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Sonnenglut

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18.08.2002
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Sonnenglut

Dritte, überarbeitete Fassung

Ich blickte auf eine Großstadtstraße herab. Links und rechts ragten Wolkenkratzer empor. Die Autos tief unter mir glichen Spielzeug, und auf den breiten Gehwegen wuselten Menschen aneinander vorbei, klein wie Punkte. - Doch dann wurde alles größer und größer, und der Traum, der hatte ein Ende.

Verwundert setzte ich mich auf und schaute um mich. Wahrhaftig, ich befand mich in der Wüste, ein leidlich ungünstiger Platz zum Schlafen. In alle Richtungen erstreckte sich harte, aufgerissene Erde und es wuchs kein einziger Grashalm weit und breit. Wie konnte ich hier nur geschlafen haben?

Fassungslos richtete ich mich auf. Dabei erblickte ich ein Schild, welches hoch aufragte. Ich stand in der Mitte seines Schattens. Um die Haltbarkeit der Beschriftung hatte man sich offenbar nicht sonderlich gekümmert. Sie sah ganz mitgenommen aus, sodass nur noch der mittlere Teil halbwegs lesbar war:


...ommen in St. R...


So ging ich auf die Straße, die sich ein paar Meter entfernt an mir vorbeischlängelte, und machte mich auf den Weg nach "St. R", was auch immer das hieß und was mich dort erwarten würde. Am Horizont waren die grauen Silhouetten einer Stadt zu erkennen, schemenhaft flirrend in der heißen Luft.

Auf meinem Weg, der immer mühsamer wurde, versuchte ich die Gedanken zu ordnen. Immer wieder drifteten sie ab zum Traumerlebnis und kehrten zurück, um gegen eine Mauer aus Fragen zu prallen. Wo bin ich hier, und wie konnte ich mich hierher verirrt haben? Was ist das für eine Stadt vor mir in der Ferne? Und wo...- War ich überhaupt eingeschlafen?

Ich hielt an und schluckte. Vor mir lag die Stadt. Tot, verlassen. Große Hochhausruinen starrten auf mich nieder. Unzählige Schutthaufen umsäumten berußte Mauerreste und in der Luft lag ein beißender Modergeruch.
Ich war kaum weitergegangen, da ließ mich ein sehr seltsames Geräusch, ein metallisches Klimpern herumfahren. Schon bereute ich bis in die Knochen, hierher gelangt zu sein.

Mein Rückweg war abgeschnitten, und ich gefangen! Ein Schauer perlte mir den Rücken hinab, als ich sah, wie die Straße, die ich gekommen war, sich nicht etwa in der Wüste verlor, sondern nur in weiteren, verlassenen Gemäuern. Nirgends lugte ein Stück rissige Erde hervor, die Welt schien nur noch aus Beton zu bestehen.

Das Herz raste. Mit zitternder Hand wischte ich mir den Schweiß aus dem Gesicht. Ich rannte ungläubig vorwärts, schaute in alle Richtungen, doch je weiter ich lief, desto mehr offenbarte sich mein Schicksal.

***​

Irgendwann fand die Straße ein Ende, und ein Querläufer kreuzte sie. Ein Wegweiser stand direkt vor mir. Die Straße hatte eigenartigerweise zwei Namen: Nach rechts hieß sie Krafthandstraße, nach links jedoch Chaussee der offenen Türen.

Kurzerhand entschied ich mich für links, in der Hoffnung auf einen Weg hinaus.

Auf der Wanderung durch diese drückende Einöde nahm ich nur zu gut wahr, wie die Beine immer schwerer wurden und meine Hoffnung allmählich schwand. Das schmutzige Grau der Mauern, der Gestank und die Höllenhitze schienen sich allesamt gegen mich verschworen zu haben. Lange halte ich das nicht mehr aus!, sagte ich mir, raffte aber noch einmal alle Kraft zusammen.

Einmal spannte sich eine Brücke über den Weg. Unter ihr stehend rief ich laut "Hallo?", wenn auch nur, um der aufkommenden Angst etwas entgegen zu setzen. Das Echo sollte die Stimme beflügeln, sie hinaus in die Wirklichkeit tragen. Das Hallo aber wurde verschlungen von der dumpfen, moordicken Stille.

Zu meiner Überraschung entdeckte ich am anderen Ende der Unterführung eine Geldbörse, die ich sogleich aufhob und öffnete. Das Leder fühlte sich ganz hart und spröde an; es musste also schon einige Zeit her sein, dass jemand sie verloren hat.
Im Sichtfach steckte der Ausweis. Doch das Passfoto war bereits so verblasst, dass nur noch ein dunkler Haarschopf auszumachen war. Seltsamerweise waren alle Felder leer, weder den Namen des Inhabers, noch seine anderen Daten durfte ich erfahren.

Unter dem Ausweis, den ich aus der Lasche gezogen hatte, befand sich ein Foto, das eine achtköpfige Familie zeigte - diesmal mit kräftigen Farben und in schneidender Schärfe. In der Mitte saß ein Ehepaar auf einer Gartenbank, die Frau daneben war wohl eine Tante oder Cousine. Hinter ihnen standen die Großeltern, und vor ihnen kauerten die drei Kinder auf dem Boden.

Plötzlich löste sich der Verschlussknopf des Münzbeutels, woraufhin das darin befindliche Geld klimpernd zu Boden fiel. Aber was ...? Ein richtiger Goldregen prasselte auf meine Füße und wollte nicht enden. Fassungslos starrte ich abwechselnd auf diesen rasselnden Münzenfall und auf das Portemonnaie, das diese Metallmasse doch niemals hätte fassen können. Erst als meine Beine bis zu den Knien unter dem Geld begraben waren, fiel der letzte Taler auf den Haufen, rollte hinunter und legte sich auf die Seite. Vollkommen verblüfft stieg ich aus dem Münzberg, aber mein Blick haftete an diesem wie angeklebt.

Schließlich bückte ich mich und las den Ausreißer auf. Seine Kopfseite zeigte nicht etwa den Kopf einer berühmten Persönlichkeit, sondern denselben gesichtslosen Haarschopf wie das Lichtbild. Die Zahlseite war jedoch vollkommen blank. Trotzdem hielt sie den Blick auf eine merkwürdige Art fest. - Ein gelber Glanz, ein goldener Schimmer, erst ganz klein, wurde größer, und allmählich entwickelte er sich zu schnellen Bildern...

Der Schimmer verschärft sich zu Münzen. Zu Tausenden stürzen sie vom Fließband in einen Bottich. Der Behälter verwandelt sich sogleich in ein Bankgebäude. Gestürmt wird er, von Schwarzmaskierten. Schüsse fallen. Sie haben plötzlich Säcke in der Hand, steigen über Menschen, die leblos auf dem Boden liegen. Dann ein Raum, gedämpft beleuchtet. Ein Mann in grauem Anzug und mit dunkler Brille öffnet einen Koffer, voll mit blauen Banknoten. Auf diese rast mein Blick hinzu, in sie hinein, und düst über das Meer. Das Wasser verdunkelt sich. Wird schwarz und zäh. Der Blick stößt an eine rostige Schiffswand, fährt darüber hinweg, zeigt einen Strand, übersät mit schwarzen, toten Häufchen. Hinter der Küste brennt es. Vom Wind zerrissene Flammen lecken gierig an den Stämmen von Urwaldriesen. Dann sehe ich ein dünnes Gesichtchen mit abfallenden Mundwinkeln, fahle Augen in tiefen Höhlen blicken in eine Schüssel. Eine leere Schüssel ist es, doch dann wird sie zu einem reich gefüllten Teller, von dem sich fettige Finger bedienen. Im Raum sitzen viele Menschen, geblendet von gleißendem Strahlerlicht. Sie stieren alle zu einem Punkt hinauf, eine nackte Tänzerin, die sich verführerisch um die Stange windet. Dann trägt die Dame plötzlich Kleider, sitzt auf einem Stuhl, und hält ein Geldstück in der Hand. Lächelnd streckt sie es einer kleinen Hand entgegen. Die Eins auf der Münze glänzt...

...silbern in meiner Hand.
Die Gefühle mischten sich so durcheinander, ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Dann doch etwas angewidert, warf ich das Geldstück auf den Haufen der anderen zurück und verließ eilig den Ort.

***​

Jegliche Hoffnung, eine andere Farbe als Grau in dieser Stadt zu erblicken, hatte sich längst verflüchtigt. Ich glaubte schon mein ganzes Selbst ergraut und verstaubt, allen Lebens beraubt. Ich untersuchte die Hände: Es war wahrhaftig schon eine deutliche Gräue auf ihnen zu entdecken. Grau war auch das Gemüt, träge zog ich die grauen Füße einen nach dem anderen nach vorn.
Einzig der Himmel war blau, und treu hielt er zu mir.

Die Straße gabelte sich bald, und ein weiterer Wegweiser stellte mich vor die Wahl: Der Ausläufer nach rechts hieß Waagfragstraße, der nach links Seligenfreud. Die Straßen hatten hier wohl alle so ungewöhnliche Namen.

Ich spürte, wie es mich wieder nach links zog. Zögernd warf ich noch einen Blick nach rechts. Dort gab es jedoch nichts, was eine Überlegung rechtfertigen würde: Rechts wie links grau, wie Katzen in der Nacht.

So setzte ich endlich meinen Fuß linkswärts. Irgendwann und irgendwo würde ich schon einen Ausweg finden. In demselben Moment, wie diese Hoffnung wieder aufblühte, meldete sich ein sehr sonderbares Gefühl, für welches wohl die drückende Hitze verantwortlich war: In dieser Stadt heimisch zu sein, auf eine gewisse Art mit ihr verbunden.

Plötzlich hörte ich jemanden neben mir hässlich laut lachen. Als ich hinsah, war da aber nur eine jämmerliche, halbwegs freie Fläche. Sie war wohl einmal ein Spielplatz gewesen: Eine heruntergerissene Wippe, ein rostiges Klettergerüst, und zwei Stahlfedern, deren Reitaufsätze im Sand lagen. Doch als ich ein paar Meter weiter gegangen war, gellte dieses hämische Gelächter zum zweiten Mal. Bewegungen bemerkte ich aus dem Augenwinkel. Ich hielt abrupt inne und blickte dann, um nicht wieder auf eine lächerliche Sinnestäuschung hereinzufallen, ganz langsam und bedächtig zurück.

Wie ein Blitz raste der Schrecken durch meinen Körper. Dort, wo doch eben niemand war, standen jetzt zwei Kinder. Aber ihre Haut war fahl durchscheinend und blass wie der Tod; ihre Augen waren ganz und gar schwarz und mit fieberhaftem Glanz benetzt. Am Klettergerüst standen sie sich gegenüber; zwischen ihnen hing ein drittes, kleineres Kind kopfüber mit einem Strick an eine Querstange gebunden. Seine leeren, graugläsernen Augen starrten ins Nichts; aus seinem Mund troff schwarzes Blut.

Da stehen sie nun, bewegungslos, und grinsen mich an. Schließlich rufen sie langsam, und mit heiserer, aber durchdringender Stimme:

"... Komm, ..."

"und sei unser Gefährte, ..."

"spiel mit das Spiel, ..."

"... das das Gute uns bescherte ..."


Noch ehe ich mich aus der Starre lösen konnte, war die Erscheinung verschwunden. Blindlings machte ich einen Satz nach vorn und türmte wie vor wütenden Hornissen.

Wie lange ich schon lief, als die Panik langsam abklang und mit ihr die Stimme, die im Kopf noch nachwirkte, wusste ich nicht.
Die Umgebung hatte sich nicht verändert: Soweit das Auge reichte, fand es traurige Betonbauten mit zerschlagenen Fenstern, verfallene Steinmauern und teils haushohe Haufen von Schutt und Staub. Meine Augen brannten und die Lunge schmerzte. Atemlos hielt ich an, stützte die Hände in die Knie und spuckte mehrmals aus.

Und vor meinem inneren Auge blitzte etwas auf: Das Familienfoto. - Nein, dieser abscheuliche Gedanke gehörte verworfen; diese Kinder waren es nicht, ganz bestimmt nicht, sie sahen ganz anders aus.

Oder - etwa - ...doch?

***​

Beinahe hatte ich es erwartet, da war auch dieser Weg zu Ende und eine neue Entscheidung stand an. Der Wegweiser nannte den Weg nach links Straße zur Wahrheit und den rechten Häftlingsrückkehr.

Ich bog nach links ein. Mir kam der Einfall, die Schritte zu zählen, denn ich musste etwas tun, damit mich am Ende nicht die farblose Eintönigkeit und Verlassenheit überwältigt.

Beim zwölften Schritt hielt ich inne. Wie eine Erleuchtung erschien der Gedanke, warum ich, der nichts als aus dieser Stadt hinaus wollte, doch nur immer weiter hinein irrte. Ich habe mich bisher immer von den schönen Straßennamen blenden lassen, habe die Entscheidungen an Lügen gemessen anstatt meinen innersten Willen, das Herz zu fragen. Bin stets nach links gegangen -, die rechtige Seite habe ich verschmäht...

Schließlich schritt ich zurück und zählte: "Dreizehn".

Beim hundertzweiundsechzigsten Schritt hielt ich an und rieb mir die Augen. Es musste sich auch hierbei wieder um eine Täuschung handeln; wenn doch nur diese Hitze nicht wäre!
Die Stadt, eben noch zerfallen, seit Urzeiten vergessen, war nun zu neuem Leben erwacht. Ich stand am Tor zu einem recht weitläufigen Platz und staunte des Treibens, das auf ihm herrschte. An den Wänden der angrenzenden Häuser hingen die verschiedensten Formen von Girlanden, Lametta und bunten Lampen. Die Menschen wandelten lachend Hand in Hand umher, tanzten in grenzenferner Harmonie zu einer alles überwindenden, hochmelodiösen Musik. Sie verloren sich selbst, waren eins.

Mit dem Handrücken wischte ich mir über die Augen, die bereits feucht waren.

Ihre Masken, ihre Kostüme schillerten in allen Farben des Regenbogens, und ich ertappte mich bei dem Wunsch, mit ihnen zu feiern, in Glückseligkeit zu ertrinken und mit Schäfchenwolken Fußball zu spielen.

Es war ein willkommener Lohn für... Ach, das zählte sowieso nicht mehr; Klänge, Licht und Formen, kommt heim zu mir, ich will euch genießen, will euch verschlingen! Oh, feiert die neue Selbstfreiheit, lobpreiset die schöne Weltfreiheit, alle Fesseln der Vergangenheit!

Sie sprangen um den Brunnen herum, Männer, Frauen und Kinder, sie sangen Endorphina in allen möglichen Tönen, dieses Wort nur konnte beschreiben, was sie empfanden. Immer höher und kreischender beschwor man damit den Zutritt zu anderem Bewusstsein. Schließlich wuchs eine schillernde Fontäne aus dem Brunnen, und die Extase erreichte ohrenbetäubende Sphären, als ob alles nur danach gelechzt hätte.

Nun erst dämmerte mir, warum ich bisher gezögert hatte, teilzunehmen und mich dieser Wonne hinzugeben. Zuerst freute ich mich darüber. Die Freude aber währte nur kurz, verwandelte sich bald in Mitleid. Mitleid für diese Menschen, die auf einen Schlag all ihre Vorfreude eingelöst hatten. Wie sie badeten und planschten in ihrem Wasser der Freude, des Lebens, der Freiheit oder was auch immer, wie sie von der Unwirklichkeit förmlich erobert werden, sich aus dem Wasser erheben, zum Himmel empor, wo sie langsam, gleich Seifenblasen, zergingen...

Ich taumelte aus dem Tor hinaus, wahrlich übel war mir von diesem Anblick geworden. Ich hörte noch immer die Betrogenen klagen und weinen, ihre Schreie, in meinen Ohren verdichtet zu einem einzigen, quälend pfeifenden Ton, eine Schwingung, welche sich bald auftürmte zu einer Woge des Wahnsinns. Mit feuriger Wut raste sie auf mich zu und verbrannte meinen Verstand zu einem Häuflein Asche. Ich schrie. Helle Panik peitschte mich unerbittlich vorwärts, strikt geradeaus. Dabei kniff ich die Augen zu, beugte mich der Stadt, die mich nun gefügig gemacht hatte wie einen Drillsoldaten. Tausende Mal schlug ich auf den Boden hin, riss mir an dem körnig brüchigen Asphalt die Knie auf, wimmerte verzweifelt. Ich stand auf und rannte weiter, immer und immer wieder, schien dennoch nicht vom Fleck zu kommen.

Wer hat mich nur in dieses gottverdammte, abirdische Verlies gezwungen? Was habe ich demjenigen angetan? Was musste ich gar für ein Tyrann gewesen sein...

Ich stolperte und übergab mich der Schwerkraft vollends. So lag ich eine Zeit lang still auf dem Erdboden.

***​

Nun schien alles vorbei zu sein. Die Hitze war verschwunden, die Luft frisch; ich lag in kühlem Schatten und spürte, wie meine Kräfte zurückkehrten.
Doch wovon stammte der Schatten? Ich hob den Kopf und entdeckte, rechts und links vor mir sitzend, zwei riesige Sphinxen. Sie blickten forschend auf mich nieder. Langsam, stets die Sphinxen im Blick behaltend, stand ich auf und strich mir den Schmutz von der geschundenen Kleidung.

Die linke Sphinx trug jenen Kopf mit dem Haarschopf, den ich auf der Münze gesehen hatte, diesmal aber mit einem deutlichen und scharfen Gesicht. Das der rechten, umrahmt von der roten Sonne, welche schon tief am Himmel stand, kam mir ebenfalls bekannt vor, wenn ich auch nicht wusste woher. Und mitten in diesem Dreieck, das durch mich, den rechten und den linken Löwenkörper gebildet wurde, lag das Springbrunnbecken, welches ich noch in lebhafter Erinnerung behalten hatte. Diesmal hatte es keine Fontäne, das Wasser in ihm war spiegelklar.

Ich drehte mich um; hinten am Horizont erhoben sich die Silhouetten der Stadt. "Diese Stadt da in der Ferne," - ich zögerte - "...wie heißt sie?"
Ganz früher, ich kann mich noch schwach daran erinnern, hatte ich in einem Buch gelesen, dass Sphinxen sprechen können. Das wollte ich ausprobieren.

"Diese Stadt heißt: Saint Richard!", sprach die rechte in tiefer Stimme, die den Boden erzittern ließ.

"Ich ... Ich komme von dort!", stotterte ich.

"Du siehst, wir können uns nicht mehr bewegen", sagte sie, nun sanfter. "Bitte sage uns: Wie sieht es da aus?"

Die andere Sphinx durchbohrte mich mit prüfendem Blick. Ich erzählte ihnen von der Stadt und von meinen schrecklichen Erlebnissen dort. Als der Bericht zu Ende war, herrschte lange Zeit tiefe Stille.

Schließlich sagte die rechte: "Nun weißt du vielleicht, wie du gelebt hast..."

Erst fragte ich mich, was sie damit sagen wollte, doch dann stand ich da wie vor den Kopf geschlagen. Ich war es, ich war Richard. Als ehemals zweitmächtigster Mann der Welt, an der Spitze eines Weltkonzerns, der Internationalen Körperschaft für Lebensplanung, organisierte ich das Leben von siebeneinhalb Milliarden Erdenbürgern. War nie um Mittel verlegen, sie zu konditionieren, zu manipulieren, zu kontrollieren, während ich ihnen stets ein glückliches Leben in Frieden und Reichtum versicherte, sie eigentlich aber aussaugte. Doch ich war viel zu erhaben über alle, so auch über meinen Konkurrenten, so dass er mich allmählich ruinierte und ich tiefer und tiefer fiel, bis ich weder aus noch ein wusste...

Da zwinkerte mir die linke Sphinx zu und lächelte; die Gesichter waren offenbar das einzig Lebendige an den versteinerten Körpern.
"Noch ist nicht alles entschieden," sagte sie, "du bist sehr mächtig und kannst dein Leben fortführen."

"Es kommt eben darauf an, wie!", empörte sich die Rechte. Und zu mir gewandt: "Du musst dich wohl oder übel entscheiden, welche Tür du nimmst."

Inzwischen hatte ich die Pforten auf der Brust der beiden Sphinxen gesehen.

"Aber bitte schnell! Dein Leben kann schließlich nicht ewig aufrecht erhalten werden!" sagte die Linke.

"Das ist Unsinn! Sieh zuerst einmal in den Brunnen dort."

Zögernd trat ich an den Brunnen heran und beugte mich über das Wasser. Erst sah ich nur meinen Kopf, der aber sogleich verschwamm, und ein anderer Kopf erschien. Dessen Anblick jedoch verengte mir die Kehle: Deborah. Die rotbraunen Locken fielen auf die Schultern meiner einstigen Geliebten und auf ihr schwarzes Seidenkleid. Tränen rannen über ihr Gesicht und verwuschen die Schminke, die die Narbe an der Unterlippe verdecken sollte.

Dass ich deinem schönen Antlitz jemals etwas antun konnte...

Doch dann verjüngte es sich, fing zu strahlen an und entfernte sich, und plötzlich hatte ich dasselbe Bild vor Augen, das ich unter der Brücke in den Händen gehalten hatte. Aber damit packte mich auch die lähmende Gewissheit, dass... Das Gesicht hinter den Händen vergraben, drehte ich mich weg. Nein, das war doch unmöglich, das durfte nicht sein! Ich atmete tief ein und wandte mich wieder dem klaren Nass zu.

Jetzt sah ich Zeitungsblätter, die mir mit ihren Schlagzeilen entgegen flatterten.

"Kritischer Künstler eröffnet Ausstellung" ... "Interview mit einem Neu-Denker" ... "Neue Worte für Neue Dinge" ... "Neue Partei gegründet" ... "Revolutionär vor Friedensgericht" ... "Richard entschuldigt sich"

Und ein anderes Blatt schließlich zeigte ein Foto von mir. Die rechte Sphinx stellte also mich dar, als oder bevor ich die erste Sprosse der Karriere erklomm.

"Ich gebe ja zu, dass du ein paar Fehler gemacht hast," sagte schließlich die linke. "Aber die Macht ist geduldig. Besinn dich doch, um Himmels Willen, was du geschafft hattest. Von ganz unten nach gaaanz oben. Bist den anderen weit voraus gewesen. Bis dann dieses ..., dieses ..., dieser Heuchler kam und deine Pläne zunichte machte. Ich schlage vor, du räumst deinen Weg frei, du verstehst?", und nach einer kleinen Pause fügte sie in flüsterndem Ton hinzu: "Diesmal wird es dir gelingen, jaaa, es musssss vollends gelingen. Du brauchst nur ein bisschen Selbstvertrauen haben. Und vor allem musst du an dich glauben, musst nur an dich glauben!"

Wartende Stille.

"Ja!", sagte ich schließlich. "Ich glaube an mich. Du hast Recht. Ich habe mich entschieden."

Ich ging der Sphinx entgegen - meiner Sphinx; das Lächeln der Anderen verblasste. Als ich an der Pforte stand, war deren Gesicht gar bemitleidenswert.
Ich drückte die Klinke. In diesem Moment ließ sie, tief aus der Kehle, ein Seufzen vernehmen, welches bald in wummerndes Grollen überging. Risse zerspalteten ihr Gesicht, die Brust und die mächtigen Vordertatzen. Krachend barst der gesamte Vorderbau und wirbelte eine dichte Staubwolke auf.
Diese verwehte allmählich und gab den Blick in das Innere frei. Ich nickte traurig beim Anblick des unförmigen, blutroten 'R' auf dem Grabstein, dort in der Mitte des Raumes.

Mein Gesicht war wie versteinert. Erschauern. Für eine Sekunde oder zwei hätte ich wahrhaftig den falschen Weg beschritten.

Als ich über die Schwelle trat, war da kein Boden mehr - ich stürzte in schwarze Tiefe. Oder nein: schwebte. Behaglich warmer Wind strich über meine Haut. Und bald vernahm ich aus weiter Ferne, aber immer näher kommend, einen zarten, gleichmäßig wiederkehrenden Piepton.

Es war das Kontrollsignal der Krankenbettapparatur.

[highlight]Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE (s. Profil)[/highlight]​

 

Hallo.

So, jetzt passt's hoffentlich. Besser kann ich's wirklich nicht. Wenn ich jetzt noch stilisch daran herumbiege, kann ich die Geschichte bald von "Sonnenglut" zu "Mondeis" umtaufen ;).

Das heißt dann wohl: "Freeeeeze!" *knips*

Von allem, das über Rechtschreibkorrekturen hinausgeht, sehe ich für diesen Text also in Zukunft ab. Dennoch - nicht dass Ihr euch auf den Schlips getreten fühlt - ist mir etwaige Kritik sehr willkommen :), denn das ist schließlich nicht meine letzte Geschichte.


FLoH.

 

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