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Sie kamen aus dem Boden
Der Wald lag friedlich, nachdem der schwere Nebel sich gelichtet hatte, und bevor die Maden den Boden wie eine vibrierende breiige Masse aussehen ließen.
Wolken hatten sich vor den Mond geschoben, rissen wenig später auf, wie ein zu lange in der Sonne gelegener Kürbis. Ein Käuzchen ließ seinen schauderhaften Ruf durch die dunklen Wipfel erschallen; beinahe klang es ängstlich, als hätte es sich erschreckt.
Die Luft roch nach feuchtem Laub gepaart mit alternden Fichtennadeln. Noch einmal hallte der Käuzchenschrei durch die Nacht, dann war der Laut verstummt. Bedrückende Stille legte sich wie ein schweres Leichentuch über den modrigen Boden.
Laub begann sich zu bewegen, rieb aneinander, sich liebender Körper gleich, zunächst sanft, dann immer fordernder werdend. Ekstatisch.
Nadeln hoben sich, als hätten sie eine in der Luft liegende Witterung aufgenommen. Zwischen den langen Schatten glänzten Sekunden später winzige weiße Körper, verdrängten das Liebesspiel der Blätter. Schmatzende Laute waren zu hören.
* * *
„Marie, Peter! Kommt, es ist Schlafenszeit.“
„Gleich, Dad.“
Die Zwillinge standen auf einer kleinen Holzbank vor dem Fenster und blickten hinaus. Das alte Farmhaus lag in vollkommener Dunkelheit. Wieder hatte sich eine schwere Wolke vor den Mond geschoben.
Im Kamin flackerte ein Feuer, vor dem die Mutter der Zwillinge in einem Schaukelstuhl saß und Socken stopfte. Sie lächelte sanft, blickte ab und an auf, legte den Kopf schief und betrachtete ihren Mann, der auf einem Schemel hockte und an einer Holzskulptur schnitzte.
„Dad, da draußen ist irgendetwas“, flüsterte Peter, wobei sein Atem für einen Augenblick die Scheibe vor seinem Mund beschlug. Seine Schwester schirmte mit ihren kleinen Händen ihr Gesicht ab.
„Was sagst du, Junge?“ Jones Caan blickte auf. Auch die Mutter unterbrach ihre Arbeit.
„Irgendwas ist da draußen.“
„Ja, Dad“, Marie drehte sich herum, „Peter hat Recht. Es hat geleuchtet. Da hinten. In der Nähe des Waldes.“
Ihr Vater in dem verwaschenen Holzfällerhemd legte den Scheit beiseite, wischte die Hände an der Kordhose ab und stand auf. Trotz seines geringen Alters hatte er bereits einen leichten Buckel.
„Ihr wollt euch vorm Zubettgehen drücken, stimmts Kinder?“ Er lächelte zu seiner Frau herüber, die mit glänzenden Augen seine Geste erwiderte.
„Ach, die Guten“, sagte sie sanft. „Sei nicht zu hart mit ihnen, Jones. Sie sind doch unser Geschenk Gottes.“
Er warf ihr einen Kuss zu. Sie warf einen zurück. Lächelnd.
„Ganz bestimmt nicht, Dad“, sagte Peter jetzt wesentlich aufgeregter. „Warte, bis der Mond wieder hervorkommt.“
Die sechsjährige Marie stieg von der kleinen Fußbank, auf der sie und ihr Bruder gestanden hatten und zog ihr Nachthemd enger um die Beine; es sah aus, als fröre sie.
Ihre Mutter legte das Stopfwerkzeug auf den Holzboden und breitete ihre Arme aus. Marie rannte auf sie zu und hockte sich auf ihren Schoß.
„Es sah aus, als würde der Boden leben“, flüsterte sie. Ihre Mutter erschauderte.
„Ach, mein Kind.“ Ihre von der Feldarbeit rauen Finger strichen sanft durch das Haar der Tochter.
* * *
Der Waldboden war mittlerweile von einer wabernden, weißen Schicht bedeckt. Milliarden schleimiger Körper wanden sich durcheinander, bildeten einen undurchdringlichen Brei. Zunächst sah es aus, als strudelten sie sich in einem hirnlosen Konzept, schlicht instinktgesteuert, ohne Ziel, ohne Aufgabe.
Einige erklommen die Stämme der umstehenden Bäume, andere fraßen sich durch faulendes Laub. Kein Laut war zu hören.
Mit einem Mal erstarrten sie in ihrer Bewegung, schienen zu lauschen. Dann setzten sie ihre rhythmischen Zuckungen fort, doch diesmal folgten sie einer unsichtbaren Linie. Alle sammelten sich an einem zentralen Punkt, schoben sich von dort in einer etwa zehn Meter breiten Straße Richtung Waldrand.
Wie eine überdimensionale Ameisenstraße wand sich Körper an Körper in harmonischem Gleichklang.
Etwas schien sie anzulocken.
* * *
„Also ich kann beim besten Willen nichts erkennen, Kinder.“ Marie und Peters Vater stand jetzt ebenfalls am Fenster, schirmte sein Gesicht ab, wie zuvor seine Tochter.
„Warte bis die Wolken weg sind, Dad.“ Peter war aufgeregt.
Jones Caan blickte nach oben. „Das kann lange dauern, Sohn.“ Er legte seine Hand auf die Schulter des Jungen.
Ein Poltern ließ ihn herumfahren. Er blickte in die erschrockenen Gesichter seiner Frau und seiner Tochter, die zur Tür starrten.
„Was war das, Dad?“, fragte Peter mit zitternder Stimme. Mit großen Augen sah er seinen Vater an, dessen Brustkorb sich schnell hob und senkte.
„Hol das Gewehr, Frau“, sagte Jones leise. Auch er blickte jetzt zur Tür, vor der es erneut rumorte.
Seine Frau hob Marie von ihrem Schoß, stand auf und ging schnellen Schrittes in die hintere Kammer. Wenig später kam sie mit der Schrotflinte zurück. „Oh mein Gott, Jones.“
Kurz darauf stand der Vater neben der schweren Holztür, die Flinte dicht an die Brust gepresst. Sein Herz raste; er spürte ein Kribbeln in seinem Buckel.
Die Zwillinge umklammerten den Rockzipfel ihrer Mutter, die jetzt nicht mehr lächelte.
„Was ist da draußen?“, fragte Peter noch einmal, doch man sah ihm an, dass er es eigentlich gar nicht wissen wollte.
„Pscht“, machte sein Vater und legte das Ohr an das Holz.
* * *
Die Maden hatten das Farmhaus erreicht, wanden sich über das Holz der Verandatreppe. Wenig später war die Veranda weiß. Die Körper entdeckten das Licht, das durch den schmalen Spalt unter der Tür hindurchdrang.
* * *
Jones Caan schrie, als die schwere Holztür aus den Angeln riss und auf ihn stürzte.
Der Schrei seiner Frau und der Kinder klang in dem Getöse wie einer.
Ein grauer Teppich aus winzigen Leibern quoll über die Holztür; sie glänzten im flackernden Kaminlicht der Hütte.
Jones versuchte unter der Tür hervorzukriechen, das Holzfällerhemd riss und legte den muskulösen Oberarm frei. Er warf die Tür mit einer kurzen Kraftanstrengung zur Seite. Tausende von Madenkörper zerplatzten, und weißlich grüner Schleim spritzte gegen die aufgestellten Schuhe neben der Haustür.
Jones griff nach der Schrotflinte, die etwas abseits lag. Er sah die winzigen Körper, die sich auf seine nackten Füße zubewegten. Dann drang ein Schrei an seine Ohren. Zunächst dachte er, es wäre der seiner Frau und seiner Kinder, doch stellte er kurz darauf fest, dass es sein eigener war, als sich die Maden unter seine Zehnägel fraßen.
Er riss die Doppelläufige nach unten, krümmte den Finger. Die Explosion platzte durch die kleine Hütte, und er spürte den dumpfen Schlag, als das Schrot seine Füße aus der Tür hinaus auf die Veranda fetzte. Sein Schrei verstummte, und er kippte nach hinten.
Sekunden später war sein Körper unter einer wimmelnden Schicht begraben. Schmatzende Laute wallten durch den Raum.
Immer mehr Maden schoben sich durch den offenen Eingang ins Haus. Einige wurden immer näher an das prasselnde Kaminfeuer gedrückt; je näher sie dem Feuer kamen, desto heißer wurde ihr Lebenssaft, bis er zu kochen begann und die Körper mit einem leisen „Plopp“ platzten.
Minuten später barst auch der Körper von Jones Caan, und rote Maden wappten aus der breiigen Schicht hervor.
* * *
Als die Schreie verstummt waren, trat der Mond wieder zwischen den Wolken hervor. Das alte Farmhaus wirkte friedlich.
Die Maden hatten wieder ihre Ameisenstraßen-Formation eingenommen; einige von ihnen hatten inzwischen die Größe eines Daumens angenommen, andere waren so dick und lang wie der Unterarm eines erwachsenen Mannes. Der Fluss bewegte sich in Richtung der winzigen Lichtpunkte am Horizont.
Die weit entfernte Stadt lag friedlich, als der Mond hinter einer erneuten Wolkendecke verschwand.
Ein Käuzchen schrie.