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So zwischen Wien und Rom
Im Polstersitz des Abteils wird Alexandra seit Stunden durchgerüttelt. Landschaft zischt vorbei in Windeseile. Stahlräder schlagen gegen Schienen. Der Zug legt sich in die Kurve. Sanfte grüne Hügel, Zypressen, Olivenbäume, Weinberge. Jetzt ist hier Italien und dort Österreich. Alexandra ist froh darüber.
Das ihr vertraute andere soll wieder einmal helfen, erlittenes Ungemach zu verkraften. Ihn vergessen, ihn, der seine Frau mit ihr betrog, ihn, der ihr stets leere Versprechungen machte, ihn, der ihr lange einsame Nächte ohne Schlaf bescherte, ihn, den sie so sehr liebte. Er hatte ihr versprochen, sich scheiden zu lassen, danach mit ihr zu leben. Alexandra hatte viel Geduld, wartete vergebens, nahm hin, dass er nicht kam, ohne abzusagen, er jene Zeit mit seiner Frau verbrachte. Schließlich brach sie mit ihm und leidet immer noch darunter.
Stets hat sie seine blauen Augen vor sich. Unerträglicher Schmerz frisst sich in ihr Herz. Zärtlich betrachtet Alexandra die Landschaft. Wie sehr tröstet doch die Sanftheit der Weinberge, der kleinen Häuser mit roten Ziegeldächern. Stets hatte diese Zartheit vermocht, Alexandras Schmerz zu lindern. Seit früher Jugend an. Der Wohlklang der Sprache, die Abendmahlzeiten in großer Gesellschaft, welche lange Stunden, begleitet von heftigen, lauten Gesprächen, zu dauern pflegten, das Durcheinander in den Straßen, das laute Lachen, die Farben der Märkte, die Verspieltheit der Plätze und Paläste. Wie sehr ihr doch all dies hilft, Wunden zu heilen, Schmerz zu lindern.
Abermals sieht sie sein Gesicht, die blauen Augen vor sich. Jene Augen, welche sie beim ersten Blick verzaubert hatten. Sein Antlitz beginnt jedoch zu verschwimmen, wird allmählich zu undeutlichem Nebel, geisterhaft und leer. Die Vorfreude auf die Ewige Stadt, auf ihre beste Freundin Francesca, ihre Familie, ihre Freunde verdrängt mit stets heftiger wachsender Kraft das Bild seines Gesichtes, macht es langsam verschwinden.
Schließlich sieht sie nur mehr die Landschaft. Diesmal, hat Alexandra beschlossen, werde sie ihr Äußeres verändern, sich die langen braunen Haare abschneiden lassen, neue Roben kaufen. Sollte sie es nur darauf beschränken? Alexandra stellt sich vor wie es wäre, für längere Zeit in Italien zu bleiben, sich gänzlich zu verändern, das andere zu ihrem zu machen. Ob aus Alexandra jemals Alessandra werden könne, fragt sie sich. Würde sie ihren leichten Akzent mit der Zeit verlieren? Könnte sie sich an die so andersartigen Lebensumstände gewöhnen?
Alexandra lächelt vor sich hin, stellt sich vor wie es wäre sich zu häuten, Wien abzustreifen, all die Wunden aus der Kindheit, der Jugend von einer neuen, erworbenen Haut überwachsen zu lassen, das Alte zu vergessen. Wien vergessen? All die Erinnerungen? Wäre das jemals möglich? In ihrem Kopf entstehen Bilder. Sie sieht sich selbst in Rom, in einer kleinen Wohnung, in der Fremdenverkehrsbranche arbeitend, allein, frei von allem, ein neuer Mensch. Alles Alte ablegen, die andere Stadt, die andere Sprache, die anderen Gepflogenheiten zu den eigenen machen.
„So viele Menschen leben in einem anderen Land als dem ihrer Geburt", denkt sie, warum solle sie es nicht auch versuchen. Die letzte tiefe Enttäuschung hat derlei Gedanken in ihr aufkeimen lassen. Nach Italien, um zu leben, für immer.
Wenn Francesca sie Bekannten als „Alessandra" vorgestellt hat und sie mit ihnen zu plaudern beginnt, fragen diese nach ein paar Worten woher sie komme. Eine Ausländerin, man hört es ein wenig. Ob dies jemals aufhören würde, überlegt sie.
„Na und wenn schon...", schießt es in ihr hoch. Doch Alexandras Ehrgeiz, ganz und gar im anderen aufzugehen stellt sich dem entgegen. Sie kramt den kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche, betrachtet ihr Gesicht, zieht sich die Lippen rot nach. „Alessandra Komarek", flüstert sie ihrem Spiegelbild zu.
Alexandra möchte ihre schmerzvolle Vergangenheit hinter sich lassen, doch dies, denkt sie, sei erst möglich wenn aus Alexandra wirklich Alessandra geworden sei.
Francesca meint stets, wenn Alexandra sich wieder darüber beklagt, was ihr alles widerfahren sei, dass ihr derlei überall hätte geschehen können. Ferner, pflegt Francesca hinzuzufügen, sei Italien alles andere als das Gelobte Land. Für Alexandra ist es eine Art Rettungsring und dies allein genügt.
Pinienhaine zischen an ihr vorbei. Wie sehr Alexandra diese Landschaft liebt. Einmal hatte sie ein langes Gespräch mit Francescas Mutter. „Kind", meinte diese, „du hast nur ein Semester hier studiert und warst sonst nur auf Urlaub hier. Den alltäglichen Nervkram, die Bürokratie, die miese Politik, den ganzen Mist, den musst erst mal aushalten. Ist auch kein Paradies hier, nein, nein!"
„A Weanarin bleibt a Weanarin", hatte sie einmal von jemandem gehört. Der Zug fährt langsamer, durchfährt die ersten Vororte. Alexandra hebt die Reisetasche vom Gepäckträger. Ein paar Schienenschwellen schlagen noch. Sie ist angekommen. Als sie den Boden des Bahnsteigs berührt, weiß ihre innere Stimme, dass es für sehr lange Zeit sein werde, doch trotzdem das bleiben, was es war, mit ihrer Herkunft, mit ihrer Vergangenheit. Ein Hin und Her zwischen zwei Welten. Ein Leben so zwischen Wien und Rom.