Also bei mir ist der Ich-Erzaehler im Praesens schon immer, seit ich meine ersten Geschichten, damals noch mit Igelprotagonisten, verfasst habe, meine Erzaehlperspektive. Ich kann da gar nicht legitimerweise von Wahlperspektive sprechen, denn bewusst dafuer entschieden habe ich mich eigentlich nie, obwohl man das wohl tatsaechlich auf den Text abstimmen sollte. Und wenn ich mal was anderes versuche, fuehlt sich das oft kuenstlich und fremd an.
Insofern stimmt das wohl, was Moechtegern von Irving zitiert:
Bei John Irving hab ich mal irgendwo gelesen, "junge" Romanautoren würden fast immer mit Romanen in der Ich-Perspektive anfangen und irgendwann später darauf kommen, dass man mit anderen Perspektiven viel mehr anfangen kann.
Wenn man relativ unreflektiert schreibt, oder zumindest perspektiviert, denkt man erstmal vom eigenen Erleben aus. Also ist meine Lieblingsperspektive wohl hauptsaechlich ein Symptom meiner postpubertaeren Egozentrik, aber auch so ein bisschen Realismusillusion: Jeder Mensch erlebt doch die Welt aus Ich-Perspektive im Praesens.
Klar kann man schriftstellerisch am meisten reissen, wenn man ueber das gesamte Repertoire an Perspektiven souveraen verfuegt, je nach Textintention halt. Aber ob man wirklich mehr mit anderen Perspektiven machen kann? Wahrscheinlich ist der auktoriale Erzaehlmodus da insgesamt am flexibelsten, weil dieser ja theoretisch alle anderen Perspektivformen (interne Fokalisierung etc.) passagenweise enthalten kann. Finde ich auch reizvoll. Aber es ist schwierig, dafuer eine moderne Form zu finden, die nicht zu artifiziell wirkt und sich vor allem auch in Kurzgeschichten umsetzen laesst.
Also ich schaetze den Ich-Erzaehler wegen seiner Unkompliziertheit (im Vergleich zu solchen Perspektivmischungen) und vor allem seiner Unmittelbarkeit. Das in andere Koepfe Hineinschluepfen ist fuer mich einer der Hauptreize von Schreiben und Lesen. Andererseits kann man Unmittelbarkeit ja auch in der 3. Person, stream of consciousness-maessig erzeugen. Die Reflektorerzaehlung ist ja Standard der realistischen Literatur. Einen Vorteil gegenueber der Ich-Erzaehlung sehe ich bei der Reflektorerzaehlung in der dritten Person eher dann, wenn sie leicht flexibel gehandhabt, die gewaehlte interne Fokalisierung also nicht streng durchgehalten wird und man auch andere Figurenwahrnehmungen oder versteckte Erzaehlerbewertungen mitbekommt (auch durch so Grenzfaelle wie free indirect speech), die die Wahrnehmung des eigentlichen Perspektivtraegers relativieren - also dann doch, wenn diese Perspektive insgesamt wieder leicht in Richtung Nullfokalisierung/auktoriale Erzaehlung tendiert.
Wenn der Erzaehler nicht identisch mit dem Perspektivtraeger ist, hat das natuerlich auch den Vorteil, dass man auch sprachlich flexibler ist. Man kann den Grad der Fokalisierung etwas variieren, darf nicht nur in einer Sprache sprechen, die genau der Sprache des Perspektivtraegers entspricht. Bietet sich zum Beispiel bei einfacher gestrickten Figuren an, wenn man sich sprachlich nicht so auf deren Ausdrucksmoeglichkeiten einschraenken will, wobei das natuerlich den Effekt der Unmittelbarkeit kompromittiert, wenn man sich sprachlich so von seiner Figur distanziert. Und Entlarvung des Sprechers durch seine Sprache ist eine meiner liebsten Schreib- und Lesetechniken, das wuerde ich ungern aufgeben.
Ein weiteres Problem beim Ich-Erzaehler koennte die Bestimmung der Erzaehlsituation sein: Aus welcher zeitlichen Position spricht der Ich-Erzaehler da zu wem? Ich glaube der Erzaehler in der dritten Person, also der der in der Reflektorerzaehlung selbst kaum in den Vordegrund tritt, ist in der Erzaehltradition so etabliert, das man sich diese Fragen nicht stellt, ihn nicht im vollen Sinne als Person mit bestimmbarer zeitlichen und raeumlichen Position wahrnimmt. Aber der Ich-Erzaehler ist ja eindeutig ein Mensch und da stellt man sich diese Fragen eher. Natuerlich kann man das loesen, indem man ihn raeumlich und zeitlich verortet, ihm einen Erzaehlrahmen gibt, in dem er seine Erlebnisse etwa aufzeichnet, oder einer anderen Figur erzaehlt, oder ihn zum Leser direkt sprechen laesst. Aber das ist nicht mein Weg, ich ignorier die Erzaehlsituation gerne und tue so, als beduerfe sie keiner Bestimmung, wie beim Erzaehler in der 3. Person.
Das Problem der Bestimmung der Erzaehlsituation stellt sich m.E. auch weniger beim Ich-Erzaehler im Praesens - also wenn man erst einmal die grundsaetzliche, unrealistische Tatsache, dass da einer denkt und wahnimmt und das zugleich in einen unbestimmten Raum hinein erzaehlt (wenn er nicht so ne betonte Plauderei mit dem Publikum inszeniert), als Erzaehlkonvention akzeptiert hat. Meine Ich-Erzaehler sprechen eigentlich immer im Praesens. Das ist wieder durch die Unmittelbarkeit begruendet. Ich will nicht, dass meine Ich-Erzaehler sich im Nachhinein von seinen Gedanken distanzieren. Das kann natuerlich auch sehr reizvoll sein, war es aber bisher fuer mich nicht so - und es bleibt ja immer noch der Rueckblick. Ich mag ja eh nicht, wenn Ich-Erzaehler so ueber sich selbst rumreflektieren und dem Leser das Denken abnehmen. Ich will den Leser moeglichst unmittelbar in die Situation mit hineinnehmen, dass er sieht was Ich sieht und fuehlt was Ich fuehlt und eben nur sieht, was Ich in der Situation denkt, nicht, was Ich im Rueckblick daraus macht. Also der Ich-Erzaehler im Praesens ist fuer mich das Maximum an Fokalisierung. Genette hat ja zurecht darauf hingewiesen, dass Ich-Erzaehler und erlebendes Ich ausser in der Ich Erzaehlung im Praesens erstmal zu trennen sind, weil der Ich-Erzaehler sich eben nicht zwangslaeufig fokal auf den Wahrnehmungshorizont des erlebenden Ichs einschraenken muss, weil er mehr weiss und im Nachhinein anders urteilen kann. Das erzeugt eben tendentiell Distanz.
Was war nochmal die Frage? Ach so, nee, Texte im Praesens und/oder der Ich-Perspektive finde ich persoenlich nicht unangenehm. Koennte mir nur vorstellen, dass manche nicht so gerne in den Kopf eines anderen hineingezwungen werden, passiert mir auch manchmal bei unsymphatischen Ich-Erzaehlern, aber das wuerde ich der Ich-Perspektive nicht grundsaetzlich anlasten.