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Smiley
Kann sein, ich habe in den Augen meines Vaters gerade etwas Stolz aufflackern sehen. Dabei werde ich erst mal nur immatrikuliert, und natürlich überwiegt der vorauseilende Spott in seinem Blick: Das wird doch sowieso nichts!, aber Mum freut sich, und auch mein Bruder meint es ehrlich, glaube ich. Respekt, Kleiner, hat er geschrieben, haben die dich tatsächlich genommen! Und irgendwie bin ich selbst erstaunt, hier zu sitzen und diesem Dekan zuzuhören. Nach erfolgreichem Studium, sagt er, werden wir fähig sein, die Zukunft des Landes zu errichten: Im wahrsten Sinn des Wortes! Er hat Spaß an dieser Parallele, das kann man sehen; ich könnte wetten, er sagt das jedes Jahr. Hinter mir quengelt ein Kind. Pssst!, macht jemand – lauter als das eigentliche Gejammer. Vornehmes Hüsteln und zarte Parfümwolken schweben durch den Raum, verflüchtigen sich in der strengen Luft der Aula. Meine Hose ist zu weit. Ich rutsche auf dem Stuhl hin und her, umfasse den Stoff an den Oberschenkeln, bis er eng an den Beinen anliegt. Irgendwo klingelt ein Handy. Schschsch! Der Dekan gerät ins Stocken. Das Handy von einem alten Kiffer wahrscheinlich, der sich einen Bob-Marley-Song als Klingelton heruntergeladen hat. Zwei Sekunden höchstens, dann höre ich das Meer rauschen. Rieche die Brandung, denke an die letzten Ferien.
Ich war allein unterwegs, lag im Sand und beobachtete die Surfer.
Ich bin allein unterwegs, liege im Sand und beobachtete die Surfer.
Die Surferinnen.
Eine bestimmte Surferin, die unermüdlich ins Wasser fällt, ohne nur annähernd zum Stehen zu kommen. Ich beobachte ihr Lachen, die salzverklebten Haare, die sie sich aus dem Gesicht schüttelt, und den Neoprenanzug, der sich an ihren Körper schmiegt wie eine schwarz glänzende Haut. Sie legt sich bäuchlings aufs Board, paddelt ein Stück hinaus, geht in den Liegestütz, zieht das rechte Knie an, versucht, das linke … und verschwindet in einer Welle. Ich nehme mir vor, nach ihr zu tauchen, falls es sein muss. Aber sie kommt immer wieder zum Vorschein, flucht, lacht und wirft den Kopf zur Seite wie eine Tangotänzerin.
Ich muss daran denken, wie ich ein paar Jahre zuvor mit meinem Bruder genau so im Sand gelegen und den Surfern zugeschaut habe.
Ich liege im Sand neben meinem Bruder und schaue den Surfern zu.
Wie geil das sein muss, das zu können, sage ich und blinzle gegen die Sonne. Wie sie ihre Bretter übers Meer treiben, als würden sie Steilhänge aus flüssigem Glas hinabjagen! Wie sie für einen magischen Moment mit den Wellen verschmelzen, als hätten sie sich gegenseitig erschaffen!
Einfach geil, oder?, sage ich nochmal.
Mein Bruder blickt von seiner Formelsammlung hoch und zuckt mit den Schultern.
Weiß nicht, sagt er, macht mich jetzt nicht so an. Das ganze Gefuchtel und Getue, und am Ende landen sie doch alle mit der Fresse im Wasser.
Na ja, ich finde die Surfer trotzdem cool. So makellos in diesen glatten Neoprenanzügen. Bei ihren Dehnungsübungen am Strand lassen sie die Ärmel an der Hüfte herunterbaumeln, drehen die Oberkörper kraftvoll von links nach rechts und sehen aus wie Zentauren ohne Mittelteil.
Kann ich 'nen Surfkurs machen?, frage ich meinen Vater, und Mum sieht ein bisschen so aus, als wäre sie dabei.
Na klar, sagt er, sonst noch Wünsche? Kümmere du dich erst mal um deine SCHULE!
Irgendwann merke ich, dass meine Haut langsam verbrennt, und im selben Moment kommt dieses Mädchen auf ihrem Board zum Stehen; den Blick nach vorn gerichtet, die Knie gebeugt, die Arme ausgestreckt wie eine Kung-Fu-Kämpferin. Im Spotlight der tiefstehenden Sonne fährt sie einen Wellenrücken hinab. Ich bin ein bisschen stolz, als wäre das mein Verdienst; also schaue ich weiter zu, bis sie ans Ufer kommt, die Haare aus der Stirn schleudert und ihre Hülle zur Hälfte abstreift. Ich tue so, als würde ich eine Sandburg bauen. Schließlich klemmt sich die Surferin das Board unter den Arm und stapft an mir vorbei – die Ärmel zwei Schwänze, die gegen die schwarzen Oberschenkel schlagen. Ich glaube, sie hat mich gar nicht wahrgenommen, aber plötzlich bleibt sie stehen und dreht sich um. Lächelt mich an, einfach und ungekünstelt wie ein Basic-Smiley, und ich lächle zurück.
Am Abend sehe ich sie wieder, in dieser Strandbar mit dem zerfetzten Strohdach.
Hi, sage ich. Die Meeresbrandung klingt wie tosender Applaus.
Hi, sagt sie, macht das Shaka-Zeichen und lacht, dich kenne ich doch, du bist der Sandkünstler, krasser Sonnenbrand übrigens.
Jemand drängelt sich an uns vorbei, stolpert und verschüttet sein halbes Bier über meinem Arm. Sorry, Dude, murmelt er und geht weiter.
Jedenfalls wird man damit nicht so leicht übersehen, sage ich und lecke meinen Unterarm ab. Unser Lachen katapultiert uns mitten ins Gespräch: Sie ist für ein Jahr als Au-Pair hier, danach wird sie mal schauen, sie weiß noch nicht genau – erst mal surfen. In ihren Augen überschlagen sich grüne Wellen.
Und du so?, fragt sie.
Ja, ich, sage ich und nehme einen Schluck von meinem Super Bock. Reggae-Sound und Marihuanaschwaden wabern hinauf in den Nachthimmel, der Mond grinst bekifft übers Meer und ich muss an früher denken. An die Kugelbahn, an meinen Bruder und an Smiley.
Dein blöder Smiley verstopft sowieso wieder alles, sagt mein Bruder. Er baut mit mir eine Kugelbahn, obwohl er längst zu groß dafür ist, wie er findet; er ist schon zwölf. Wir haben so ein Set mit allem Drum und Dran, komplett aus Holz: Schienen und Spezialsteine, die um die Ecke führen, ein Zick-Zack-Element und diesen Richtungswechsler, bei dem sich die Kugeln selbst entscheiden müssen, ob sie nach links oder rechts oder nach hinten wollen; eine Schanze und schließlich die kleine Glocke, die von den Siegerkugeln angetippt werden muss, bevor sie in den Auffangbecher fallen.
Okay, du bist dran, sagt mein Bruder, nachdem wir abwechselnd unsere Murmeln ausgewählt haben, wie in Sport, wenn die Mannschaften für Völkerball zusammengestellt werden. Meine Lieblingskugel ist grün – so ein bestimmtes Grün, das man nicht richtig beschreiben kann, bei dem man einfach weiß: Genau so muss es sein. Auf der Oberfläche sind zwei Luftblasen nebeneinander und darunter so was wie ein Strich: Smiley. Er ist ein bisschen größer als die anderen und bleibt manchmal in einem der Umlenksteine stecken. Jetzt auch wieder. Also müssen wir eine Rettungskugel losschicken, die ihn dort rausholt, und er wird natürlich disqualifiziert und mein Bruder sagt Boah, Junge, dein blöder Smiley wieder. Und nun behindern sich die beiden Kugeln gegenseitig: Smiley springt aus der Schiene, klackert übers Parkett, rollt unter den Schrank zu den Wollmäusen, und unser Vater ruft, dass wir aufhören sollen, diese verdammten Glasmurmeln durch die Gegend zu werfen. Mum scheppert irgendwo mit den Töpfen und sagt Mach mal halblang!, – das sagt sie meistens, oder Nun krieg dich wieder ein!
Ich singe so ein Lied mit, das im Radio kommt, Grüffelo Soldscher, und sortiere meine Ersatzkugeln nach Farbe. Buff, du Genie, sagt mein Bruder und verdreht die Augen. Er hat jetzt keine Lust mehr, mit mir zu spielen. Es wäre eh völlig sinnlos, so einen Mordsaufwand zu treiben und eine komplizierte Kugelbahn zu bauen, nur um ein paar bescheuerte Murmeln nach unten zu befördern, die man auch gleich unten lassen könnte.
Also mache ich alleine weiter. Ich schummle ein bisschen, gebe Smiley Vorsprung und lasse ihn öfter an den Start. Ich weiß genau: Wenn er sich erst mal richtig anstrengt, dann schafft er es auch um die Kurve. Ein paarmal springt er aus der Bahn, aber ich glaube, es wird langsam. HerrGOTTnochmal!, ruft mein Vater – und keine Ahnung, ob es ist, weil er so angestampft kommt oder weil ich den einen Eckstein etwas verschoben habe, jedenfalls kracht die ganze Kugelbahn tosend in sich zusammen. Das ist ja nicht zum AUShalten! brüllt mein Vater; er steht jetzt neben mir, schüttelt den Kopf und murmelt, was auch immer mal aus mir werden wird, wenn überhaupt jemals etwas, dann auf keinen Fall ein Architekt.
Wow, sagt sie, Architektur! Das wäre doch total schwer, da überhaupt genommen zu werden.
Ach, sage ich, kein Ding, – und ich denke an die letzten Jahre, an Mathe und Physik, und wie ich mich trotzdem durchs Abitur gequetscht hatte; an die Eignungstests und all die Nächte mit den Skizzen und Entwürfen für meine Mappe: fragile Hirngespinste und hochgestapelte Luftschlösser, die so auszusehen versuchen, als könnte sie einer bauen; ich denke an die Verzweiflung, die Zweifel und an die Frage, warum ich nicht gejubelt habe, als die Zusage kam. Und, fragt sie – sie heißt Paula, aber ich nenne sie Smiley –, willst du Surfen lernen, ist ganz einfach, kann ich dir zeigen.
Und sie zeigte mir alles.
Die Wellen gehörten uns und wir gehörten den Wellen, bis sie zurück mussten, am Meeresgrund entlang tauchten, um am Ende der Welt erneut gegen das Ufer zu branden.
Ich blinzle gegen den Kronleuchter und denke an Smiley. Frage mich, ob das so sein muss, dass mein Vater am Ende immer recht behält. Jedenfalls stehe ich jetzt auf und zwänge mich an ihm vorbei, während er noch die Großbuchstaben in seinem Mund sortiert, und vorbei an Mum, die ein bisschen so aussieht, als will sie mitkommen – aber da trabe ich schon durch den Mittelgang Richtung Foyer; das Gehüstel und die Parfümwolken perlen in kleinen Tropfen von meiner Jacke ab und die salbungsvollen Worte des Dekans verschwinden unter den Schuhsohlen; Woy-yoy-yoy habe ich jetzt als Ohrwurm im Kopf, ein Stück von diesem Song; ich stelle mir meinen Bruder vor, wie er sich mit den Fingern durch die BWL-Frisur fährt und ich stolpere über ein Paar ausgestreckte Füße, remple beinahe so ein Kleinkind um, das im Weg herumsteht; es hat ein Doppelkinn und guckt so beleidigt, dass ich jetzt schon weiß, wie es mit fünfzig aussehen wird, Sorry, Dude, sage ich zu ihm und laufe weiter, um die Ecke ins Treppenhaus und die Stufen hinab: dadapp, dadapp, da-woy-yoy yoy-yoy – rutsche das letzte Stück am Geländer runter, springe in die Höhe und klatsche im Flug den Türrahmen ab. Shaka!
Ich bin draußen.
Hinter mir ertönt ein Geräusch, das klingt wie schallender Applaus. Aber vielleicht klingt es nur so; vielleicht sind es die Steine, die übereinanderklackern, weil das Haus in sich zusammenfällt.
Der Mond leuchtet mir ins Gesicht.
Ich nicke ihm zu und mache mich auf den Weg. Ich bin ein Zentaur, der ans Ende der Welt galoppiert.