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Sein Dorf
Am Anfang waren es nur vereinzelte Meldungen aus entlegenen Landesteilen: Man habe Monster gesichtet. In der anbrechenden Abenddämmerung seien sie in Gruppen unterwegs. Immer öfter würden sich immer mehr von ihnen zusammenrotten.
Parmen konnte es nicht recht glauben. Alle Monster waren in der großen Schlacht Jahrzehnte vor seiner Zeit vernichtet worden. So hatte man es ihm als Kind erzählt.
Auf seinem Weg zum Feld querte er jeden Morgen das Dorf, in dessen Mitte das Denkmal zur Erinnerung an die Opfer der Monster errichtet war. Ausgemergelte Marmorfiguren wanden sich dort mit schmerzverzerrten Zügen unter dem krallenbewehrten Tritt eines granitenen Unholds. Lange hatte Parmen das düstere Bauwerk kaum beachtet, so gewöhnt an dessen Anblick, dass er es schon nicht mehr bewusst wahrnahm. Aber seit sich die Berichte häuften, konnte er nicht daran vorbeigehen, ohne kurz den Kopf zu senken, wohlig schaudernd und im dankbaren Gedenken an die Helden des Kampfes gegen die Ungeheuer.
Ihm begannen Dinge aufzufallen, denen er früher keine Bedeutung beigemessen hatte: ein vorbeihuschender Schatten gerade außerhalb seines Blickfeldes, ein seltsam gebogener Fingernagel an der Hand eines fahrenden Händlers, ein wildes Funkeln in den Augen eines Nachbarn. Er lachte dann jedesmal leise und schüttelte verlegen den Kopf.
Indes wuchs seine Besorgnis mit jedem weiteren Ausruf des Gemeindeboten. Nun wurden bereits Sichtungen am hellichten Tag gemeldet. Bis zur Hauptstadt seien die Unwesen vorgedrungen. Niemand wusste, woher sie kamen. Der Ortsvorsteher wiegelte ab. Das seien nicht die gleichen Monster wie vor der großen Schlacht. Es gehe keine Gefahr von ihnen aus. Trotzdem sah sich Parmen jetzt sorgfältig um, bevor er auf die Straße trat. Und wenn er pflügte oder jätete, behielt er den Waldrand im Auge.
Eines Abends, als er mit dem Rechen über der Schulter auf dem Weg nach Hause die Dorfmitte durchschritt, bemerkte er mit Entsetzen, dass jemand das Denkmal geschändet hatte. Einer der Opferfiguren war der Kopf abgeschlagen worden, einer anderen fehlten die Arme. Die Inschrift war mit blauer Farbe beschmiert und unkenntlich gemacht. Nun stand es fest. Die Monster waren auch in sein Dorf gekommen.
In dieser Nacht schlief er schlecht. Er schreckte immer wieder auf, weil ihm war, als hätte er Gebrüll gehört. Aber wenn er dann lauschte, blieb alles still.
Die Feldarbeit ging ihm schwer von der Hand am nächsten Tag. Und als es Zeit war, sich auf den Heimweg zu machen, da mied Parmen den Weg quer durchs Dorf, so zuwider war ihm schon der Anblick des beschädigten, farbverschmierten Monuments geworden. Er schlug den Weg zum Weiler ein, von dem aus ein schmaler Pfad ihn zu seinem Hof führen würde.
Kaum aber hatte er die ersten Häuser am Rand des Dorfes erreicht, erwartete ihn ein noch schauderhafteres Schauspiel. Vor den schäbigen Hütten, die zur Erntezeit den fremden Saisonarbeitern als Unterkunft dienen sollten, stand eine Schar von – Parmen zog scharf den Atem ein – zottelhaarigen, grobschlächtigen Gestalten. Sie stierten ihn mit blutunterlaufenen Augen aus grauen, schuppenbedeckten Fratzen an, während ihre Fäuste Holzleisten schwangen, die sie wohl von der Einfriedung des Geländes gerissen hatten. Ein paar von ihnen zerrten noch schwitzend am Rest des Lattenzauns, während die anderen bereits in eine Art von Tanz verfallen waren. Auf und ab hüpfend grölten sie lauthals immer und immer wieder: „Das Dorf gehört nur uns!“
Starr stand Parmen, sah dem Treiben voller Entsetzen zu und konnte sich doch lange nicht von dem Anblick losreißen. Erst als er bemerkte, dass eines der Ungeheuer am Rande der Menge verstummt war, nicht mehr mit den anderen tobte, stattdessen ihn unverwandt betrachtete, wurde er der Gefahr gewahr, in der er sich befand. Er sah dem Monster in die Augen. Seltsam vertraut kam es ihm vor, trotz des wilden Blicks, der gewaltigen Fangzähne und des zerzausten Haarschopfs. Als habe er das Gesicht bereits einmal gesehen. Zu einer anderen Zeit, in einem anderen Leben vielleicht, dachte Parmen, wandte sich schaudernd ab und floh.
Er rannte, was seine Lungen hergaben, den schmalen Pfad entlang, stets in der Erwartung, schwere Tritte hinter sich zu hören und den heißen Atem eines Verfolgers im Nacken zu spüren. Schweratmend und schweißnass erreichte er die Tür seines Hauses, schloss sie hinter sich und begann mit bebenden Händen zu packen. Immer wieder glitt sein Blick zum Fenster, das auf die nun dämmrige Straße hinaussah. Er hatte bereits den Handkarren vollgeladen und schnürte gerade ein zusätzliches Bündel, als seine Befürchtungen sich bestätigten. Ein Monster wankte die Straße entlang, geradewegs auf seinen Hof zu. Parmen duckte sich, spähte vorsichtig über den Sims hinweg der Bedrohung entgegen. Noch im Halbdunkel erkannte er das Ungeheuer, das ihn am Dorfrand so aufmerksam gemustert hatte. Aber kurz vor der Pforte, die seinen Vorgarten von der Straße abschloss, bog es ab und steuerte auf das Nachbarhaus zu. Da wurde Parmen plötzlich klar, woher ihm das Gesicht so bekannt vorgekommen war. Es war sein Nachbar gewesen, der da mit den anderen Monstern getobt und gebrüllt hatte. Sein Nachbar Dord, mit dem er seit Jahr und Tag Haus an Haus lebte.
Noch zitternd von der Entdeckung packte Parmen den Griff des Handkarrens, schulterte sein Bündel und verließ das Haus durch die Hintertür. Er war noch nicht weit gekommen, hatte noch nicht einmal die Straße erreicht, als die Zweige der Hecke, die seinen Hof von Dords trennte, zu schwanken begannen und der Nachbar hervortrat, nicht mehr in monströser Gestalt, sondern fast schon wieder der einfache Handwerker, als den Parmen ihn kannte. Er unterdrückte den Wunsch, Reißaus zu nehmen und sah ihm mit weniger Furcht entgegen, denn war auch das Haar noch zersaust, das Gesicht ungesund blass – die Zähne waren wieder hinter den Lippen verborgen und die Hand, die sich ihm entgegenstreckte, trug keine Klauen mehr.
„Wohin des Weges um diese Stunde?“, fragte Dord.
„Fort“, antwortete Parmen knapp. „Es ist kein Bleiben mehr für mich hier.“
„Warum?“
Parmen zögerte. Zu frisch war die Erinnerung an die Fangzähne. Aber dann verdunkelte sich sein Blick und er stieß hervor: „Ich kann nicht an einem Ort leben, in dem Unholde wie du existieren.“
„Du bist hier geboren, Parmen“, sagte Dord sanft. „Du lebst hier seit Jahrzehnten. Wir waren nie fort. Du hast uns nur nie wirklich so gesehen, wie wir sind. Und –“ Nun schwang ein leichtes Grollen in seiner Stimme mit. „Du bist einer von uns.“
„Niemals.“ Parmen fasste den Griff des Handkarrens fester. Er schritt an Dord vorbei, der keine Anstalten machte, ihn aufzuhalten.
Erst am Dorfrand sah Parmen sich vorsichtig um. Niemand war ihm gefolgt. In der Nähe floss ein Bach, speiste einen kleinen Teich. Parmen trank sich satt. Hell schien der Mond, die Teichoberfläche glitzerte. Gedankenverloren betrachtete Parmen sein Spiegelbild darin, prüfte seine Züge auf Zeichen des Monströsen und fand nichts. „Du bist einer von uns“, hatte Dord gesagt. Parmen schüttelte zornig den Kopf. Er war ein Mensch und wollte es bleiben.
Doch dann dachte er an sein Feld, die frische Saat, seinen Hof, den er all die Jahre so gut instand gehalten hatte. Er sah auf die kärgliche Habe, die ihm geblieben war, und überlegte, wie lange dies ihm in der Fremde bleiben würde, sah sich schon als Knecht verdingen, ohne jede Aussicht auf ein eigenes Stück Land.
Er blickte auf das Dorf. Am anderen Ende, zum Weiler hin, erleuchtete ein Feuerschein die Nacht. Aber die anderen Häuser warteten friedlich im Mondschein auf ihn. Kein Laut war zu hören.
Da schulterte er sein Hab und Gut und machte sich auf den Weg zurück. Er betrat sein Haus, stellte den Handkarren ab, legte das Bündel beiseite, wusch sich die grauschuppige Haut, fuhr sich noch einmal mit den Klauen durch die zottelige Mähne, putzte die Fangzähne und legte sich schlafen.