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Silvesterpilze: umami
Durst. Ich hatte schrecklichen Durst. Aber niemand kam. Das heißt, nicht sofort. Ich war wohl eine ganze Weile weg gewesen. Erst als die beiden Kerle unter mir zu streiten anfingen kam ich zu mir. Ich konnte mich nicht bewegen, war wie gelähmt, konnte kaum denken. Schwarze Schatten, weiße Lichter.
„Hey Helmut, was issn los mit dir, bist den ganzen Abend schon so schweigsam, Mann!“, begann der erste.
„Pilzragout nenne ich was anderes!“ Helmut, wie ich vermutete. „Verkohlte Soße, die Pilze schwammig und aufgeweicht wie Marshmallows und kein Fleisch! Eines Raumschiffcaptains unwürdig, absolut unwürdig!“
„Wir sind hier nicht auf der Erde, vergiss das nicht.“
„Keine Sekunde. Wer kann denn ahnen, dass wir an Silvester auf diesem Drecksplaneten Callos hängen bleiben, auf dem man nicht mal einen ordentlichen Teller Pilzeintopf bekommt. Ohne Champignons beginnt das Jahr wie ein Griff ins Klo, das weißt du doch, Peter.“
„Jaja, und ich bräuchte ein fetttriefendes Perlhuhn. Reg dich nicht auf, immerhin hatten sie deine Schwammerl auf der Karte. Ich musste auf meinen Vogel verzichten.“
Ich lauschte, konnte nicht sprechen, beobachtete, konnte mich nicht bewegen. Das Licht dreier Monde fiel durch die Luken des Raumschiffes, kleckste bizarre Schatten der beiden auf die Wände. Der schwarze Sternenhimmel spiegelte sich auf dem Marmorboden und erinnerte mich daran, dass es noch etwas anderes außerhalb dieses Schiffes gab. Vielleicht konnte ich es erreichen, wenn ich mir nur genug Mühe gab.
„Perlhühner! Du bist ein fähiger Bursche, Peter, aber … Moment mal! Wo zum Teufel ist das Bleb-Molekül abgeblieben, hä, sag schon, du Trottel!“
„Was? Aber es war doch noch da, bevor wir zur Silvesterparty gegangen sind“, gab Peter zur Antwort, während er den Captain vom Elektronenmikroskop wegschob und selbst hindurchspähte. Er trommelte abwechselnd mit Zeige- und Mittelfinger gegen sein Kinn. Beide schwiegen, seltsam elektrisiert, wie ich mir einbildete.
Erst jetzt wurde ich der gewaltigen, schwarzglänzenden Säulen gewahr, die sich vom Boden zur Decke bohrten wie fette Schlangen. Ihre Oberfläche schien sich zu bewegen wie lebendiger Schleim, der zur Erde floss. Er glitzerte wie Diamantensplitter. Wo war ich? Hing ich an der Decke dieses eigenartigen Schiffes? Wozu? Wer war ich überhaupt? Ich bekam Angst. Wer war ich?
„Weg“, stellte Peter lapidar fest und trat zurück.
„Unwiderruflich?“
Peter nickte, zog den Kopf ein und die Schultern hoch. Offenbar war es nicht das erste Mal, dass er Prügel oder was auch immer vom Captain bezog.
„Dann such es, du Stümper! Weit kann es nicht gekommen sein. Es hält sich bestimmt noch innerhalb des Schiffes auf. Los, fang schon an!“, befahl Helmut.
Irgendwie gelang es mir, meine Angst zurückzudrängen, ich wurde neugierig. Wer ich war und warum ich offenbar von der Decke eines Raumschiffes zweier Trottel hing, die ich nicht kannte, konnte ich später herausfinden. Hätte ich doch auf die warnende Stimme meines Unterbewusstseins gehört, dann hätte ich die Bedeutung des Wortes Schlamassel niemals kennengelernt. Und Pilzragout. Verdammt aber auch!
Peter zog ein Gerät aus einer Schublade, das mich an eine riesige Untertasse aus Porzellan erinnerte und drückte ein paar unsichtbare Knöpfe. Zischlaute erklangen, unterbrochen von einem Knacken und die sich in regelmäßigen Abständen wiederholenden Aufforderungen des Captains, Peter solle sich gefälligst beeilen. Mit der Untertasse zwischen den Fingern und einem Gesicht, das angewiderte Gleichgültigkeit ausdrückte, begann der Mann seinen Streifzug durch die turmhohe Halle, aus der der gesamte Innenbereich des Schiffs bestand.
Ich verfolgte seine Bewegungen bald nur mehr aus dem Augenwinkel, zu meinem Durst hatte sich nämlich ein entsetzlicher Hunger gesellt, der in meinen Eingeweiden pulsierte. Wann hatte ich das letzte Mal etwas gegessen? Ich konnte mich nicht erinnern, genaugenommen an überhaupt nichts, das ich je zu mir genommen hätte.
Während ich über Salz und Pfeffer, Milch, Schlagsahne und Zartbitterschokolade mit Trüffeln sinnierte, spürte ich plötzlich etwas neben mir. Eine Präsenz, sie war ganz nah.
Mein Herz kristallisierte zu einer Eisblume. Ich fühlte mich bedroht, ohne sagen zu können, weshalb. Und dennoch … ich war nicht mehr allein … war ich denn je allein gewesen? Ich wusste es nicht. Pilzragout dachte ich, und kam mir dämlich dabei vor.
„Hier oben!“, rief Peter in die Tiefe. Ich konnte ihn jetzt genau erkennen. Seine schwarzen Haare, die glänzten wie Raabenfedern, seinen teigigen Teint, die Züge, die durch ein Grinsen entstellt wurden und Zähne wie Kohlenstücke entblößten. Er tippte wieder etwas in die Tasse.
„Kein Wunder, eigentlich“, schrie er nach unten, „hier ist es feucht und warm. Kannst du dich an die Schokonudeln mit Champignons von vor drei Wochen erinnern?“
„Klar doch. Waren scheußlich. Komm zum Punkt, Peter.“
„Nun ja, die Klimaanlage der Mistabels dürfte nicht alle Sporen aus der Luft entfernt haben. Gottverdammtes Billigangebot! Hier oben hat sich eine ganze Kolonie angesiedelt.“
„Wie bitte?“
„Na, ich schätze bereits die vierte Generation. Vom Uropa bis zum Champignonenkel. Genau der richtige Platz für Bleb, um sich festzusetzen und zu aktivieren.“
„Soll das heißen, wir haben eine Champignonfamilie mit künstlicher Intelligenz belebt?“
„Mit organisch-künstlicher, um genau zu sein.“
„Wie spät haben wir’s?“
„Wieso?“
„Wie spät, Peter?“
„Beinahe halb zwölf, Captain. Warum?“
„Pflück sie in den Scanner.“
„Wozu?“
„Mach schon, Mann. Es ist Silvester, schon vergessen?“
„Na schön, wie du meinst, du bist der Boss. Und das Bleb-Molekül?“
„Reproduzieren wir. Jetzt demonstriere ich dir, wie ein Pilzragout wirklich zu schmecken hat.“
Alles, was danach gesagt wurde, verschwand in einer Mischung aus Agonie und Schmerzen. Ich wusste nun, was ich war.