchens Augen lauere, genau wie es auch in dieser Frau schlummerte, da war sich Paul ganz sicher. Hatte sie ihn mit dem Fuß unter dem Tisch berührt? Abermals begannen seine Hände zu schwitzen.
Der Akt verlief routiniert. Die Frau quiekte ein paarmal, aber außer sich geriet sie nicht. Paul konnte sich nicht erklären, warum. Er hatte sie in den Apfel beißen sehen, kauen, schlucken. Endlich atmete sie hastiger, rang nach Luft. Draußen ertönte die Sirene eines Krankenwagens. Die Tür wurde eingetreten, und ehe Paul wusste, wie ihm geschah, erkannte er einen grauen Anzugärmel, der sich um seinen Hals legte, ihn nach hinten zog und fest umklammert hielt. Er spürte ein Ziepen im Oberarm. Dann musste er eingeschlafen sein.
Zuletzt bearbeitet: 25.12.2018
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