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Spaltkind

Monster-WG
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18.06.2015
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Spaltkind

Gestern Nacht ist mein Bruder verschwunden und dieses Mal hat er einen Rucksack vom Estrich geholt und den Reisepass eingesteckt. Ich suche in seinem Zimmer nach einem Hinweis. Ein Zettel, auf dem steht, wohin er gegangen ist. Eine versteckte Botschaft. Aber da ist nichts. Vater meint, der Strolch komme bald wieder zurück, also liegt er auf dem Sofa und sieht sich die Tagesschau an, während Mutter in der Küche steht, rauchend aus dem Fenster starrt und dabei nichts sehen kann, außer sich selbst. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange und sage, sie solle sich keine Sorgen machen. Dann nehme ich ein Messer aus dem Küchenschrank und gehe in Jans Zimmer, um die oberste Schublade seines Schreibtischs aufzubrechen.
Ich finde zwanzig oder dreißig Zeichnungen, alle mit Bleistift gefertigt. Zur Hälfte sind Tiere darauf zu sehen, Raubkatzen und Klapperschlangen, so realistisch, dass ich beinahe zurückzucke. Die andere Hälfte sind Portraits von mir. Stundenlang muss mein Bruder daran gearbeitet haben, doch ich bin ihm nie Modell gesessen. Mir wird klar, weshalb er mich ständig fotografiert, obwohl ich ihm gesagt habe, er solle das sein lassen. Die Zeichnungen sind schön, auf allen lächle ich, sehe glücklich aus. Weshalb hat er mir nie davon erzählt? Ich suche weiter, finde leere Blätter, ein unberührtes Skizzenheft und ganz zuunterst ein Buch. Als ich es dort aufschlage, wo ein Lesezeichen zwischen den Seiten steckt, sehe ich, dass ein Satz unterstrichen ist. Der Hässliche aber begehrt, woran es ihm mangelt.

Mein Bruder ist ein Spaltkind. Bei seiner Geburt waren Oberlippe und Gaumen durchbrochen, Mund- und Nasenhöhle verbunden. Als er drei Monate alt war, wurde die Lippe zusammengenäht. Weitere Eingriffe folgten, man setzte ein Stück seiner Rippe in den Kiefer ein. Die letzte Operation dann mit sieben, um den harten Gaumen zu verschließen. Die Ärzte machten ihre Arbeit gut, doch es blieben Spuren. Narbengewebe. Jans Nase steht schief. Er hat eine verwaschene Aussprache, machte trotz Logopädie nur langsam Fortschritte. Wann genau er begann, unter all dem zu leiden, kann ich nicht sagen. Aber ich denke nicht, dass seine Mitschüler die ersten waren, die ihm das Gefühl gaben, entstellt zu sein.

Das Lämpchen an meinem Smartphone leuchtet auf. Ich hab's auf stumm geschaltet, damit meine Eltern nichts hören, falls Jan anruft oder eine Nachricht reinkommt. Und tatsächlich.

Ich komm nicht wieder

Echt?​
Diesmal nicht, kannst glauben
Wohin gehst?​
Sag ich, wenn ich dort bin
Okay​
Erzähl den Alten nichts

Ich schicke ihm einen Smiley mit zugeklebtem Mund, er antwortet mit einem Kuss. Stolz darüber, dass er mir vertraut, nehme ich die Zeichnungen vom Boden und lege sie zusammen mit dem Buch zurück in die Schublade. Dann erst begreife ich, was er geschrieben hat. Was, wenn er tatsächlich nicht zurückkommt? Ich schleiche mich aus dem Haus und gehe die Straße hoch, bis ich mir sicher bin, dass meine Eltern mich nicht hören können. Unter den Laternen sieht man keine Insekten schwirren, dafür ist es noch zu früh im Jahr, die stecken alle noch im Boden, als Larven. Es ist kühl, ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke hoch und wähle Jans Nummer. Er geht nicht ran. Ich versuche es noch einmal, zähle mit, während es klingelt. Zwei Minuten später eine Nachricht:

Nicht jetzt

Wann? Mama macht sich Sorgen​
Mir egal

Es gibt so Vereinigungen für die Eltern von Spaltkindern, doch das kam für Mutter nie in Frage. Stattdessen begann sie Dinge zu sammeln. Mein Bruder und ich wuchsen zwischen Ziertellern und toten Seepferdchen auf. Mit Eulen, die sich rosa verfärben, bevor der Regen kommt. Auf dem Kaminsims standen Ballerinen aus Porzellan, in Glitzerkleidchen und auf stabilen Sockeln. Und die Engel, all die Engel, die in Reih und Glied den Schlaf der Familie bewachten, uns beim Essen zusahen und beim Scheißen. Jan nannte sie goldgelockte Idioten. Als er elf war, begann er die Engel umzudrehen, wenn er aufs Klo musste. Gespült und die Figürchen wieder zurechtgerückt. Später dann ließ er die Engel mit dem Gesicht zur Wand stehen. Mutter sagte nichts, aber jedes Mal, wenn Jan zur Toilette ging, grinsten sie ihn aufs Neue an.
„Verfluchte Engel“, sagte er zu mir.
„Warum?“
„Mutter stellt die hin, weil sie mich nicht ansehen mag. Weil sie mich so hässlich findet.“
Damals musste ich darüber lachen, ich sah da keinen Zusammenhang. Heute bin ich mir sicher, dass Jan recht hatte, er besitzt ein gutes Gespür, wenn es um solche Dinge geht. Auf alle Fälle waren ihm die Engel ein Dorn im Auge. Einmal steckte er zwei davon in eine mit Seidenpapier ausstaffierte Schachtel Cornflakes und vergrub sie im Garten. Das war eine Art Entführung, die Engel waren noch heil, als er sie, nachdem er von meinem Vater eine Tracht Prügel erhalten hatte, wieder ausgrub und zurück ins Wohnzimmer brachte.
Später lieferten sich Jan und meine Mutter einen Wettkampf des schlechten Geschmacks. Es begann, als er sein Zimmer neu einrichten durfte, meine Eltern ließen ihm bei der Wahl der Möbel freie Hand. Am Ende sah es aus wie in einer Gefängniszelle. Das Bett in der einen Ecke, in der anderen ein Pult. Ein Wandschrank aus Metall. Sonst nichts. Kein Teppich, keine Bilder, außer einer Genesungskarte, die er übers Bett gepinnt hatte, und auf der Minnie Mouse zu sehen war, wie sie einen Luftballon in der Hand hielt.
„Wenn er es so will“, sagte mein Vater. Mutter zuckte mit den Schultern, griff nach dem Versandkatalog und bestellte zwei Frösche aus Keramik.
Danach kamen die gehenkten Kinder. Mein Bruder hatte das Bild in einem Kunstkatalog gefunden, den er sich in der Schulbibliothek ausgeliehen hatte. Es zeigte eine Installation, man sah drei Jungen, die hübsch angezogen waren, so wie es meinen Eltern gefallen hätte. Der eine trug eine Latzhose aus Jeansstoff, der andere ein gestreiftes Hemd in blassem Blau und der dritte einen dunklen Pullover. Niedliche Jungs mit gepflegten Frisuren. Nur dass sie barfuß waren, das passte nicht. Und dass sie zwischen den Ästen eines Baums hingen, mit Stricken um ihre Hälse, das passte noch weniger. Erst wenn man genau hinsah, bemerkte man, dass es sich bei den Toten um Wachsfiguren handelte. Jan ließ Farbkopien machen. Eine davon klebte er außen an die Tür seines Zimmers. Die anderen legte er überall hin, wo es für ihn Sinn machte, in den Wandschrank zwischen T-Shirts und Pullis. Auf dem Pult sollten sie als Schreibunterlage dienen. Und sie hingen an der Wand hinter seinem Bett. Vier Kopien, das machte zwölf am Strick baumelnde Knaben.
„Sind sie nicht schön?“, fragte er Mutter, als sie nach Hause kam. „Hundertmal schöner als jeder Engel. Tausendmal schöner als ich!“ Mutter schwieg, stellte die Einkaufstaschen auf den Boden und verpasste meinem Bruder eine Ohrfeige. Es war das einzige Mal, dass sie ihn schlug. Ich stand daneben und begann vor Schreck zu heulen, Jan starrte sie bloß an, blinzelte nicht einmal. Die Bilder blieben, wo sie waren. Mutter sagte, sie weigere sich, sein Zimmer zu betreten, solange er diese Schweinerei nicht weggeräumt habe. Jan fragte mich, ob ich seine Aktion verstehen könne. Ich sagte Ja, aber das war eine Lüge.

Wind zieht auf, irgendwo schlägt ein Fensterladen gegen die Hauswand. Wo könnte Jan sein? Ob er bei diesen Temperaturen im Freien übernachten will? Er hat mich zur Verbündeten gemacht, ohne mich wirklich einzuweihen. Nun stehe ich draußen im Dunkeln, hundert Meter von meinen Eltern entfernt, und weiß nicht, was ich tun soll. Alles wäre einfacher, hätte ich meinen Bruder nicht so gern. Ich brauche Jan nicht zu verstehen, um ihn zu lieben. Ich denke daran, wie er mit dem Finger über meinen Rücken fährt und ich die Tiere errate, die er dabei skizziert. Wir liegen unten am Baggersee, ich schaue auf das Wasser. Wir haben Schlamm aufgewühlt, als wir darin badeten, langsam sinken die Partikel wieder auf den Grund. Die Sonne wärmt unsere Körper und ich erzähle, dass ich mal einer Spinne die Beine ausgerissen habe, um zu sehen, wie viele davon sie wirklich braucht. Jan lacht und dann werfen wir uns gegenseitig vor, verrückt zu sein.
Und wie mein Bruder zeichnen kann! Mit wenigen Strichen erfasst er das Wesen eines jeden Dings. Häufig setze ich mich neben ihn und schaue zu, wie der Bleistift über das Papier gleitet, es ist Zauberei. Wenn er zeichnet, ist Jan ganz bei sich. Er wirkt dabei so friedlich, dass mir oft die Augen zufallen, während ich noch immer neben ihm sitze.

Ich beschließe, Marc anzurufen. Zuvor trage ich etwas Lippenstift auf, das Smartphone verwende ich als Spiegel. Das tue ich immer, bevor ich mit ihm telefoniere, das ist etwas seltsam. Aber Menschen am Telefon, die wedeln mit der freien Hand wild herum und runzeln die Stirn oder ziehen die Augenbrauen hoch. Da darf ich mich auf jeden Fall schön machen, bevor ich meinen Freund anrufe.
„Hey Nora!“ Marc hat eine tiefe Stimme, beinahe wie ein erwachsener Mann. Im Hintergrund höre ich Sufjan Stevens. Ich trete aus dem Lichtkegel der Straßenlampe und blicke nach oben. Man kann Sterne sehen, nur die hellsten zwar, aber immerhin. Mein Atem geht etwas ruhiger. Ich erzähle Marc, was los ist.
„Und deine Eltern?“ Er dreht die Musik leiser.
„Vater schläft und Mama kaut sich die Nägel von den Fingern.“
„Was soll ich jetzt tun?“
„Hab' ich gesagt, du müsstest was tun?“
„Ne, dachte nur.“
„Ich mein', dieses Mal ist nicht gut, ich spüre das.“
„Weshalb?“
„Ich weiß es einfach.“
„Der taucht wieder auf. Soll ich vorbeikommen und so tun, als wolle ich bei dir übernachten? Dann steht er bestimmt gleich auf der Matte. Zehn Sekunden.“
„Haha.“
„Ja, sorry. Ist halt nicht witzig, wenn du vom Bruder deiner Freundin, aber ist egal. Wenn du möchtest, komme ich vorbei. Um zu quatschen.“

Wir sind seit drei Monaten ein Paar. Wen hätte ich sonst anrufen sollen? Aber es fühlt sich an, als hätte ich meinen Bruder verraten. Er hasst Marc. Als er mich das erste Mal zusammen mit ihm sah, rastete er beinahe aus. Wir standen vor dem Schulhaus, Marc hatte den Arm um meine Schultern gelegt, wir lachten. Auf einmal kam mein Bruder angerannt, aus dem Nichts, denn ich hatte gedacht, er sei zu Hause.
„Fass sie nicht an!“, schrie er und ich musste ihm erklären, dass das für mich in Ordnung sei. Das war echt peinlich. Doch ich bin selbst daran schuld, denn ich habe Jan die Beziehung zu Marc verschwiegen, weil ich weiß, was man sich über den Jungen mit den vollen Lippen und den braunen Augen erzählt. Dass er oberflächlich sei. Dass er den Verstand eines Wiesels habe, den er einzig und allein dazu einsetze, Mädchen rumzukriegen. Und dass er abhaue, nachdem er zum Schuss gekommen sei. Alle sagen, ich solle mich in Acht nehmen. Sie irren sich. Marc war vielleicht mal so, aber jetzt nicht mehr. Obwohl, ganz sicher bin ich mir nicht, denn zusammen geschlafen haben wir noch nicht.
Vor allem aber habe ich meinem Bruder deshalb nichts erzählt, weil er mir leidtut. Ich bin fünfzehn, Jan siebzehn, und er hatte noch nie eine Freundin. Ich kenne viele Mädchen mit älteren Brüdern und die werden dauernd gefragt, was die Brüder so machen und ob sie solo seien. Nach Jan fragt keine. Nicht, dass sie sich über ihn lustig machen. Aber es ist, als gebe es meinen Bruder nicht, da kann man nichts dagegen tun. Einmal wollte ich von ihm wissen, ob er schon mal ein Mädchen geküsst habe. Er schüttelte den Kopf. Ich sagte, er müsse halt noch ein wenig warten. Sagte ihm, dass er doch gar nicht so schlimm aussehe, dass alles gut werde, wenn einmal die Nase operiert sei, dass Joaquin Phoenix ja auch eine Narbe an der Lippe habe. Und was weiß ich, was ich sonst noch sagte.
„Willst du tauschen?“, fragte er mich.
Meine Befürchtungen haben sich bestätigt. Seit er von Marc weiß, piesackt mich mein Bruder, wann immer er kann. Ob schön und dumm meinen Geschmack treffe? Ob wir schon hätten? Es ist, als habe mein Bruder einen Stachel im Leib, der sich nicht herausziehen lässt.

Mir wird kalt, ich laufe zurück ins Haus, hänge meine Jacke an die Garderobe und gehe zur Küche. Mutter steht genauso da wie zuvor. Rauchschwaden hängen unter der Deckenlampe.
„Ich rufe jetzt die Polizei an“, sagt sie.
„Warte bis morgen.“ Ich habe Angst, mich zu verraten, meine Stimme zittert. „Bestimmt ist er bei Tom oder mit Jonas unterwegs.“ Mutter lacht bloß.
„Er geht nicht ans Telefon“, sagt sie.
„Macht er doch nie, wenn er abhaut.“
„Diesmal ist es anders.“ Sie schaut mich an. Ihre Augen sind rot, die Wangen grau. „Hat er dich angerufen?“
„Nein“, sage ich und bin froh, dass es keine Lüge ist. Dann schiebe ich Mutter zur Seite und werfe die Zigarettenstummel, die in der Spüle liegen, in den Müll.

Mutter raucht fast zwei Päckchen am Tag. Irgendwann erfuhr Jan, dass sie weitergeraucht hatte, als sie mit ihm schwanger war. Er fand heraus, dass es einen Zusammenhang zwischen Rauchen und Gaumenspalten gibt. Zu wenig Sauerstoff für das Kind, erhöhtes Risiko einer Missbildung. Jan zeigte mir Internetseiten mit Bildern und Statistiken, danach holte er ein Frotteetuch, ging ins Wohnzimmer, wo meine Eltern auf dem Sofa saßen, warf Mutter das Tuch über den Kopf, zog es nach hinten und hielt es an beiden Enden fest.
„Atme!“, schrie er. „Wie ist es, wenn man keine Luft kriegt?“ Vater sprang auf und hob die Fäuste, aber die Zeiten, in denen er Jan einfach so hätte verprügeln können, waren da bereits vorbei. So stand er bloß da und starrte meinem Bruder in die Augen, dann setzte er sich wieder hin, um meine Mutter zu beruhigen, die am ganzen Körper zitterte.

Ich streiche mit dem Handrücken über ihre Wange.
„Mach dir keine Sorgen, Mama.“
Nachdem ich einige Gläser weggeräumt und den Tisch saubergemacht habe, gehe ich in mein Zimmer und docke das Smartphone am Lautsprecher an. Ich fühle mich müde, trotz der Aufregung, lege mich aufs Bett und denke an Marc. Die Mädels sind ganz schön neidisch. Ich mag es, wenn wir uns küssen, seine Zunge ist flink wie eine Eidechse, das kitzelt und es wird warm zwischen meinen Beinen. Aber mehr liegt nicht drin, das muss ich ihm zweimal die Woche erklären. Eine aus meiner Klasse hat erzählt, ihr Freund sei mal vor sie hin gestanden, nackt, mit steifem Penis und voller Stolz. Sie sei auf dem Bett gelegen, habe ihr T-Shirt ausgezogen und es in der Mitte gefaltet. Dann habe sie das Shirt über sein Glied gehängt und gefragt, ob er es bitte ins Bad tragen könne, zum Wäschekorb. Daran muss ich jedes Mal denken, wenn Marc fragt, was nun sei. Mir ist das zu viel, ich bin dafür noch nicht bereit.
Es klingelt. Ich renne nach unten, öffne die Tür und falle Marc um den Hals.
„Bis halb elf, spätestens“, höre ich Mutter sagen.
„Ja“, rufe ich zurück und wir gehen nach oben. Vor Jans Zimmer bleiben wir stehen.
„Sind die noch immer da?“, fragt Marc und zeigt auf die gehenkten Kinder. „Macht ihr euch keine Sorgen?“
„Ja, sag' ich doch.“
„Schon. Aber das hier, ich meine, das ist doch echt krank. Da muss man ja Angst haben, dass …“ Er streicht mit dem rechten Zeigefinger quer über sein linkes Handgelenk.
„Weshalb sollte er dann seinen Pass mitnehmen, du Hirni?“ Tränen rinnen über mein Gesicht.

Meine früheste Erinnerung an Jan ist, wie ich ihn besuche, zusammen mit unseren Eltern, da war ich drei oder vier. Als wir das Krankenhaus betraten, drückte mir meine Mutter die Karte in die Hand, die später in seinem Zimmer hängen sollte. Minnie Mouse, mit ihren großen schwarzen Ohren und diesem Lächeln, als sei die ganze Welt aus Zuckerwatte gemacht. Weiß der Himmel, was sich Mutter dabei dachte, aber Jan bezog das Motiv nicht auf sich, sondern auf seine Schwester, die ihm die Karte aufs Tischchen neben das Bett gelegt hatte. Von da an sagte er Minnie Mouse zu mir. Er kennt hundert verschiedene Arten es auszusprechen, bei einigen davon ist sein Näseln kaum zu hören. Minnie Mouse ist klein und süß. Achtung, Minnie Mouse, hier kommt der hungrige Kater! Und dann kitzelt er mich, bis ich vor Lachen fast in Ohnmacht falle.
Mit neun stellte ich eine Salbe her. Ringelblumenblüten, Bienenwachs und Olivenöl. Die Konsistenz war nicht gut, viel zu flüssig, also nahm ich einen Pinsel, um die Salbe auf Jans Lippen aufzutragen. Ich nannte es Noras geheime Mixtur. Jan tat so, als wirke sie Wunder, und jeden Abend schlich ich mich in sein Zimmer, um sein Gesicht zu heilen, so lange, bis das kleine Konfitürenglas leer war, in dem ich die Salbe aufbewahrte, so lange, bis ich erkannte, dass es nichts half. In dieser Zeit dachte ich, ich sei die Einzige, die meinen Bruder wirklich mochte, und womöglich war es tatsächlich so.
Wir stritten uns dennoch. Jan war empfindsam wie Springkraut, neidisch auf die Freundschaften, die ich hatte, neidisch auf die guten Noten, die ich nach Hause brachte. Nach seinen Wutanfällen saß er zusammengekauert auf dem Boden und wimmerte. Dann setzte ich mich zu ihm und legte meinen Kopf an seine Schulter. Bis auf dieses eine Mal. Jan hatte mir vorgeworfen, dass ich hinter seinem Rücken über ihn rede. Statt mich zu verteidigen, nahm ich einen Engel von der Kommode und warf ihn gegen die Wand. Das Ding zerbarst in tausend Stücke und ich wusste, dass mir Vater glauben würde, wenn ich sagte, es sei Jan gewesen. Als er verprügelt wurde, war ich auf meinem Zimmer und ließ Musik laufen, um seine Schreie zu übertönen. Später kam Jan herein und sagte, falls er sich einmal umbringe, sei ich daran schuld.

Ich krampfe meine Zehen zusammen, das hilft. Marc nimmt meine Hand, küsst mich auf die Lippen.
„Ich wollte dich nicht beunruhigen.“
„Schon gut.“
„Dein Vater pennt vor dem TV?“
„Er denkt, dass Jan bald wieder heimkommt. War ja auch so, bisher.“
„Okay.“
„Ist doch gut, wenn Vater Ruhe bewahrt, bringt ja nichts.“
„Hmm.“
„Ich mein', schon klar, so dicke wie Mama und ich sind die beiden nicht.“
„Wie nennt er ihn schon wieder?“
„Den Strolch.“
Wir legen uns nebeneinander aufs Bett und hören Coldplay. Marc streichelt mein Ohr, ich hab' ihm einmal gesagt, dass ich das mag. Mein Körper hat sich entspannt, ich stelle mir vor, wie Jan am Pult sitzt und Porträts seiner Schwester zeichnet, mit konzentriertem Blick und einem Lächeln auf dem Gesicht. Ich schließe die Augen und bin kurz davor, einzuschlafen.
„Dein Smartphone blinkt“, sagt Marc. Ich zucke zusammen. Die Nachricht ist von Jan.
Kannst du kommen?
„Was ist los?“, fragt Marc.
„Moment.“ Ich stehe auf, setze mich ans Pult und tippe:
Wohin? Alles klar?
Kreuzung Waldrand
Das ist ziemlich nah, vielleicht drei, vier Kilometer. Ich bin erleichtert.
Warum?
Will mich verabschieden
Ich sende zwei traurige und einen verwirrten Smiley und schaue zu Marc hinüber, der noch immer auf dem Bett liegt.
„Jan will mich treffen.“
„Okay.“
„Kommst du mit?“ Marc verdreht die Augen. Ich schreibe:
Jetzt? Warum kommst du nicht her?
Hast du Kohle? Gebs dir zurück
Wo bist du?
Erklär ich später
„Komm bitte mit,“, sage ich zu Marc. Er nickt.
Okay. Halbe Stunde
Kohle?
Ich schau mal
Keine Ahnung, ob es eine gute Idee ist, Marc mitzunehmen. Aber ich will nicht allein zum Wald fahren und in diesem Moment ist mir auch egal, was mein Bruder davon halten wird. Ich bin wütend. Will mein Bruder tatsächlich abhauen? Sich ganz abwenden?
Natürlich, er hat schon immer Dinge getan, die mir fremd sind. Manchmal drischt er unvermittelt auf Dinge ein, die ihm im Weg sind, kickt gegen Wände und tut sich dabei weh. Dann wieder zieht er sich zurück, sitzt in seinem Zimmer, ist nicht ansprechbar. Daran habe ich mich gewöhnt. Aber letzte Woche erzählte er mir stolz, dass er ein Mofa gestohlen und in den Fluss geworfen habe. Ich fragte ihn, weshalb er das getan habe, und er antwortete, wer hässlich sei, der werde auch hässlich in der Seele. Dann zog er ein Messer aus seiner Jackentasche, sagte, ich solle mit dem Finger über die Klinge streichen.
„Wozu brauchst du ein Messer?“
„Man kann nie wissen.“ Er streckte den Ellenbogen durch, stach einem unsichtbaren Gegner in den Bauch.
„Du machst mir Angst.“
„Gut.“
Am nächsten Tag fing mich Jan nach der Schule ab. Ich solle mitkommen, er wolle mir etwas zeigen. Wir gingen zum Friedhof. Jan blickte sich um und als er sah, dass wir alleine waren, kramte er einen Luftballon aus seiner Jackentasche. Er begann zu kichern, musste sich zusammenreißen, um das Ding aufzupusten. Ich hatte keine Ahnung, was er vorhatte, bis ich das aufgedruckte Motiv sah. Minnie Mouse vor rotem Hintergrund, so wie man sie kennt, je drei Striche als Wimpern, lila Schleife im Haar. Und über Minnies Ohren stand Gute Besserung in Schnörkelschrift. Jan zog eine Schnur hervor, knüpfte das eine Ende am Ballon fest und wickelte das andere um ein Kreuz, so dass Minnie Mouse über einem der Gräber hing.
„Lass uns Fotos machen!“, rief er.
„Was soll das?“
„Den Toten gute Besserung wünschen!“
„Schon klar. Warum Minnie Mouse?“
„Warum nicht?“
„Hat das was mit mir zu tun?“
„Ist witzig. Ich lach' mich tot.“
„Ja, okay, ich find's nicht gut. Lass uns gehen, bitte.“
„Hast du Schiss?“ Jan packte mich an den Schultern und drückte mich zur Seite, bis ich neben dem Grab stand. „Lächeln, bitte!“
„Idiot!“ Ich rannte los, rannte durch die halbe Stadt nach Hause. Verwirrt, weil ich nicht begriff, was in meinem Bruder vorging. Als ich daheim ankam, schmerzte meine Lunge so sehr, dass ich dachte, ich müsse sterben.

Ich ziehe den Pyjama an und stopfe meine Kleider in eine Plastiktüte, die ich Marc in die Hand drücke. Er solle schon mal nach unten gehen, sage ich zu ihm, und als er das Zimmer verlassen hat, stecke ich vier Hunderter, die ich zwischen den Seiten von Lady Punk aufbewahrt habe, zusammen mit einer Halskette und den goldenen Ohrringen meiner Großmutter in einen Stoffbeutel. Ich gehe nach unten und halte den Beutel hinter meinem Rücken versteckt.
„Stehen meine roten Schuhe draußen?“, frage ich Marc und während er die Tür öffnet und nachsieht, verstaue ich Geld und Schmuck in meiner Jackentasche.
„Nö.“
„Okay, dann nehme ich die anderen“, flüstere ich. Danach verabschieden wir uns gut hörbar und nachdem Marc die Tür hinter sich geschlossen hat, gehe ich zur Küche, wünsche meiner Mutter gute Nacht, trample die Treppe hoch, tripple auf Zehenspitzen wieder hinunter und schleiche mich nach draußen. Marc wartet auf der anderen Straßenseite. Ich ziehe meine Kleider an, Marc steigt auf sein Fahrrad und ich setze mich auf den Gepäckträger.
Wir fahren an den letzten Häusern der Siedlung vorbei und dann über die schlecht beleuchtete Landstraße. Die Sterne sind weg, der Himmel schwarz. Schon wieder tränen meine Augen, aber diesmal wegen der kalten Luft. Die Straße steigt an, Marc beginnt zu schnaufen. Ich klammere mich an ihn und wir schaukeln den Hügel hoch. Oben auf der Anhöhe steht ein einsamer Baum und ich zucke zusammen, weil ich zwischen den Ästen etwas hängen sehe. Wir fahren an einem Bauernhof vorbei, ein Hund bellt und ich erschrecke schon wieder.
Als wir den Waldrand erreichen, ist es kurz nach elf. Wir steigen ab, stellen uns unter die einzige Straßenlaterne, die es dort gibt, und blinzeln in die Dunkelheit. Nichts. Marc reibt sich die Hände warm. Dann höre ich ein Rascheln, es kommt aus dem Wald, wo ich auf einmal ein Licht aufflackern sehe.
„Was hat der hier zu suchen?“ Jan steht vielleicht zwanzig Meter von uns entfernt. Seine Stimme überschlägt sich.
„Marc war gerade bei mir. Okay?“
„Nicht okay. Er soll weg.“ Ich schaue Marc an.
„Ich geh' mal da rüber“, sagt er. „Du rufst, wenn was ist.“ Ich gebe ihm einen Kuss.
Mein Bruder sieht schlecht aus. Seine Haare sind zerzaust, Kratzer auf Gesicht und Händen.
„Nicht schlimm“, sagt er. „Ich hätte den Weg nehmen sollen, statt durchs Unterholz …“ Er dreht sich um und blickt zum Wald. „Da hinten hat's einen Schuppen. Für den Forstwart, mit Werkzeug drin. Da kann man rein, die schließen nie richtig ab.“
„Und da willst du übernachten?“
„Ja.“ Jan lächelt.
„Ach so“, sage ich.
„Wenn ich's nicht mehr aushalte, weißt du? Ist ein guter Ort, um nachzudenken. Und dann geht's meistens wieder.“
„Diesmal nicht?“
„Nein.“
„Ist etwas geschehen?“
„Ich will nicht darüber sprechen. Ich brauche nur etwas Zeit, weißt du?“
Was soll ich darauf antworten? Große Brüder müssen ihre Schwestern trösten, nicht umgekehrt. Ich will Jan sagen, dass er nach Hause kommen soll, aber ich schweige.
„Hast du Geld?“, fragt er. Ich gebe ihm die Scheine und den Schmuck. Er steckt alles ein und schaut mich an. „Nicht weinen, Minnie Mouse“, sagt er und nimmt mich in die Arme.
„Die Schule und alles. Du kannst das nicht einfach so hinschmeißen.“
„Ich nehme den ersten Zug morgen früh.“
„Wohin?“
„Ich melde mich, versprochen.“
„Wann kommst du wieder?“
„Wenn es mir besser geht.“ Eine Weile stehen wir da, ich spüre, wie sich Jans Brustkorb hebt und senkt, ich will meinen Bruder nicht loslassen. Aber dann tue ich es doch.
„Tust du mir einen Gefallen?“, fragt er.
„Okay?“
„Sag Marc, er soll sich verpissen. Schick ihn in die Wüste.“
„Wie?“
„Er ist nicht gut für dich“, sagt Jan und bevor ich antworten kann, steht Marc neben uns.
„Arschloch!“, schreit er. „Was hast du gesagt?“
„Dass du dich verpissen sollst.“ Jan hat seine Hände in die Jackentaschen gesteckt und spuckt Marc vor die Füße.
„Ich dachte, du willst dich verpissen?“, sagt Marc und legt seinen Arm um meine Schultern. Ich finde das keine gute Idee und mache einen Schritt zur Seite.
„Vielleicht nicht“, sagt Jan. „Vielleicht müssen wir das zuerst klären.“
„Ach ja? Dann klär' mal.“
„Echt jetzt?“, rufe ich dazwischen, doch Jan scheint mich nicht zu hören. Er geht auf Marc zu, so als sei der gar nicht da, läuft mit gesenktem Kopf einfach in ihn hinein. Marc wirkt überrumpelt, macht zwei Schritte rückwärts und fällt beinahe um. Dann aber schubst er meinen Bruder von sich weg.
„Wichser!“ Jan lässt sich nicht beirren. Diesmal ist Marc jedoch vorbereitet und nimmt ihn in den Schwitzkasten, hält ihn umklammert und sagt, er solle mit dem Scheiß aufhören. Mein Bruder keucht, aus seinem Mund tropft Speichel, ich denke, er gibt auf, denn er lässt sich auf einmal hängen, es scheint, als würde er in sich zusammensacken. Doch genau in dem Moment, da Marc seinen Griff lockert, tritt ihm mein Bruder mit voller Wucht gegen das Schienbein. Marc krümmt sich vor Schmerzen. Er blickt nach oben.
„Verfluchter Spast. Hast du sie noch alle? Du verfickte Hasenscharte!“, sagt er.

Wenn man vom Fünfmeterbrett springt, wenn der Kopf ins Wasser taucht, da hat man dieses Sirren im Ohr und die Welt ist weg, als habe man sie verschluckt, oder umgekehrt, und es gibt nur noch einen selbst. Oder wenn jemand ein Glas fallen lässt und es hat noch nicht aufgeschlagen, aber man kann nichts mehr dagegen tun. Alles geht ganz schnell und ich stehe daneben und schaue zu. Jan greift in die Jackentasche und auf einmal hat er etwas in seiner Hand und ich höre ein Klicken. Dann stürzt er sich mit einem scheußlichen Krächzen auf Marc, der seine Hände vors Gesicht hält. Bestimmt gibt es gar kein Geräusch, als das Messer seine rechte Handfläche aufschlitzt, aber ich höre ein Ratsch, so laut wie das Gekreische meines Bruders. Marc geht in die Knie, er blickt auf seine Hand, als gehöre sie einem anderen. Dann beginnt er zu stöhnen, Blut tropft auf den Boden. Ich schaue zu Jan, der dasteht, als habe er mit alldem nichts zu tun. Er sieht aus wie ein Verrückter.
„Mach was!“, schreie ich, aber mein Bruder lässt bloß das Messer fallen und erstarrt. Ich ziehe die Jacke aus und wickle meinen Pullover um Marcs Hand.
„Scheiße“, wimmert er. „Mir wird schlecht.“ Er steht auf und hält seinen Arm in die Höhe. Gleich verfärbt sich mein Pulli rot, denke ich. Dann hole ich das Rad und Marc setzt sich auf den Gepäckträger. Er wirkt ziemlich weggetreten.
„Geh' nach Hause!“, rufe ich meinem Bruder zu, der noch immer dasteht, als sei er gelähmt.
Wir fahren los. Ich habe Angst, dass Marc bewusstlos wird und vom Rad fällt, frage alle fünf Sekunden, ob es ihm gut gehe und ob er Schmerzen habe, er krallt seine unverletzte Hand in meine Hüfte. Als wir in unser Quartier einbiegen, beginne ich zu schreien, bei den Nachbarn geht das Licht an. Wir steigen ab, Marc setzt sich auf den Randstein und ich renne ins Haus, um meiner Mutter zu sagen, dass sie ihn ins Krankenhaus fahren müsse.

Während Marc verarztet wird, sitze ich alleine im Warteraum, auf einem dieser orangen Stühle. Mutter hat sich auf die Suche nach einem Getränkeautomaten gemacht. Ich starre auf den Linoleumboden und auf meine Beine, die noch immer zittern. Es riecht nach Desinfektionsmittel. Ich greife nach meinem Smartphone und wähle Jans Nummer. Er geht nicht ran. Mein Magen beginnt sich zu verkrampfen. Ich solle Marc verlassen, hat er gesagt und ich begreife, dass Jan wegen mir weggerannt ist. Minnie Mouse hat einen Freund. Drei Monate lang hat mein Bruder es ertragen, aber jetzt nicht mehr. Es liegt nicht daran, dass Marc einen schlechten Ruf hat, sondern bloß daran, dass es jemanden gibt, den ich mag. Und ich mag Marc wirklich. Aber ich verstehe, dass ich noch warten muss mit den Männern. Dass mein Bruder noch nicht so weit ist. So eine Scheiße! Mir wird übel, ich stehe auf, gehe zur Toilette und muss mich übergeben.
Kurz vor Mitternacht kommen Marcs Eltern, sie betreten den Warteraum gleichzeitig mit meiner Mutter, die den beiden erklärt, dass die Hand genäht werden müsse, aber sonst alles in Ordnung sei. Marcs Vater fragt, was geschehen sei und Mutter meint, das könne man später klären.
Zehn Minuten später betritt eine Ärztin den Warteraum, sie sieht nett aus. Marc gehe es gut, sagt sie und wir folgen ihr auf den Flur, wo mein Freund steht und mich anlächelt. Wir umarmen uns, er will mich küssen, aber ich drehe meinen Kopf zur Seite.
„Du hast ihn Hasenscharte genannt“, sage ich.

Als Mutter und ich nach Hause kommen, ist Jan bereits auf seinem Zimmer. Vater hört sich an, was geschehen ist und meint, man müsse warten, ob es eine Anzeige gebe und dann müsse man sich überlegen, was mit dem Strolch geschehen solle.
„Warum hat er das getan?“, fragt er mich.
„Er wollte mich beschützen.“
Ich gehe nach oben, putze mir die Zähne und lege mich völlig erschöpft aufs Bett. Kurze Zeit später klopft Jan an meine Tür und kommt herein.
„Schläfst du?“, fragt er.
„Nein.“
„Wie geht es Marc?“
„Er wird's überleben.“
„Es tut mir leid“, sagt er, setzt sich auf den Rand meines Bettes, streicht mit der Hand über die Decke.
„Ich habe Schluss gemacht.“
„Warum?“
„Warum? Du fragst mich, warum?“ Ich richte mich auf und kneife meine Augen zusammen. Jan legt seine Hand auf meine Schulter und ich beruhige mich wieder.
„Das ist gut.“, sagt er.
„Ist es nicht.“
„Er hätte dich verletzt, da kannst du dir sicher sein.“
„Woher willst du das wissen?“
„Schöne Menschen sind so.“ Jan lacht. „Nur du bist anders.“ Er zieht seine Hand zurück und dreht den Kopf weg.
„Ich bin müde, Jan. Lass uns morgen darüber sprechen.“
„Meinst du, ich bin verrückt?“, fragt er.
„Mach dir keine Gedanken.“
„Du hast die Schublade aufgebrochen.“
„Ich habe mir Sorgen gemacht.“
„Die Zeichnungen?“
„Sie sind toll.“
„Es macht dir nichts aus?“
„Wieso sollte es?“
„Minnie Mouse ist das beste Motiv.“
„Ja“, sage ich.
„Du bist wunderschön, Nora.“ Jan beugt sich nach vorne und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Seine Augen sind feucht.
„Geh' jetzt schlafen“, flüstere ich. Jan nickt. Dann steht er auf und geht in sein Zimmer.

 
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Lieber Peeperkorn,
diesmal musste ich mich deinem Text sehr stark auf der rationalen Ebene nähern. Die emotionale Ebene funktionierte bei mir leider nicht so richtig. Woran lag das?

Es ist eine Geschichte, die ich wirklich zweimal lesen musste, um etwas über sie sagen zu können. Beim ersten Lesen hatte ich am Anfang große Probleme, mich auf die Erzählstimme des Mädchens einzulassen. Mir war die Sprache, wie könnte es anders sein, zu einfach, zu oberflächlich. Wie ich überhaupt mit der Personenzeichnung der Minnie Mouse insgesamt nicht immer zurechtkam (dazu später). Sie spiegelt während des gesamten Textes die anderen Personen. Da ist die Mutter, die du mMn sehr gut gezeichnet hast, die so, wie sie nun einmal ist, versucht, mit ihrer Schuld zu leben, verzweifelt ist, weil sie nicht mehr den Zugang zu ihrem Sohn findet, der sie für sein Schicksal verantwortlich macht. Jan, den sein Aussehen zum Sonderling macht, der chaotisch versucht, irgendwie seinen Zorn, seine Wut und sein Anderssein zu bewältigen, am liebsten flüchtet, aber immer wieder zurückkommt, der seine Schwester mehr als üblich liebt. Der Vater bleibt eine Randfigur, hat aber letztendlich doch den Überblick (die Ohrfeige). Marc ist der Gegenentwurf Jans, er sieht gut aus, benimmt sie wie ein ganz normaler Junge. Aber er ist nicht dumm und hat irgendwie erfasst, wie stark Jan an seiner Schwester hängt.

Soll ich vorbeikommen und so tun, als wolle ich bei dir pennen? Dann steht er bestimmt gleich auf der Matte. Zehn Sekunden.“
Wie stark diese Zuneigung ist, drückst du u.a. in den Zeichnungen aus und überlässt es mir als Leser, es zu interpretieren. Wie weit geht diese Geschwisterliebe? Das lässt du in der Schwebe.
Minnie Mouse ist über weite Strecken die naive Beobachterin, die das Verhalten des Bruders beschreibt, aber die Tiefe der Empfindungen Jans nicht erkennt. Als sie das erfasst, wendet sie sich von Marc ab. So interpretiere ich den Schluss. Die Erklärung, dass nur Marcs Beschimpfung dazu geführt hätte, würde mir hier nicht gefallen, empfände ich als zu eindimensional.

Hier nun habe ich ein Problem: M.M. entscheidet sich am Ende gegen Marc für Jan. Was ist da mit ihr passiert? Du verzichtest in deiner Geschichte weitgehend darauf, in die Innenwelt der Personen zu gehen. Das ist natürlich aufgrund der gewählten Perspektive auch nicht möglich; was sie denken und empfinden, ist allenfalls aus den Dialogen zu erfahren. Aber bei M.M wäre es möglich gewesen. Doch auch von ihr erfahre ich nur, was sie sieht und hört, wenig von dem, was in ihr vor sich geht, und vor allem, was ihre Wandlung bewirkt. So ist es zum Schluss eben so, dass ich ihre Entscheidung nicht wirklich nachvollziehen kann. Wenn ich davon ausgehe, dass es nicht nur die Beschimpfung mit ‚Hasenscharte’ ist, so kann ich als Leser nicht nachempfinden, warum sie sich von Marc für immer abwendet, ihn nie wieder küssen will. Da fehlt mir Klarheit in deiner Geschichte. Da fehlt mir auch die Entwicklung dorthin.
Ich weiß nicht, ob es möglich gewesen wäre, die Gefühle und Empfindung M.M.s neben ihrer mehr oder weniger naiven Spiegelung der anderen Personen darzustellen. So muss ich mir als Leser zum Schluss selber eine Lösung suchen, warum sich M.M. so verhält, wie sie sich verhält. Vielleicht war das deine Absicht? Aber so, wie du sie zeichnest, erklärt sich mir der Schluss, dieses sich von dem doch eigentlich nichts falsch machenden Marc abzuwenden, nicht wirklich.

Er ist hier geblieben. Er ist mein Bruder, so fremd, mein Bruder.
An dieser Stelle hätte ich mir mehr Innenschau gewünscht, um ihr Handeln richtig einordnen zu können. Durchaus möglich, dass das aber nur mein Problem ist.

Insgesamt ist das wieder ein Text, der sehr starke Passagen hat und zeigt, wie gut du dir Geschichten überlegst. Da stimmen die Szenen und ihre Einzelheiten. Besonders gut hat mir der Vergleich mit dem Sprung ins Wasser gefallen,

Wenn man vom Fünfmeterbrett springt, also wenn der Kopf ins Wasser taucht, da hat man dieses Sirren im Ohr und die Welt ist weg, als habe man sie verschluckt, oder umgekehrt, und es gibt nur noch einen selbst. Oder wenn jemand ein Glas fallen lässt und es hat noch nicht aufgeschlagen, aber man kann nichts mehr dagegen tun. Alles geht ganz schnell und ich stehe bloß daneben und schaue zu.
aber auch viele andere Szenendetails.

Mit diesem Satz hatte ich allerdings ein Problem:

Das klingt jetzt vielleicht esoterisch, aber ich spüre, dass er für immer weggegangen ist.
Diesen Satz finde ich für eine Vierzehnjährige merkwürdig, inhaltlich halte ich ihn auch nicht für gelungen. Er führt den Leser auf eine falsche Fährte und erweist sich zum Schluss ja auch als unbegründet, da er ja negiert wird. Was ist sein Zweck?

Und ein kleines Komma:

Mutter sagte nichts, aber jedes MalK wenn er zur Toilette musste, grinsten sie ihn aufs Neue an.

Peeperkorn, wie schon gesagt, habe ich mich diesem Text rational nähern müssen. Meine Gefühle hat er, wie es deine letzten Texte immer geschafft haben, leider nicht erreicht. Aber, das liegt wohl eher an meiner Distanz zum Thema. Möglicherweise kam ich auch einfach mit der Wahl der Perspektive nicht zurecht.

Liebe Grüße
barnhelm

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe barnhelm

Danke für diese Rückmeldung. Du legst den Finger auf einen Punkt, bei dem ich mir nicht sicher war, wie wund er ist.
Die Geschichte aus der Perspektive einer Vierzehnjährigen zu beschreiben, war für mich so eine Art Übung in Enthaltsamkeit, vor allem mal in sprachlicher Hinsicht, aber auch bezüglich der von dir angesprochenen Naivität der Erzählerin. Ich fand es aber auch reizvoll, gerade mit diesen eingeschränkten Mitteln zu zeigen, wie es in dieser Familie aussieht. Zumindest das scheint in deinen Augen recht gut gelungen zu sein. Aber die Erzählerin:

Aber bei M.M wäre es möglich gewesen. Doch auch von ihr erfahre ich nur, was sie sieht und hört, wenig von dem, was in ihr vor sich geht, und vor allem, was ihre Wandlung bewirkt. So ist es zum Schluss eben so, dass ich ihre Entscheidung nicht wirklich nachvollziehen kann. [...] Da fehlt mir Klarheit in deiner Geschichte. Da fehlt mir auch die Entwicklung dorthin.

Einerseits wollte ich das offen halten, so dass allgemeine Loyalität, Bewunderung, Abhängigkeit und eben schon auch die Beleidigung ("Hasenscharte") als Erklärungen im Raum stehen. Andererseits dachte ich, die Naivität der Erzählerin müsse auch die Ebene ihrer Selbstreflexion betreffen. Und dann habe ich einfach gehofft, dass das so funktioniert. Aber ich denke, du hast recht mit deiner Aussage, dass hier mehr nötig und möglich wäre. Ich werde noch etwas abwarten, wie das bei anderen ankommt, dann aber auf alle Fälle den Schluss noch mal genau unter die Lupe nehmen und schauen, ob ich erklärungstechnisch nachliefere. Höchst wahrscheinlich schon, deine Begründung, weshalb du Noras Entscheidung nicht nachvollziehen konntest, finde ich nämlich überzeugend.

Die Klammer (spüre, dass er für immer weggegangen ist - er ist doch hier geblieben) lasse ich vorläufig stehen. Ich wollte eigentlich zeigen, dass Jan für Nora tatsächlich ein Stück weit weggegangen ist, in emotionaler Hinsicht. Daher das "Mein Bruder, so fern." Aber das müsste ich wohl noch besser ausarbeiten - auch hier wird es mehr Innenschau geben müssen.

[EDIT: Ich habe das Ende (ab Krankenhaus) mit einigen Reflexionen angereichert, die Sache erhält nun eine stärkere Ambivalenz, d.h. Nora fühlt sich auch ihrem Bruder ferner als vorher. Vielleicht schaffe ich mir damit neue Probleme, mal sehen. :) Das "spüre, dass er für immer weggegangen ist" habe ich gestrichen, hast mich überzeugt.]

Ich danke dir sehr für diese Rückmeldung, ich denke, die wird sehr sehr hilfreich sein, um den Text besser zu machen.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo Peeperkorn,

Antwort auf das Edit:

Klar, er ist noch da und ich werde alles tun, damit es ihm gut geht.
So kommt es auf jeden Fall weniger verkürzt rüber und das Verhalten Noras wird für mich etwas besser nachvollziehbar. Mir gefällt besonders die Zerrissenheit (Ambivalenz) Noras, die mMn vorher so nicht zu erkennen war.

Auch ich bin gespannt auf weitere Reaktionen. Aber wir haben Osterzeit. Da sind wohl einige schon im Festtags-Modus.

Peeperkorn, ich wünsche dir ein schönes Oster-Wochenende.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Liebe barnhelm

Oh, merci, dass du dir das noch mal angeschaut hast.

Mir gefällt besonders die Zerrissenheit (Ambivalenz) Noras, die mMn vorher so nicht zu erkennen war.

Sehr gut, das freut mich. Das ist schon mal was.

Da sind wohl einige schon im Festtags-Modus.

Ja, da bin ich geduldig. :) Ist ja auch ein ziemlich langer Text.

Auch dir ein schönes Osterfest, liebe barnhelm.

Gruss
Peeperkorn

 

Lieber Peeperkorn,

nun also eine weitere Geschichte über Jugendliche und über Geschwister. Diesmal aus der Perspektive einer Vierzehnjährigen. Das ist mutig, denn die sind oft schon halbe Frauen. Nora ist das nicht, sie kommt mir eher wie eine Zwölfjährige vor, sehr naiv, in ihren Entscheidungen eher kindlich, so auf der Ebene "Fünf Freunde..." Du weißt schon, was ich meine. Da steht sie ganz am Anfang, die Gefühlswelt von pubertierenden Jungen richtig einzuordnen. Jan ist da deutlich weiter. Er sieht die Konkurrenz in Marc, und zwar um so schmerzhafter, weil er ja weiß (oder zu wissen glaubt), dass er niemals mithalten kann. Also will er wenigstens seine Schwester behalten. Ich glaube nicht, dass es für die Geschichte notwendig wäre, ein inzestuöses Element einzubauen, obwohl die Pubertät schon eine Entwicklungsphase ist, in der vieles in der Schwebe ist. Vielleicht müsste Noras Weg aus der Kindlichkeit noch deutlicher werden, da gebe ich barnhelm recht. Dass sie - anders als ihre Altersgenossen - "mir ist das zuviel, das muss noch warten", für sich richtig findet, lässt mich vermuten, sie ist eher retardiert als oberflächlich. Und nun muss sie eine Entscheidung zwischen Bruder und Freund treffen, da geht sie - so habe ich es verstanden - erst mal auf Distanz zu beiden. Sie ist halt noch keine "Julia".

Wie bisher bist du nahe an den Jugendlichen dran und auch an deren Sprache, falls ich mich richtig erinnere.
Vielleicht etwas Kürzungspotential bei den Szenen mit den Engeln und Gehängten.

Wie immer lese ich deine Texte sehr gerne.

Schöne Oster-und Frühlingstage wünscht
wieselmaus

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe wieselmaus

Dein Kommentar freut mich, danke, dass du dir Zeit für den langen Text genommen hast.

Nora ist das nicht, sie kommt mir eher wie eine Zwölfjährige vor, sehr naiv, in ihren Entscheidungen eher kindlich, so auf der Ebene "Fünf Freunde..." [...] Dass sie - anders als ihre Altersgenossen - "mir ist das zuviel, das muss noch warten", für sich richtig findet, lässt mich vermuten, sie ist eher retardiert als oberflächlich.

Ich finde es spannend, dass du Nora derart kindlich wahrnimmst. Soo naiv ist sie in meinen Augen gar nicht. Und bei der von dir zitierten Stelle wollte ich eigentlich sogar das Gegenteil andeuten: Sie lässt sich nicht von den anderen dazu bringen, Dinge zu tun, für die sie noch nicht bereit ist, da tritt sie doch eigentlich selbstbestimmt auf, dachte ich. Mir scheint es auf jeden Fall nicht notwendig ein Zeichen von Reife zu sein, wenn man mit vierzehn Sex hat. Aber ich will daraus keinen Disput machen, ich fand's nur spannend, wie die Erzählerin bei dir und barnhelm viel kindlicher ankommt, als ich sie aus meinem Kopf habe gehen lassen.

Deine Bemerkung zur Entwicklung von Nora ist notiert. Da werde ich mich noch mal dransetzen.

Die gehenkten Kinder und die Engel müssen fast bleiben. Ich habe mit dem Text noch was vor und da gibt's thematische Vorgaben, zu denen die beiden Elemente gut passen. Wobei. Vielleicht schreibe ich einfach einen neuen Text und hoffe, er sei besser. :)

Liebe Grüsse
Peeperkorn

 

Hallo Peeperkorn,

wie kannst du annehmen, dein Text sei nicht gut:confused: Es geht mir eher darum, darzustellen, dass Nora kindlich klug ist, weil sie weiß, was für sie gut ist und was nicht. Und weil sie offensichtlich noch nicht angesteckt ist von dem heute üblichen Wettbewerb zwischen zickigen Teenagern. Kindliche Klugheit, mit zumeist klarem Blick auf die Lebensumstände, ist was Wunderbares und bei Pippi, Emil, Pünktchen und Anton u.v.m. unvergleichlich gestaltet. So eine könnte deine Nora sein. Lass sie bloß nicht "erwachsener" werden.
Zu den von mir angedeuteten Kürzungsvorschlägen: Ich weiß natürlich, dass du solche Passagen nicht ohne Absicht einbaust. Das wird sich ja dann noch erschließen und macht Hoffnung auf Fortsetzungen.

Liebe Grüße
wieselmaus

 

Hej Peeperkorn,

Mir geht es ähnlich wie barnhelm, ich habe Schwierigkeiten mit der Erzählstimme. Ich fühle mich dabei an ein Referat vor versammelter Klasse erinnert, weil ich es nicht schaffe, in die Erzählung einzutauchen, obwohl ich mit einer Fülle von Informationen versorgt werde. Die Details und Rückblenden machen auf mich dann keinen belebenden, sondern eher einen etwas wahllosen Eindruck.
Ich nehme an, Du hast keine große Lust, die Geschichte in einer anderen Perspektive neu zu schreiben :Pfeif: sonst würde ich Dir hier und jetzt dazu raten.

Ich habe auch ein Problem mit dem Konzept der Geschichte. Für mich funktioniert der ganze Gaumenspaltenaufhänger nur, weil die Protagonisten eine gute Portion Passivität und eine Opferhaltung mitbringen, die ich bei Figuren einer Geschichte grundsätzlich für ungünstig halte, es sei denn man möchte Passivität und Opferhaltung an sich thematisieren.
War das eine Deiner Intentionen?

Ich sehe halt nicht, inwiefern Jans Leben durch seine Gaumenspalte negativ beeinflusst wird und auch die vermeintliche Schuld der Mutter und der daraus resultierende Konflikt wirkt auf mich an den Haaren herbeigezogen, weil Rauchen in der Schangerschaft zwar zu allen möglichen Fehlbildungen führen kann, aber nicht zwangsweise führt und auch nichtrauchende Mütter Kinder mit Gaumenspalte gebären.

Mein Eindruck ist, dass die Geschichte keine großartig andere wäre, wenn Jan eine ganz normal gewachsene Oberlippe, aber genau denselben Charakter hätte. Er könnte dann immer noch die Bilder von gehängten Kinder an seine Zimmerwände hängen und ausrasten, weil seine Schwester mit einem Jungen zusammen ist, den er verabscheut. Er könnte immer noch einen Konflikt mit seiner Mutter haben, die ja auch dann noch schuld wäre, ihn geboren zu haben usw.

Gruß
Ane

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe wieselmaus

Hab' ich mich unklar ausgedrückt. Mir gefällt er natürlich schon, der Text. Aber bis ich den abgeben muss, dauert es noch eine ganze Weile und da habe ich mir gedacht, ich könnte noch einen zweiten schreiben und dann entscheiden, welchen ich einreiche. Und besser geht immer. :)

Aber ja, ich geb's zu, da hat schon auch ein wenig mein treuer Begleiter namens Selbstzweifel, der in meinem Kopf ein nettes Appartement gleich neben meinem treuen Begleiters namens Selbstüberschätzung bewohnt, aus mir gesprochen.

Danke auch für deine Präzisierungen zur kindlichen Klugheit. Ja, genau, zu Beginn soll sie auf keinen Fall erwachsener sein. Aber dieser Übergang, dieser Schritt zum Erwachsenwerden, den Nora in dieser Nacht eben doch macht: Das zu zeigen, ist die Schwierigkeit, die ich in diesem Text wohl noch nicht ganz gemeistert habe.

Ganz liebe Grüsse
Peeperkorn


Hey Ane

Schön, dass du reingeschaut hast, auch wenn es ein ziemlicher Verriss geworden ist.

Ich nehme an, Du hast keine große Lust, die Geschichte in einer anderen Perspektive neu zu schreiben

Nachdem ich den Rest deiner Kritik gelesen habe: Nein, eher nicht. Aber ich lass das mal sacken und wer weiss …

Die Details und Rückblenden machen auf mich dann keinen belebenden, sondern eher einen etwas wahllosen Eindruck.

Gut, muss ich akzeptieren. Aber ich kann zumindest mein Wahlkriterium nennen, es geht nämlich immer nur um die Entstellung von Jan und deren Auswirkung auf seine Psyche: Die Gaumenspalte, die Engel, die seine Mutter hinstellt, „damit sie mich nicht anschauen muss“, und die er dann vergräbt, die gehenkten Kinder als hässliches Gegenprogramm zum Kitsch, der sonst in der Wohnung rumsteht, die Eifersucht gegenüber dem schönen Marc, die Zeichnungen und Minnie als das einzig Schöne, das von Jan hervorgebracht wird, beziehungsweise zu ihm gehört. Ich hatte da einen ziemlich klaren Plan, schade, dass das nicht so rübergekommen ist.

Für mich funktioniert der ganze Gaumenspaltenaufhänger nur, weil die Protagonisten eine gute Portion Passivität und eine Opferhaltung mitbringen

Kommt drauf an, was man unter Aktivität versteht. Seine Eltern killen? Also ich finde Jan ziemlich aktiv bis aggressiv, es fängt klein an mit den vergrabenen Engeln, dann die gehenkten Kinder, die geklauten Mofas, die Aktion mit den Ballons und am Ende ein Messerattacke auf den Freund seiner Schwester. Klar, Jan sieht sich als Opfer. Aber geht das nicht, eine Geschichte, in der sich eine Figur als Opfer betrachtet, und einen Ausweg versucht, der halt nicht direkte Konfrontation beinhaltet? Ich bin etwas ratlos.

und auch die vermeintliche Schuld der Mutter und der daraus resultierende Konflikt wirkt auf mich an den Haaren herbeigezogen, weil Rauchen in der Schwangerschaft zwar zu allen möglichen Fehlbildungen führen kann, aber nicht zwangsweise führt und auch nichtrauchende Mütter Kinder mit Gaumenspalte gebären.

Ich dachte, es reicht, wenn eine Figur etwas glaubt, um daraus ein Motiv für sein Handeln zu generieren. (Ich habe sogar angedeutet, dass der Zusammenhang nicht klar ist) Oder müssen alle Motive von Figuren in literarischen Texten wissenschaftlich haltbar sein? Keine Figur darf sich eine falsche Vorstellung von etwas machen? Ich bin etwas raltos.

Mein Eindruck ist, dass die Geschichte keine großartig andere wäre, wenn Jan eine ganz normal gewachsene Oberlippe, aber genau denselben Charakter hätte.

Meine Prämisse für diese Geschichte war, dass er diesen Charakter hat, weil er diese Oberlippe hat. „Es ist halt hässlich in mir“, sagt Jan und man sollte ergänzen: „weil ich mich äusserlich hässlich fühle.“ Da gehen meine Intention und deine Lektüre wirklich fundamental aneinander vorbei.

Tja, das ist ernüchternd. Aber ich danke dir sehr für diese ehrliche Rückmeldung.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Doch, ich finde, es ist vollkommen in Ordnung, wenn eine Figur sich als Opfer betrachtet und dementsprechend agiert, ich find das sogar sehr spannend. Aber wenn eine Figur sich aufgrund einer Äußerlichkeit als Opfer betrachtet und ich vor allem diese Äußerlichkeit vor die Nase gesetzt bekomme, steht das Opfer-sein nicht im Vordergrund, sondern das vermeintliche Hässlich sein.
Ist es nicht ein Unterschied, ob ich sage: "Ich bin (in mir selbst) ein zutiefst hässlicher Mensch" oder ob ich sage "Ich finde mich äußerlich nicht schön." ?

Natürlich kann eine Figur falschen Vorstellungen haben. Alle guten Figuren haben falsche Vorstellungen und machen Fehler, sonst wären sie langweilig. Aber die Fehler sollten schon irgendwie begründet und nachvollziehbar sein. Wenn ich erzähle, dass ein Sohn seine Mutter schlägt, weil er findet, sie wäre schuld an einem hässlichen Muttermal dann wirkt das absurd. Mir würde es jedenfalls sehr schwer fallen, das zu begründen.
Leichter wäre es dagegen zu zeigen, dass die Mutter ihren Sohn aus irgendwelchen Gründen schon immer verabscheut hat ( falls die Engel so etwas symbolisieren sollten, ist das an mir vorbei gegangen) und so eine ganz verkorkste Mutter-Sohn Beziehung entstanden ist, die der Sohn nie überblicken konnte und die er bewältigt, in dem er sich nun ebenfalls hasst und der Mutter gleichzeitig irrationale Vorwürfe macht.

Tut mir leid, meine Kommentare haben häufig einen ernüchternden Effekt. Ich höre sofort auf, Dir welche zu schreiben, wenn es Dir Zuviel wird.

 

Hallo Peeperkorn,

als ich die Geschichte fertig gelesen hatte - so lange Geschichten lese ich eigentlich nur im Bett, aber das geht hier nicht - bewegte mich eine Frage: Wie alt und in welcher Entwicklungsphase ist die Nora. Da schienen mir Diskrepanzen im Text aufzutreten, wobei ich das nicht an einzelnen Sätzen festzurren kann. Die Geschichte wird ja von Nora erzählt und manches Mal hatte ich den Eindruck, ihr Alter und ihre Einsicht in den Lauf der Welt wechseln immer mal. Vielleicht hängt das mit den Rückblenden zusammen. Ich kann mir bei Jan angesichts seiner Behinderung und seines Verhältnisses zu den Eltern ein Setting vorstellen und würde eine eingehende Therapie vorschlagen, bevor er ganz aus der Spur kommt. Aber bei Nora? Da fehlt mir zu vieles, was in dieser Geschichte wahrscheinlich auch keinen Platz hätte. Warum ist sie eine "Spätentwicklerin", d.h. welchen Einfluss haben die Eltern und besonders ihr Bruder. Ist ihre Freundschaft zu Marc ein Versuch, eine kleine heile Welt zu schaffen? Erkennt sie am Ende, dass das nur eine Illusion war? Auf jeden Fall ist Deine Geschichte geeignet, Fragen aufzuwerfen und zum Nachdenken anzuregen.

Liebe Grüße

Jobär

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Ane

Merci, dass du noch mal geschrieben hast, das hat für mich noch mal was Wichtiges geklärt.

Doch, ich finde, es ist vollkommen in Ordnung, wenn eine Figur sich als Opfer betrachtet und dementsprechend agiert, ich find das sogar sehr spannend. Aber wenn eine Figur sich aufgrund einer Äußerlichkeit als Opfer betrachtet und ich vor allem diese Äußerlichkeit vor die Nase gesetzt bekomme, steht das Opfer-sein nicht im Vordergrund, sondern das vermeintliche Hässlich sein.

Okay, ich sehe jetzt deinen Punkt. Da müsste man die Sache tatsächlich aus der Perspektive von Jan erzählen, um das besser hinzukriegen, aber das schien mir von vornherein nicht bewältigbar (also für mich, ich wusste nicht, wie ich das schreiben sollte, ohne dass Jan und der gesamte Text weinerlich klingt) und deshalb habe ich das aus der Sicht der Schwester erzählt. Ich kann dein Bedenken jetzt gut nachvollziehen. Mal schauen, was ich daraus mache.

Aber die Fehler sollten schon irgendwie begründet und nachvollziehbar sein. Wenn ich erzähle, dass ein Sohn seine Mutter schlägt, weil er findet, sie wäre schuld an einem hässlichen Muttermal dann wirkt das absurd. Mir würde es jedenfalls sehr schwer fallen, das zu begründen.

Okay. Aber es geht ja nicht um ein Muttermal. Und der Zusammenhang wird ja tatsächlich vermutet. Also wenn ich eine massive Beinträchtigung x hätte und ich wüsste, dass meine Mutter während der Schwangerschaft geraucht hat und ich wüsste, dass es einen statistischen Zusammenhang zwischen dem Rauchen und x gibt, na Freude hätte ich zumindest nicht, auch wenn der klare Beweis vielleicht fehlt.

Leichter wäre es dagegen zu zeigen, dass die Mutter ihren Sohn aus irgendwelchen Gründen schon immer verabscheut hat ( falls die Engel so etwas symbolisieren sollten, ist das an mir vorbei gegangen) und so eine ganz verkorkste Mutter-Sohn Beziehung entstanden ist, die der Sohn nie überblicken konnte und die er bewältigt, in dem er sich nun ebenfalls hasst und der Mutter gleichzeitig irrationale Vorwürfe macht.

Ja, das gibt mir einen guten Hinweis, noch was in der Richtung zu verdeutlichen.

Tut mir leid, meine Kommentare haben häufig einen ernüchternden Effekt. Ich höre sofort auf, Dir welche zu schreiben, wenn es Dir Zuviel wird.

Ne, alles gut. Ich erinnere mich noch sehr gut, wieviel ich aus deiner letzten Kritik mitnehmen konnte, die ebenfalls klar aufzeigte, woran's gefehlt hat. Ist wirklich sehr hilfreich, auch jetzt. Wenn man ausgenockt am Boden liegt, dann stöhnt man halt manchmal ein bisschen, bevor man wieder aufsteht. :)

Lieber Gruss
Peeperkorn

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber jobär

Besten Dank für deine Rückmeldung und Überlegungen. Ja, die Kinder (und auch die Eltern) werden im Normalfall psychologisch begleitet, damit solche Dinge, die ich in der Geschichte thematisiere, nicht geschehen. Die Unklarheit bzgl. der Erzählerin, von der du berichtest, ist für mich eine weiterer Grund, das Ganze nochmal grundsätzlich zu überdenken. Indem ich die Schwester erzählen lasse, bleibt die eigentliche Figur, Jan, zu wenig greifbar und die Schwester grad auch noch dazu.

Lieber Gruss
Peeperkorn

@alle: Das heisst, ich werde wohl versuchen, Anes Vorschlag, die ganze Sache aus einer anderen Perspektive zu erzählen, umzusetzen, was sicher ein paar Wochen dauern wird.

 

Hallo Peeperkorn,

ich möchte Dir noch einen anderen Vorschlag unterbreiten. Zunächst: Du gehst ja ausführlich auf die medizinische - operative - Behandlung der Fehlbildung ein. Es ist aber bei diesen Fehlbldungen Standard, dass auch eine psychologische Betreuung stattfindet. Da steht nun Deine Geschichte ein wenig auf der Kippe. Ich würde diesen ganzen Teil der Behandlung und Betreuung mehr in den Hintergrund stellen und die Geschichte aus zwei Perspektiven erzählen, d.h. neben den vorhandenen Erzählstrang einen zweiten setzen: Ich könnte ich mir vorstellen, dass Jans Schwester in seinem Zimmer einige (herausgerissene) Tagebuchseiten findet und dadurch einen neuen Blick auf ihre Geschichte mit ihrem Bruder gewinnt ...

Liebe Grüße

Jobär

 

Lieber jobär

Ja, das könnte eine Möglichkeit sein. Das lasse ich mir durch den Kopf gehen. Danke. Ich steh grad wie der Esel am Berg, aber ist ja auch spannend.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Servus Peeperkorn,

finde ich eine sehr gute Geschichte. Da steckt eine Menge drin, und du nimmst dir auch Zeit, die einzelnen Figuren vorzustellen und die ganze Vorgeschichte aufzurollen und die einzelnen Beziehungen und Konflikte zwischen den Figuren szenisch zu erzählen. Also von diesem Aspekt her fand ich das wirklich gekonnt, auch der Spannungsaufbau, wie sich dann alles zusammenzieht und letztendlich im Höhepunkt gipfelt, das hat sich organisch und echt angefühlt, da hab ich nichts auszusetzen.

Zwei Kleinigkeiten sind mir aufgefallen:

1.

Jan ist nicht gerade ein Fan von Marc. Als er uns das erste Mal zusammen gesehen hat, ist er fast ausgerastet. Das war vor zwei Monaten. Wir standen vor dem Schulhaus, Marc hatte den Arm um meine Schultern gelegt, so ganz normal, und Jan kam von hinten angerannt und zerrte mich von ihm weg.
„Fass sie nicht an!“, sagte er und ich musste ihm erklären, dass das schon okay sei. Das war ziemlich peinlich, aber ich war auch ein bisschen selbst daran schuld. Ich hätte Jan sagen sollen, dass ich einen Freund habe.
Ich weiß nicht ... klar, Teenager sind oft auf irgendeine Art nicht die Hellsten, aber an mancher Stelle (und besonders an dieser) kam mir Jan irgendwie geistig behindert vor. Ich meine das nicht abwertend, ich meine wirklich geistig behindert.
Ich kann mir Jan schon gut vorstellen, ich kenne auch solche Typen, die so viel aufgestaut haben und so oft verarscht wurden, dass sie bei einer Kleinigkeit schon total austicken und draufhauen können. Aber das hier war mir ein bisschen too much. Ich glaube einfach nicht, dass Jan jemand ist, der, wenn er sieht, dass jemand den Arm um seine Schwester gelegt hat, dass er denjenigen sofort anfuckt und hinfasst. Ich finde, Jan ist jemand, der zuschlägt oder hinfasst, sobald ihm irgendeine Art von Aggression gegenübergebracht wird. Aber diese Aggression fehlt mir hier - und ich glaube wie schon gesagt nicht, dass er jemand ist, der als erster "hinlangt". Ich weiß schon, wie du Jan zeichnen willst, aber das ist mir so ein kleines bisschen überzeichnet.
Vorschlag: Ich würde Jan die beiden sehen lassen, in der Schule, und Marc mit dem Arm um die Schwester, und Jan sieht das und ist total geschockt und wird kreidebleich, und als die Schwester etwas zu ihm sagen will (sowas wie: Er ist mein Freund), haut er einfach ab. Und später, Zuhause, schreit er sie dann an, was das soll, und dass der Typ doch ein Wichser ist.

2. Dass Jan findet, dass Marc ein Idiot und Frauenabschlepper und schlecht für die Schwester ist, das kam mir zu spät. Das hätte eigentlich schon in der Situation kommen müssen, in der das erste Mal erwähnt wird, das Jan Marc hasst. Also so vom Gefühl her - da hätte der Erzählerin eigentlich durch den Kopf gehen müssen: Er hasst Marc, weil er denkt, er spielt bloß mit mir etc.


3. Ich finde, die Erzählstimme ist nicht konsequent.
Also ich habe das Gefühl, dass du so eine gute, angenehme und auch authentische Erzählstimme für die Ich-Erzählerin hast, und die hältst du auch 90% der Zeit durch - aber ab und zu brichst du damit, und ich hatte das Gefühl, dass du dann denkst: Oh Gott! Das ist ne 14jährige! Ich muss die jetzt mal klingen lassen, wie eine 14 Jährige! Und dann kommen kurze Absätze wie:


Hab' ich schon gesagt, wie gut Marc aussieht? Voll die geschwungenen Lippen und so.
„Echt jetzt?“, rufe ich dazwischen. „Macht ihr auf Kino, oder was?“

Aber eigentlich klingt deine Erzählerin die ganze Zeit über so:

Ich habe Pulli und Jacke wieder angezogen, Marc musste kotzen, so weh tut es ihm. Jetzt steht er da, im Licht der Laterne, und hält seinen Arm in die Höhe, wie ein Streber in der Schule. Gleich verfärbt sich mein Pyjama rot, denke ich, aber er bleibt weiß. Jan hat sich hingesetzt, er starrt auf den Boden und atmet ganz schnell, ich glaube, ihm ist ebenfalls schlecht. Keine Zeit, mich um ihn zu kümmern. Ich greife mir das Rad. Diesmal setzt sich Marc auf den Gepäckträger und ich fahre.

Weißt du, was ich meine? Erkennst du den Unterschied?
Klar, viele 14jährige reden wie Zitat 1+2 hier. Aber das ist nicht deine Ich-Erzählerin - jedenfalls nicht so, wie ich sie fast den kompletten übrigen Text höre. Also ich würde mir überlegen, ob ich das nicht angleich würde. Und ich bin auch der Meinung, du brauchst keine Angst davor zu haben, dass wenn du deine Erzählerin in den "Slang"-Absätzen (v.a. in Dialogen kommt sie mir so anders vor?), also wenn du sie in diesen Absätzen auch "normal" reden bzw. erzählen lassen würdest, ich würde mir da keine Gedanken machen, dass sie sich dann plötzlich nicht mehr wie ein Teenager anhört oder das Ganze unauthentisch wirkt.
Wie gesagt, es gibt 14jährige, die so reden, wie Zitat 1+2, aber das ist nicht deine Ich-Erzählerin. Es gibt auch eine Menge Teenager, die so reden und erzählen wie du es in den übrigen 90% deines Textes tust, und so wirkt die Inkonsequenz deiner Erzählstimme eher gewollt und nach Autor, als dass ich da einen Gewinn sehen würde.


Sind nur kleine Kritikpunkte, auch wenn das jetzt den Großteil meines Kommentars ausgemacht hat! Das ist meckern auf hohem Niveau, du hast was drauf, v.a. diese Jugend-Geschwister-Storys scheinen es dir im Moment angetan zu haben, aber ich finde das vollkommen okay, ich hab das wirklich sehr gerne gelesen, ist 'ne Menge drin, auch sehr viele Details über Figuren und Beobachtungen, und das finde ich schon sehr stark. Also ich mag das Teil wirklich.


Viele Grüße,
zigga

 

Hey zigga

Danke für deinen Kommentar, der mir einige Aha-Erlebnisse bereitet hat.
Zunächst die übertrieben aggressive Aktion von Jan. Ich gebe dir recht, ich habe an dieser Stelle schlicht zuwenig nachgedacht. Ich werde das in Richtung deiner Anregungen abändern.
Dann das Timing bezüglich der Info, dass Marc als Frauenheld betrachtet wird. Auch das hat mich überzeugt, werde ich ändern.
Und der spannendste Punkt: die Erzählstimme. Du hast mit deiner Vermutung voll ins Schwarze getroffen. Tatsächlich hatte ich beim Schreiben nur immer vor Augen, den einen Fehler zu vermeiden, Nora zu alt, zu klug wirken zu lassen, Wörter zu verwenden, die sie nicht kennt usw. Dass man sie aber auch zu unklug, zu salopp usw. sprechen lassen könnte, das ist mir zu wenig klar gewesen. Natürlich habe ich diverse "ich meine", "also", "total" usw. rausgestrichen, aber mehr so aus kosmetischen Überlegungen. Ich finde, du hast gute Beispiele rausgepickt, die zeigen, dass die Stimme noch vereinheitlicht werden muss.

Dazu habe ich zur Zeit drei Möglichkeiten im Kopf: a) die gesamte Geschichte aus der Sicht von Jan erzählen zu lassen. Das habe ich etwas angedacht, zwei Abschnitte geschrieben, aber das passt wohl doch nicht. Vieles, was ich erzählen wollte, müsste wegfallen, die Geschichte würde m.E. platter, eindimensionaler.
b) die gesamte Geschichte aus der Sicht der erwachsenen Nora erzählen (ähnlich wie beim Sauhund). Das scheint mir zur Zeit ein gangbarer Weg. Das sprachliche Niveau liesse sich anheben, die Stimme einheitlicher gestalten, mehr Refleixon, Kommentar, Einordnung wäre möglich (natürlich sparsam dosiert), um das Leiden Jans aber auch das Leiden Noras spürbarer zu machen. Ich denke, das ist eine Hauptschwierigkeit, dass Nora zu wenig mitkriegt, um die ganze Dimension von Jans Situation zu erfassen. Weil sie damit auch die Emotionen des Lesers nicht rühren kann. Vielleicht klappt das mit der erwachsenen Nora besser, obwohl sie zeitlich weiter weg ist. Mal schauen.
c) Ich lasse die Perspektive so, wie sie ist, ergänze auf Anregung jobärs vielleicht noch mit schriftlichen Zeugnissen von Jan und werde den Text vor dem Hintergrund deiner Beispiele auf Diskrepanzen in der Erzählstimme durchforsten. Das werde ich tun, falls Plan b) scheitert.

Ich weiss nicht, wie es anderen geht, aber für mich stehen eine 2000-Wörter und eine 6000-Wörter-Geschichte nicht wirklich im Verhältnis von 1 zu 3, was kognitive Durchdringung, narrative Gestaltung und damit auch den Arbeitsaufwand betrifft. Die Versuchung ist da, das Ding hier liegen zu lassen und wieder einen kürzeren Text zu schreiben - weniger Aufwand, weniger Möglichkeiten, Fehler zu machen, deutlich grössere Wahrscheinlichkeit, eine saubere und runde Geschichte abzuliefern. Deine lobenden Bemerkungen zu Aspektfülle und Spannungsaufbau helfen mir aber, dieser Versuchung zu widerstehen und an diesem Text dran zu bleiben, in der Hoffnung, dass es sich lohnt. Danke für die Lektüre und die sehr hilfreichen Anmerkungen.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Peeperkorn,

habe ich sehr gern gelesen. Ich war vom ersten Satz an gefesselt und habe Nora sehr gern begleitet. Ich finde die Diskussion, ob das Alter richtig dargestellt wurde, immer ein wenig schwierig. Es gibt keine Richtwerte, wie man in welchem Alter ist. Und Nora finde ich sehr rund und glaubwürdig.
Die Personen und Konflikte sind insgesamt ein wenig krass und ich hätte es interessant gefunden, mehr über Jan zu erfahren und warum er so wütend ist. Das Ende kommt mir etwas falsch vor. Die Attacke auf Marc war 'nur' ein weiterer Ausraster, wenn auch offensichtlich einer, der für Nora einiges ändert. An Jans Situation ändert sich aber nichts. Es ist für mich ein wenig schwierig, die Geschichte so zu verlassen. Ohne dass Jan endgültig in die eine oder andere Richtung gekippt ist.
Ich habs, wie gesagt, sehr gern gelesen.

Liebe Grüße
Zantje

 

Manchmal hab' ich das Gefühl, er will, dass ich schlecht über ihn denke, und wenn er so weiter macht, dann wird er das auch hinkriegen.

Für mich ist das der Kern der Geschichte. Das Verhältnis zwischen ihr und dem Bruder, welches von seiner Dominanz bestimmt wird, oder besser korrumpiert wird. Er ist aktiv, sie ist passiv.

Ist schon viel gesagt worden über die Erzählstimme. Ich finde auch, die ist hier nicht deine beste, aus den gegebenen Gründen, die wirkt aufgesetzt. Ist auch schwer, so eine junge Erzählerin, auch noch ein Mädchen. Also, deine Idee das aus der Retrospektive zu erzählen, ist eigentlich die denkbar klügste, weil du dann das Ding sprachlich auf einem anderen Niveau hast. Viel schwieriger finde ich allerdings, dass diese Erzählerin hier sehr wenig drive entwickelt. Das ist so ein seltsamer Rhythmus, ich meine, nicht sprunghaft, sondern sie muss dem Leser alles erklären, sie reflektiert sehr viel, aber zeitgleich passiert auch eine Menge, und das wirkt dann halt nacherzählt. Du beraubst dich hier auch einer deiner Stärken, nämlich der verknappten Szenerie mit wenigen Details und guten Dialogen. Das fehlt mir hier völlig, weil diese eingeschobenen inneren Monologe, die eigentlich tolle Szenen beinhalten, aber eben nur als kurze Andeutung. Beispiel: Die Szene mit dem Messer. Stell dir vor, du schreibst eine Szene, wie er nachts mit dem Messer in ihr Zimmer kommt, um es ihr zu zeigen, und sie so: WTF? Die Dramatik, also das dramatische Potential, was da drin steckt, das ist ungemein, und du entpackst es eben nicht. Ich denke, du wolltest hier einen flüssiges Erzählstück haben, weil es eben auch länger ist, aber wenn du da nochmal rangehst, wirst du es nochmals entschieden länger machen müssen, mehr Raum wird diesem Text gut tun. Das vor allem. Auch die erste Szene mit den Gräbern, auf dem Friedhof, da würde ich sie dabei sein lassen, er tut es ja auch für sie, so bestärkst du eine Verbindung, die ja sehr tief ist, aber diese Tiefe sieht und spürt man nie, die ist einfach gesetzt.

Mir fehlt auch der Konflikt. Warum passiert das alles nicht vorher? Warum ist Jan jetzt unter Zugzwang? Da hat Ane schon auch Recht, in ihrem Kommentar hat sie das gut ausgeführt, diese Belastung die er als Spaltkind hat, die kommt nicht so rüber, die wirkt in der Geschichte, in den Figuren nicht nach. Für mich spielt da eher eine erotische Komponente eine Rolle: Jan ist eifersüchtig auf Marc, das ist so eine Art Übertragungsleistung, eine Projektion, das glückliche, junge Paar, und er ist eben alleine, weil er ein Spaltkind ist. Aber diese Abweisung kann nicht deutlich werden, weil du sie nie zeigst, die ist dem Text immanent, darauf müssen wir uns als Leser einfach verlassen bzw wir bekommen es aus zweiter Hand erzählt. Das müsstest du einfach mehr einbinden.

Dann das Ende. Mir ist das zu versöhnlich. Es gibt keine Karthasis, sie bleibt passiv, sie "gehört" ja weiterhin ihrem Bruder. Warum handelt sie so? Aus Mitleid? Wie lange will sie so handeln? Bis er erwachsen ist und diese OP bekommt? Sie denkt sonst so viel nach. Der zeitliche Rahmen, der spielt eine wichtige Rolle hier. Wenn du die Erzählperspektive änderst, könntest du sagen: Das alles hatte irgendwann ein Ende, Jan kann nun alleine gehen. So wirkt das einfach wie Geschichte mit einem offenen Ende, wo man aber das Gefühl hat, niemand habe sich entwickelt, was ja nicht sein muss, ich weiß, aber die Figuren verrennen sich in einem Konflikt, der dann nie richtig ausbricht. Dafür ist die Erzählerin einfach zu passiv, das stört mich richtig beim Lesen. Da habe ich gedacht: Ich würde anders handeln, also überhaupt handeln, denn sie hört ja eigentlich nur auf ihren Bruder, bzw handelt nach seinen Maximen. Warum tut sie das? Er könnte vielleicht etwas gegen sie in der Hand haben, siehe erotische Komponente, oder sie haben mal rumgemacht und das ist ein Druckmittel, weil es sie diskreditieren würde, da sie ja ansonsten eher schicklich und bewusst keine Schlampe zu sein scheint und darauf achtet. Weißt du, was ich meine?

Also, die Anlagen sind alle da, der Text ist auch so schon gut, ich habe den gerne gelesen, der Rest ist alles Feintuning.

Gruss, Jimmy

 

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