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Sommernachmittag
Er ist ein Arbeitskollege, im gleichen Alter wie sie. Beide sitzen im selben Raum, verrichten die gleiche Tätigkeit. Es bleibt dort wenig Zeit für eine Unterhaltung, sich kennenzulernen. Luc ist sympathisch, strahlt etwas Souveränes, Weltmännisches aus, spricht französisch und sieht auch nicht übel aus. Seine Mutter ist Französin, wie sie einmal während eines Telefonates aufgeschnappt hat. Auch dieser Umstand macht ihn für sie interessant.
Seit einiger Zeit spürt sie Unruhezustände. Nichts, das äußerlich sichtbar wäre, es ist auch nicht konkret, sie möchte dann schnell laufen, oder singen, schreien, in einen See springen, um sich eine Art emotionaler Abkühlung zu verschaffen.
Ist normal, sagt ihr Mann.
Da ist der Wunsch nach Veränderung in ihrem Leben. Erst gestern hat sie ihrem Mann erzählt, sie würde sich an der Volkhochschule für einen Französischkurs anmelden. Sie möchte ihre Sprachkenntnisse auffrischen.
„Wenn du unser Kind zweisprachig erziehen möchtest, habe ich nichts entgegenzusetzen", meinte er lapidar, ohne sie dabei anzusehen.
Dem Picknick letzten Sonntag hat er auch nur widerwillig zugestimmt.
„Einverstanden, tragen wir das Abendessen in den Park. Zu all den anderen Streunern", scherzte er augenzwinkernd. Sehr bald würde sich ohnehin Vieles ändern.
Wozu diese Umtriebigkeit? Ja, wozu?
Lucs Wohnung ist nicht besonders ansprechend. Düster, mit dunklen Holzmöbeln eingerichtet.
„Alles Zeug der Vermieterin. Bleib' ja nur bis zum Ende der Studienzeit hier", stellt Luc klar, bevor er in die Küche geht, als hätte er ihren Gedanken erraten. Er klingt gleichgültig, beinahe arrogant.
Es fällt wenig Licht durch die schweren Vorhänge an diesem heißen Sommernachmittag und das wenige auf eine Schwarz-Weiß-Fotografie in einem Silberrahmen. Um etwas zu tun, nimmt sie es auf und betrachtet die junge Frau darauf, die einen kleinen Jungen auf dem Arm hält. Sie ist nicht im eigentlichen Sinn schön, doch ihre dunklen Locken und der wehmütige Blick vorbei an der Kamera, geben ihr einen Ausdruck von Verlorenheit und man möchte sie an den Händen nehmen und sich mit ihr durch den Garten drehen, immer im Kreis herum, bis man einander nicht mehr festhalten kann und lachend ins Gras fällt. Es ist im Sommer aufgenommen worden. Die Hortensien blühen und im Hintergrund sieht man einen Baum, der Früchte trägt. Äpfel vielleicht oder aber Pfirsiche. Es ist, als könne sie es riechen, den Duft der Blüten und der reifen Früchte. Sie schließt für einen Moment die Augen.
In der Stadt sind die Sommertage unerträglich. Besonders im Augenblick. Sie stellt das Foto zurück und legt eine Hand auf ihren Bauch. Das Leben darin ist deutlich zu spüren. Es ist allgegenwärtig. Bestimmend. Dieses Kind ist ihr fremd, sie kennt es nicht, weiß nicht, wie es sein wird. Vielleicht hat es einen schlechten Charakter und sie kommt gar nicht mit ihm klar. Der leicht gewölbte Bauch ist kein geliebter Teil von ihr. Was, wenn sie das Kind ablehnt, keine Gefühle entwickeln kann, es am Ende nicht lieben wird?
Das wird schon, sagt ihr Mann.
Luc kommt mit einem Glas zurück und steht dicht vor ihr. So dicht, dass sein Atem die verschwitzte Haut an ihrem Hals kühlt. Ihre Hände sind nass, sie schluckt schwer und geht einen Schritt zurück, um sich von ihm wegzudrehen.
„Ist das deine Mutter auf dem Foto", beginnt sie ein wenig zu leise, und erhebt am Ende der Frage die Stimme, so dass der Satz unmelodisch klingt. Diese Unsicherheit kann ihm nicht entgangen sein. Sie reckt das Kinn nach oben und zieht die Augenbrauen etwas zusammen. „Und der Kleine? Das bist wohl du", fragt sie und es klingt viel zu trotzig.
Sein Rücken streckt sich und der Blick schweift zur Kommode mit der Aufnahme, wie vermutlich schon unzählige Male zuvor.
„Ich war fünf Jahre alt , als sie sich das Leben nahm. Es ist im Sommerhaus aufgenommen. In der Bretagne. Wir waren danach nie wieder dort." Er verzieht die Lippen zu einem Strich und lässt ein kurzes Geräusch heraus.
Etwas Ähnliches hat sie vermutet, steht doch kein einziges Foto der Frau aus heutiger Zeit daneben. Dennoch trifft es sie unvermittelt und ohne etwas sagen zu können, nippt sie verlegen am Wasserglas.
„Sie hatte Depressionen. Nach der Geburt meines Bruders stürzte sie sich von der Klippe."
Jetzt hat sie das Bedürfnis etwas Erfreuliches zu sagen. Die Stimmung war von Anfang an befremdlich? Sie finden nicht zueinander, wissen nicht, worüber sie reden sollen.
„Es wird ein Junge. So um Weihnachten herum", sagt sie dann und tätschelt ihren Bauch.
„Bis dahin habe ich mein 2. Staatsexamen. Ich gehe zurück in meine Heimat. Mein Vater erwartet mich", erwidert er daraufhin ohne weiter auf ihre Bemerkung einzugehen.
„Nach der Geburt werde ich auch nicht wieder zurück in dieses Büro gehen, um eintönige Telefonate zu führen. Ganz sicher nicht", verkündet sie eine Spur zu energisch. Er scheint es nicht zu bemerken und kommt erneut näher, berührt ihr Haar, das glatt auf ihre Schultern fällt.
„Mach keine Dummheiten." Dabei zwinkert er mit einem Auge, so dass sie ihm seine Besorgnis nicht abnimmt.
Sie schüttelt den Kopf, drückt etwas Luft aus dem Mund als Zeichen gespielter Empörtheit und denkt an den Vater ihres Kindes, der in diesem Augenblick wohl einiges für den Umzug in eine größere Wohnung organisiert, während sie den Nachmittag mit dem fremden Mann verbringt.
Keinen Augenblick möchte sie länger bleiben. Sie nimmt ihre kleine Tasche, die sie beim Hereinkommen auf einen Stuhl gelegt hatte. Nicht eilig, aber bestimmt.
Er begleitet sie zur Tür, ohne sie aufhalten zu wollen. Sie haben sich nichts zu sagen. Er hält ihre Hand zum Abschied einen Moment zu lange fest, so dass das kühle, unangenehme Gefühl für einen winzigen Augenblick zurück ist.
„Bis Morgen." Dabei schnalzt er mit der Zunge und schnippt mit zwei Fingern.
„Ja, bis Morgen," sagt sie.
Als sie aus dem Haus und auf den Gehweg tritt, steht die heiße Stadtluft wie eine Wand vor ihr. Sie bleibt kurz stehen und atmet länger aus, um dann bedächtig den Weg entlang der Platanen zu gehen. Dabei schaut sie ein letztes Mal zu seinem Fenster hinauf. Falls er ihr nachblickt, dann so, dass sie ihn nicht sehen kann.
Ein leichter Wind aus Osten weht ihr ins Gesicht, erfrischt sie. Es duftet nach Pfirsichen. Sie kann den Obsthändler an der Straßenecke schon sehen und kauft dann eine Tüte von diesen weichen, süßen Früchten. Ihre Schritte beschleunigen sich und sie geht vorbei an dem wundervollen Barockgarten mitten in der Stadt und vor ihrem inneren Auge sieht sie ein Haus aus Granit, bewachsen mit einer weißen Kletterhortensie, mit grünen Fensterläden, einem Garten von Lavendel und Ginster überwuchert, mit hüfthoch gewachsenen Hortensiensträuchern und einem alten Pfirsichbaum.
Erst jetzt bemerkt sie wie schnell sie läuft.
Später wird sie ihrem Mann noch für diesen Sommer eine Reise in die Bretagne vorschlagen.
Was er wohl sagen wird?