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Sonntag... sonntags
Eine inzwischen vertraute Situation spielte sich im Verkaufsraum ab.
"Warum hast du dem Kunden eben nichts verkauft?", kam die nörglige Frage Reiners, als ein Kunde ohne Tüte den Laden verließ. Sonja hatte sich gerade selbst gefragt, was diesen Kunden und auch die anderen zuvor vom Kauf abgehalten hatte und reagierte deshalb ungehalten auf seine Frage.
"Hast du doch gehört, warum er nichts gekauft hat! Du hockst doch die ganze Zeit hinter der Tür und lauschst, also, was soll die Frage?"
"Aber, ich konnte den Kunden gar nicht sehen, hörte nur, dass er ein Polohemd..."
"Was wollte er, ein Polohemd? Kannst du nun auch nicht mal mehr richtig hinhören?"
"Was regst du dich denn so auf? Ich habe ihn doch gar nicht gesehen und wollte doch nur sagen..."
"Das ist wieder so typisch, du hast von nichts eine Ahnung, aber gibst permanent Ratschläge! Ich kann es schon nicht mehr hören, es regt mich nur noch auf!"
Sie stürzte aus dem Laden Richtung Toilette.
Reiner schaut verwundert hinterher, fragte sich, was Sonja derart aggressiv reagieren ließ. Er hatte doch nur fragen wollen! Die Ursache und Auswirkung standen in absolut keinem Verhältnis. Eine der Ursachen könnten die schlechten Umsätze ihres Textilgeschäftes der letzten zwei Monate sein, überlegte er. Es war nicht zum ersten Mal, dass Sonja so ausrastete. Ihm fiel auf, dass sie schon lange nicht mehr herzhaft lachte und einen leicht verkniffenen Zug um den Mund bekommen hatte. Mit ihrem blondem, kurzem Haar und der schlanken Figur war sie nach wie vor attraktiv, sicher, was auch von den Kunden regelmäßig angemerkt wurde. Im Gegensatz zu ihm war sie zu jedem Kunden freundlich und ließ keinen ihre innere Unruhe spüren.
Sonja schaute auf der Toilette in den Spiegel und dachte, dass das aufhören musste. Es ist doch völlig normal, dass einige nur schauen, sich alles zeigen lassen oder selbst wühlen, um dann doch nichts zu kaufen.
Sie wusste, dass ihr Ton gegenüber ihrem Mann vorhin unangebracht war und beschloss, sich diesmal zu entschuldigen. Es war eher Einsicht in die Situation, weniger ihre Überzeugung.
Er stand mit dem Rücken zu ihr, die Schultern hingen etwas herab, als sie zu sprechen begann:
"Hör mal, Reiner, das eben war, also, es tut mir Leid, dass ich so ausgerastet bin."
Er unterbrach sie fast sofort:
"Ist schon gut, du hast ja Recht, ich habe wirklich nicht richtig hingehört. Mich nervt das genauso wie dich. Im Grunde genommen kennen wir ja einen Teil der Ursachen für die Kaufzurückhaltung. Heute morgen stand schon wieder in der Zeitung, dass die Energiepreise angehoben werden. Wir können es nicht ändern. Was hältst du davon, wenn wir morgen am Sonntag gar nicht öffnen?"
Sie war verblüfft.
Sonntag das Geschäft nicht öffnen? Und diese Idee von ihm? Aufgrund der Bäderregelung durften die Einzelhändler im Ort ihre Geschäfte von Januar bis November auch an den Sonntagen öffnen.
Sonja fühlte, wie sie Begeisterung ergriff. Einfach nicht öffnen? Es hatte fast etwas Verbotenes, trotz dem die Öffnungszeiten freiwillig sind.
Nach einer kurzen Diskussion einigten sie sich auf eine Radtour entlang der E9, ein Radweg, der über den Darß bis auf die Insel Rügen führt.
So vermessen waren sie nicht, Rügen zu erreichen, aber ein Drittel wäre gut zu schaffen.
Der Sonntag versprach, schön zu werden.
Schäfchenwolken am Himmel, etwas kalter Wind und immer wieder Sonne. Es war Mai und da war einfach nicht mehr zu erwarten.
Der Weg führte über die Warnow, wo sie mit der Fähre übersetzten und weiter durch den Wald. Saubere, klare Luft und satte Farben- der Mai hält im Allgemeinen, was er verspricht.
Während der Fahrt drifteten Sonjas Gedanken ab in die tiefe, in die ganz tiefe Vergangenheit dreißig Jahre zuvor. Schon einmal waren sie Ende Mai zusammen unterwegs gewesen, allerdings per Fuß und Richtung Westen. Das Wetter an jenem Tage war wie an dem heutigen: kalter Wind und Sonne, die regelmäßig von Wolken verdeckt wurde. Reiner und sie kannten sich ein halbes Jahr, waren aber immer nur kurz aufeinander getroffen, da Sonja in Berlin und er in Rostock wohnte. An jenem Maitag hatte er frei und sie beschlossen, eine kleine Wanderung entlang der Küste Richtung Kühlungsborn zu unternehmen.
Es war aufregend.
Jedes Wort hatte eine besondere Bedeutung, die Luft vibrierte von den Sehnsüchten und Hoffnungen. Als das Meer endlich vor ihnen auftauchte, war der Strand ganz leer. Es war ein normaler Wochentag, an dem die meisten beschäftigt waren. Die Jugendlichen hielten sich an belebteren Stränden auf, ging es doch für sie ums Sehen und Gesehen werden.
Sonja und Reiner waren allein und verschwanden mit ihrer Lust aufeinander relativ schnell in den Dünen. Sie erinnerte sich, dass die Sonne heiß auf das nackte Hinterteil brannte, jedoch immer mal wieder von einem kaltem Windstoß abgekühlt wurde. Die feinen Sandkörner rieben die Haut auf.
Es störte sie alles nicht.
Als das Meer nun in der Ferne auftauchte, die Räder angeschlossen waren, fragte Reiner Sonja:
"Erinnerst du dich?"
Auch er erinnerte sich und sie sah das Glitzern in seinen Augen. Der Strand war wiederum ganz leer. Vereinzelt sah man Windschützer an den schrägen Dünen und noch vereinzelter Spaziergänger direkt am Meer.
Sie schauten, lächelten und verschwanden wieder sofort in den Dünen. Das gleiche Gefühl, das gleiche Verlangen, die gleiche Lust überkam sie.
Sonja lächelte etwas verlegen, als sie zu ihm sagte:
"Wollen wir? In unserem Alter?"
Gleichzeitig gab sie ihm lachend einen Schubs und er fiel in den Sand.
Der Gedanke an das Alter war so flüchtig.
Später lief sie am Strand entlang, in der Hoffnung, einen Hühnergott zu finden. Diese Steine, in die das Meer ein Loch gewaschen hatte, faszinierten sie von jeher. Noch nie hatte sie einen gefunden, sich aber immer über die Leute gewundert, die einmal am Meer entlang liefen und -zig Götter fanden!
Reiner war im Sand eingeschlafen und erschrak, als er ihre fröhliche Stimme hörte:
"Los, rate mal, wieviele Götter ich in meiner Hand habe!"
Er zog sie zu sich hinunter, sie umarmte ihn und sagte:
"Sieben Götter habe ich!"
Dann bestaunten sie gemeinsam die sechs Steine, die sie in der Hand hielt.
Was für ein schöner Tag, dachte sie, Sonntag eben.