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So zwischen Wien und Rom

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16.06.2002
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So zwischen Wien und Rom

Im Polstersitz des Abteils wird Alexandra seit Stunden durchgerüttelt. Landschaft zischt vorbei in Windeseile. Stahlräder schlagen gegen Schienen. Der Zug legt sich in die Kurve. Sanfte grüne Hügel, Zypressen, Olivenbäume, Weinberge. Jetzt ist hier Italien und dort Österreich. Alexandra ist froh darüber.

Das ihr vertraute andere soll wieder einmal helfen, erlittenes Ungemach zu verkraften. Ihn vergessen, ihn, der seine Frau mit ihr betrog, ihn, der ihr stets leere Versprechungen machte, ihn, der ihr lange einsame Nächte ohne Schlaf bescherte, ihn, den sie so sehr liebte. Er hatte ihr versprochen, sich scheiden zu lassen, danach mit ihr zu leben. Alexandra hatte viel Geduld, wartete vergebens, nahm hin, dass er nicht kam, ohne abzusagen, er jene Zeit mit seiner Frau verbrachte. Schließlich brach sie mit ihm und leidet immer noch darunter.

Stets hat sie seine blauen Augen vor sich. Unerträglicher Schmerz frisst sich in ihr Herz. Zärtlich betrachtet Alexandra die Landschaft. Wie sehr tröstet doch die Sanftheit der Weinberge, der kleinen Häuser mit roten Ziegeldächern. Stets hatte diese Zartheit vermocht, Alexandras Schmerz zu lindern. Seit früher Jugend an. Der Wohlklang der Sprache, die Abendmahlzeiten in großer Gesellschaft, welche lange Stunden, begleitet von heftigen, lauten Gesprächen, zu dauern pflegten, das Durcheinander in den Straßen, das laute Lachen, die Farben der Märkte, die Verspieltheit der Plätze und Paläste. Wie sehr ihr doch all dies hilft, Wunden zu heilen, Schmerz zu lindern.

Abermals sieht sie sein Gesicht, die blauen Augen vor sich. Jene Augen, welche sie beim ersten Blick verzaubert hatten. Sein Antlitz beginnt jedoch zu verschwimmen, wird allmählich zu undeutlichem Nebel, geisterhaft und leer. Die Vorfreude auf die Ewige Stadt, auf ihre beste Freundin Francesca, ihre Familie, ihre Freunde verdrängt mit stets heftiger wachsender Kraft das Bild seines Gesichtes, macht es langsam verschwinden.

Schließlich sieht sie nur mehr die Landschaft. Diesmal, hat Alexandra beschlossen, werde sie ihr Äußeres verändern, sich die langen braunen Haare abschneiden lassen, neue Roben kaufen. Sollte sie es nur darauf beschränken? Alexandra stellt sich vor wie es wäre, für längere Zeit in Italien zu bleiben, sich gänzlich zu verändern, das andere zu ihrem zu machen. Ob aus Alexandra jemals Alessandra werden könne, fragt sie sich. Würde sie ihren leichten Akzent mit der Zeit verlieren? Könnte sie sich an die so andersartigen Lebensumstände gewöhnen?

Alexandra lächelt vor sich hin, stellt sich vor wie es wäre sich zu häuten, Wien abzustreifen, all die Wunden aus der Kindheit, der Jugend von einer neuen, erworbenen Haut überwachsen zu lassen, das Alte zu vergessen. Wien vergessen? All die Erinnerungen? Wäre das jemals möglich? In ihrem Kopf entstehen Bilder. Sie sieht sich selbst in Rom, in einer kleinen Wohnung, in der Fremdenverkehrsbranche arbeitend, allein, frei von allem, ein neuer Mensch. Alles Alte ablegen, die andere Stadt, die andere Sprache, die anderen Gepflogenheiten zu den eigenen machen.

„So viele Menschen leben in einem anderen Land als dem ihrer Geburt", denkt sie, warum solle sie es nicht auch versuchen. Die letzte tiefe Enttäuschung hat derlei Gedanken in ihr aufkeimen lassen. Nach Italien, um zu leben, für immer.

Wenn Francesca sie Bekannten als „Alessandra" vorgestellt hat und sie mit ihnen zu plaudern beginnt, fragen diese nach ein paar Worten woher sie komme. Eine Ausländerin, man hört es ein wenig. Ob dies jemals aufhören würde, überlegt sie.

„Na und wenn schon...", schießt es in ihr hoch. Doch Alexandras Ehrgeiz, ganz und gar im anderen aufzugehen stellt sich dem entgegen. Sie kramt den kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche, betrachtet ihr Gesicht, zieht sich die Lippen rot nach. „Alessandra Komarek", flüstert sie ihrem Spiegelbild zu.

Alexandra möchte ihre schmerzvolle Vergangenheit hinter sich lassen, doch dies, denkt sie, sei erst möglich wenn aus Alexandra wirklich Alessandra geworden sei.

Francesca meint stets, wenn Alexandra sich wieder darüber beklagt, was ihr alles widerfahren sei, dass ihr derlei überall hätte geschehen können. Ferner, pflegt Francesca hinzuzufügen, sei Italien alles andere als das Gelobte Land. Für Alexandra ist es eine Art Rettungsring und dies allein genügt.

Pinienhaine zischen an ihr vorbei. Wie sehr Alexandra diese Landschaft liebt. Einmal hatte sie ein langes Gespräch mit Francescas Mutter. „Kind", meinte diese, „du hast nur ein Semester hier studiert und warst sonst nur auf Urlaub hier. Den alltäglichen Nervkram, die Bürokratie, die miese Politik, den ganzen Mist, den musst erst mal aushalten. Ist auch kein Paradies hier, nein, nein!"

„A Weanarin bleibt a Weanarin", hatte sie einmal von jemandem gehört. Der Zug fährt langsamer, durchfährt die ersten Vororte. Alexandra hebt die Reisetasche vom Gepäckträger. Ein paar Schienenschwellen schlagen noch. Sie ist angekommen. Als sie den Boden des Bahnsteigs berührt, weiß ihre innere Stimme, dass es für sehr lange Zeit sein werde, doch trotzdem das bleiben, was es war, mit ihrer Herkunft, mit ihrer Vergangenheit. Ein Hin und Her zwischen zwei Welten. Ein Leben so zwischen Wien und Rom.

 

Hallo Echnaton,

hat mir gut gefallen, Deine Geschichte. Eine Momentaufnahme im Leben eines Menschen, seine Gefühls- und Gedankenwelt. Ich vermisse hier gar nicht die große Handlung oder den Überraschungsmoment. Stattdessen kann man sich ganz gut in Alexandra hineinversetzen.

Über eine Stelle bin ich ein wenig gestolpert:

Sein Antlitz beginnt jedoch zu verschwimmen, wird allmählich zu undeutlichem Nebel, geisterhaft und leer.
Das ist sehr gut beschrieben, allerdings geht es mir ein bisschen zu schnell. Schon ein paar Stunden nach der Trennung von ihrem langjährigen Geliebten verdrängt die Vorfreude auf die geliebte Stadt Rom und auf die beste Freundin das Gesicht der großen Liebe? Ich hatte spontan gedacht: Na ja, so groß kann die Trauer ja nicht sein beziehungsweise die Liebe zu dem Mann.

Noch ein paar sprachliche Hinweise:
Mir sind ein paar Kommafehler und ein paar Groß-/Kleinschreibungs-Fehler aufgefallen. Wenn Du magst, schicke ich sie Dir per PM.
Ein paar Mal hast Du Gedachtes in Anführungsstriche gesetzt, in anderen Fällen nicht (vor allem bei gedachten Fragen). Vielleicht könntest Du das vereinheitlichen? Dann nach dem Muster: "Was auch immer?", fragte sie sich.

Wenn sie Francesca Bekannten als „Alessandra" vorgestellt hat
Das klingt so, als würde Alexandra Francesca vorstellen. Ich würde vorschlagen, einfach zu tauschen:
"Wenn Francesca sie Bekannten als..."

Sehr genial:

Nach Italien, um zu leben, für immer.
Man hätte auch sagen können: "Nach Italien, um hier zu leben, für immer." Aber so, wie Du es gemacht hast, hat man den Eindruck, dass Alexandra zurzeit mehr vor sich hin vegetiert statt richtig zu "leben", also das Leben auch zu genießen. Und dass sie hofft, ein Leben in Italien werde diesen Zustand ändern. Damit wird ihre Situation, ihre jahrelange Verzweiflung erst richtig greifbar.

Gesamtfazit: Eine schöne Geschichte, hat mir gefallen.

Viele Grüße
Kerstin

 

Hallo Echnaton,
Wie oft wünscht man sich, alles zu verändern, wenn die Seele weint. Deine Prot. sehnt sich nach Erfüllung ihrer Wünsche. Weil es im alten Leben nicht geklappt hat, soll ein neues Leben das gegebene Versprechen einhalten.
Auch wenn deine Prot sich entschieden hat, der Zweifel in ihr ist vorhanden. Denn Hin- und Hergerissen zu sein, lässt zumindest die Frage offen, ob ihr Verlangen befriedigt wird.

Mir hat deine Geschichte gefallen, vielleicht auch weil sie etwas distanziert geschrieben wurde.

Liebe Grüße
Goldene Dame

 

Servus Katzano,

danke fürs Lesen und Deinen Kommentar. Ich hab jetzt ein paar Fehler ausgebügelt, bin mir aber nicht ganz sicher, ob ich alles bemerkt habe. Leider bin ich in der neuen Rechtsschreibung nicht gar so sattelfest, verlaß mich da auf ein Umwandlungsprogramm. Deshalb tauchen immer wieder solche Fehlerlein auf, seufz!

Ich schreib an und für sich in der alten, doch irgendwie wirds dann ein Mischmasch, weil ja die Lektüre mittlerweile auch in der neuen verfaßt wird. Somit entstehen Unsicherheiten, was kein Grund zur Entschuldigung ist.

Das mit dem Verschwinden des Geischtes. Ich wollte die Zeitspanne offen lassen, durchschienen lassen, daß es schon ein wenig länger her ist, der Schmerz Alexandra aber noch ab und an quält. Werde darüber nachdenken, wie ich es besser rüberingen könnte.

danke nochmals und liebe Grüße aus Wien

Echna


Goldene Dame (dama d'oro),

herzlichen Dank auch Dir fürs Lesen und den Kommentar. Alexandra weiß im Grunde, daß es nicht möglich ist, seine Vergangenheit auszulöschen. Man bleibt doch immer, der man ist.

danke und herzliche Grüße aus Wien

Echna

 

Hallo Echna,
mir hat deine Geschichte auch sehr gut gefallen, zumal Rom meine absolute Lieblingsstadt ist.
Da musste ich natürlich sofort deine Geschichte anklicken.:)
Ich konnte mich sehr gut in Alexandras Gefühls-und Gedankenwelt hineinversetzen und ich denke, in so einem Fall ist es wirklich das Beste, wenn man irgendwo ganz neu anfängt und genügend Abstand bekommt.
Ich denke mal, Rom ist da bestimmt perfekt.:)
Zwei kleine Sachen, die mir beim Lesen aufgefallen sind:
"...sich die langen braunen Haare abschneiden lassen, neue Roben kaufen."
Ist Roben ein österreichisches Wort? Irgendwie klingt es zu heftig, ich fände Kleidung besser.

"Francesca meint stets, wenn Alexandra sich wieder darüber beklagt, was ihr alles widerfahren sei, dass ihr derlei überall geschehen hätte können."
hier klingt mE nach ...dass ihr dererlei überall hätte geschehen können... melodischer an.

Seufz, hab direkt mal wieder Lust bekommen, nach Rom zu fahren.

LG und schöne Weihnachten
Blanca

 

Liebe Blanca,

herzlichen Dank fürs Lesen. Das mit dem letzten Satz hab ich jetzt geändert, die Roben lass ich stehen, auch wenn es (auch hier in Österreich) ein wenig pathetisch klingt.

Ich hoff, ich aknn mir nächstes Jahr auch wieder einmal Rom gönnen, Neapel und Pompeii (war ich noch nie, seufz). Ich stell mir das so bildlich vor. Am Südbahnhof, der Waggon mit dem Schild Wien Sbhf Roma Termini und ich steig ein. Auf der Spanischen Treppe sitzen, am Tiberufer herumlatschen, das Kolosseum bei Nacht, beleuchtet, die Pinien, die Ruinen einer glorreichen Vergangenheit, die Via Veneto, Piazza Navona, Trevibrunnen, das Läuten der Glocken, der Pantheon, der Geruch Roms ist ja auch so anders...

seufz! Ist auch meine Lieblinggstadt jetzt abgesehen von Wien, unvergleichlich...


auch Dir Frohe Weihnachten

Echna (derzeit ein wenig an Fernweh leidend)

 

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