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Sei doch froh
Maurice gefielen die großen Bücherregale im Büro der Direktorin. Sie sahen sehr eindrucksvoll aus. Dicke, in dunkles Leder gebundene Lexika, aufgereiht wie Soldaten bei einer Parade. Nur die modernen Bücher mit ihren grellen Farbe und glatten Hochglanzfolien störten ihn. Sie passten nicht zum erhabenen Gesamteindruck der alten, ehrenwerten Folianten.
Die Direktorin saß hinter ihrem Schreibtisch und musterte Maurice nachdenklich. Neben dem Fenster stand Frau Blixen mit ihrem ewig säuerlichen Gesicht, der Statur einer Vogelscheuche und den wirren grauen Haaren. Auch sie sah Maurice an, allerdings nicht nachdenklich, sondern vorwurfsvoll und wütend.
Maurice verglich die beiden mit den Büchern im Regal. Die Direktorin ein altes, antiquiertes Lederlexikon, und die Blixen eine unpassende Geschmacklosigkeit. Martin war auch dieser Meinung.
„Frau Meyer, wir machen uns ernsthafte Sorgen um Ihren Sohn.“ Die Direktorin seufzte und sah die Mutter von Maurice an.
„Was hat er dieses Mal angestellt?“ Seine Mutter klang müde.
„Er wollte mit einer Eisenstange auf seine Mitschüler losgehen, Frau Meyer. Können Sie sich das vorstellen? Ein derart aggressives Verhalten ist für einen Jungen seines Alters eindeutig wesensauffällig.“ Frau Blixen funkelte Maurice und seine Mutter wütend an. Martin verdrehte die Augen und machte dann mit der geschlossenen Faust aus dem Handgelenk eine schüttelnde Auf-und-Ab-Bewegung in Richtung von Frau Blixen.
Die Mutter drehte sich zu ihrem Sohn herum. „Warum hast du das gemacht, Maurice?“
Maurice überlegte kurz, welchen Ton er wählen sollte. Traurig und mitleiderregend, oder wütend und offensiv. Er sah zu Martin rüber. Dieser wusste immer, was zu tun war und hatte die richtigen Ratschläge für Maurice parat. Martin blinzelte ihm grinsend zu und rieb sich dann theatralisch mit geschlossenen Händen die Augen, als würde er weinen.
„Die anderen ärgern mich immer, Mama. Sie lachen über mich und sagen mir ständig gemeine Sachen. Dabei habe ich keinem was getan. Der Busfahrer hat gestern im Bus eine Durchsage gemacht: Maurice Meyer – großes M und kleine Eier. Und heute standen ein paar aus meiner Klasse um mich herum und haben das immer wieder gesagt. Ich wollte doch nur, dass sie aufhören. Und dann habe ich hinter der Tafel diese Metallstange rausgezogen und da haben sie aufgehört und sind weggelaufen.“ Martin streckte den Daumen nach oben und beobachtete dann interessiert Maurice Mutter.
Frau Meyer drehte sich zur Direktorin und Frau Blixen um.
„Was sagen Sie dazu? Sie werfen meinem Jungen ein wesensauffälliges Verhalten vor, wenn er ganz offensichtlich gemobbt wird? Ich frage mich ernsthaft, wer hier wesensauffällig ist und warum Sie als Verantwortliche so etwas dulden?“ Wütend starrte sie Frau Blixen und die Direktorin an.
„Frau Meyer, ich bitte Sie. Selbstverständlich habe ich sofort in dieser Sache bei den Mitschülern von Maurice und dem Busfahrer nachgefragt. So leid es mir tut, aber weder hat der Fahrer so etwas oder auch nur ähnliches gesagt, noch haben die Mitschüler ihren Sohn gehänselt.“ Die beiden Lehrer warfen sich einen Blick zu.
„Wir befürchten“, fuhr die Direktorin in einem besorgten Ton fort, „dass Ihr Sohn sich häufig Dinge entweder ausdenkt oder eine andere Wahrnehmung des tatsächlichen Geschehens hat.“ Martin kicherte, als er sah, wie die Zornesröte in das Gesicht von Frau Meyer schoss.
„Sie sagen also, dass Maurice lügt oder sich so etwas ausdenkt?“
„Wir haben im Kollegium über ihren Sohn gesprochen. Es ist ganz offensichtlich, dass Maurice bereits jetzt schon ungewöhnlich komplex und differenziert denken kann. Er verfügt über eine für sein Alter überdurchschnittliche Intelligenz. Auf der anderen Seite weist Ihr Sohn in Bezug auf seine soziale Ausprägung jedoch einige Defizite auf, die ein Kind dieser ungewöhnlichen Reife nicht haben sollte.“ Die Direktorin holte tief Luft. Sie schien mit sich zu ringen. Schließlich räusperte sie sich und sah Maurice Mutter dann fest an.
„Frau Meyer, gewisse Anzeichen deuten darauf hin, dass Maurice möglicherweise …“
„Mein Sohn ist nicht verrückt. Wie können Sie es wagen …“
Die Direktorin hob beschwichtigend die Hände.
„Um Gottes Willen, das behauptet auch niemand. Ihr Sohn ist jedoch in seiner jetzigen Klasse unterfordert. Anhand seiner Noten und Mitarbeit im Unterricht glauben wir, dass er aufgrund dieser Unterforderung auch deshalb in seinem Klassenverband nicht glücklich ist. Wir haben uns daher überlegt, ob es nicht sinnvoll und das Beste wäre, wenn wir Maurice in die nächsthöhere Klasse versetzen. Ich bin sicher, mit etwas älteren Mitschülern käme er auch besser zurecht als in der gegenwärtigen Situation.“
Martin schlenderte zu Maurice und beugte sich zu seinem Ohr hinunter.
„Was glaubst du, Mauriceeey? Werden wir mit älteren Mitschülern besser zurechtkommen? Glaubst du, die werden netter sein? Oder dich in Ruhe lassen? Lass dir hier bloß nichts einreden. Das ist so wie mit diesem Arschloch von Busfahrer. Er hat den Spruch mit den Eiern vielleicht nicht gesagt, aber er hat’s gedacht.“
Maurice sagte nichts dazu. Er hatte im Laufe der Jahre, seit dem Martin irgendwann in seinem Leben aufgetaucht war, gelernt, mit ihm zu sprechen, ohne dass andere dies hören konnten. Meistens jedoch beschränkte Maurice sich aufs Zuhören.
„Ich glaube auch, Frau Meyer, dass dies das Beste im Sinne von Maurice‘ Mitschülern aus seiner Klasse wäre“, sagte Frau Blixen in einem leicht herablassenden Tonfall.
Martin sah zu der Klassenlehrerin hinüber und schnalzte abschätzig mit der Zunge.
„Ich kann diese Schlampe nicht leiden.“
Maurice schluckte. Er wusste, dass Martin sie nicht mochte. Deshalb hatte ers schon ein paar Mal ziemlich drastische Vorschläge gemacht. Maurice sollte sich zum Beispiel von zuhause Nägel mitnehmen und einen unter jeden Reifen von Frau Blixens Auto legen.
„Das Miststück steht doch immer am Notausgang im Erdgeschoss, wenn sie zum Rauchen rausgeht. Komm schon, Mauriceeey, das Fenster im ersten Stock ist genau darüber. Wir schnappen uns einfach den Feuerlöscher, der an der Wand neben dem Fenster hängt. Und wenn sie das nächste Mal …“
„Nein, Martin.“ Maurice schüttelte energisch den Kopf. Für seine Mutter und die Lehrer sah das aus wie ein leichtes Zucken, aber Martin verstand ganz genau.
„Warum nicht? Willst du dich von der die ganze Zeit herumschubsen lassen wie eine feige kleine Memme?“
„Martin, wenn ich das mache, komme ich ins Gefängnis.“
„Du bist noch viel zu jung fürs Gefängnis, du Trottel. Du könntest die ganze verdammte Schule anzünden und kein Schwein würde dir auch nur ein Haar krümmen.“
„Aber ich will Frau Blixen nicht wehtun.“
Martin setzte sich auf den Rand des Schreibtisches der Direktorin und sah Maurice nachdenklich an. Die Direktorin sprach unterdessen mit Frau Meyer. Wie jeder andere im Raum bemerkte sie Martin nicht.
„Du weißt, dass ich immer auf dich aufpasse, nicht wahr? So wie neulich, als dieser Typ aus der vierten Klasse dich geschubst hat. Hab ich dir da nicht genau gesagt, wo du ihn hintreten sollst? Mann, wie der umgefallen und dann tagelang breitbeinig rumgelaufen ist. Wie ein Cowboy.“ Martin lachte und legte dann seine Hände auf Maurices Schultern.
„Sei doch einfach froh, dass ich da bin. Ich werde immer dein Freund sein. Manu, dieser Depp, zählt nicht. Ich hab dir nur deshalb geraten, dich mit ihm anzufreunden, weil er leicht zu beeinflussen ist und nächstes Jahr volljährig wird. Ist immer praktisch nen Kumpel zu haben, der schon Auto fahren darf.“ Martin verzog das Gesicht zu einem verschlagenen Grinsen und schüttelte den Kopf. „Scheiße, ich bin dein einziger richtiger Freund. Aber du musst schon tun, was ich dir sage, wenn du willst, dass ich auf dich aufpasse.“
„Ich weiß, Martin. Mit dir kann ich über alles reden. Anders als mit Mutti. Aber das mit Frau Blixen geht nicht.“
Martin tätschelte ihm den Kopf und lehnte sich dann lässig zurück.
„Okay, okay. Lassen wir das mit dem Feuerlöscher. Ist wahrscheinlich ohnehin zu riskant für dich, erwischt zu werden. Aber sie kriegt trotzdem einen verplättet. Wir könnten ihre Bude anzünden. Ja genau! Je mehr ich darüber nachdenke, desto besser gefällt mir die Idee.“
Maurice schluckte schwer. Als Frau Blixen einmal längere Zeit krank gewesen war, hatten einige Schüler der Klasse sie zuhause besucht. Mit dem Geld aus der Klassenkasse kauften sie einen Blumenstrauß, eine Schachtel Pralinen und eine Gute-Besserung-Karte. Maurice gehörte natürlich nicht zu den Schülern, die den Krankenbesuch gemacht hatten, aber durch die Erzählungen der anderen erfuhr er, wo Frau Blixen wohnte. Es war nicht mal weit weg von ihm zuhause.
„Wie meinst du das, wir könnten ihre Bude anzünden?“
„Ganz einfach. Wir warten, bis deine Mutter mal nicht da ist. Ist nicht demnächst so eine Party bei ihrer Freundin Margit? Du weißt schon, die Rothaarige mit den dicken Möpsen.“ Martin grinste dreckig und leckte sich genüsslich über die Oberlippe.
„Ja, Margit hat nächsten Monat Geburtstag.“
„Na also, ist doch perfekt. Euer Nachbar Kramer hat unten im Keller einen Kanister mit Sprit für seinen Rasenmäher stehen. Da füllen wir uns ein bisschen was ab. In ne Colaflasche oder so. Außerdem gießen wir noch ein bisschen Nagellackentferner von deiner Mutter dazu und eine Tube Klebstoff. In den Deckel machen wir ein Loch und stecken eine Wunderkerze rein. Und wenn deine Mutter zu dieser Party geht…“ Martin zielte mit seinem Daumen und Zeigefinger wie mit einer Pistole in Richtung von Frau Blixen und machte eine Peng-Peng-Bewegung.
„Martin, bitte nicht. Das kann ich nicht.“ Maurice fing an zu zittern. Martin drehte sich zu ihm um und sah ihn verächtlich an.
„Hör mit dem albernen Gewinsel auf, du kleiner Scheißer! Ich kann hören, was andere Menschen denken, das weißt du doch. Wie bei dem Busfahrer. Willst du wissen, was die Blixen grade denkt?“
Maurice nickte stumm und ängstlich.
„Sie denkt, dass deine feine Frau Mama mit dir und deiner Erziehung überfordert ist, seitdem euer alter Herr wegen dieser Blondine aus seiner Firma stiften gegangen ist. Sie glaubt auch, dass du einen an der Waffel hast und gefährlich bist. Diese ganze Nummer mit der Versetzung in eine andere Klasse ist nichts als Bullshit. In Wahrheit will sie mit eurem Schulpsychologen Kunze einen Plan aushecken, damit du in einer geschlossenen Anstalt landest.“ Martin stand auf und schritt gemächlich auf Maurice zu. Dann ging er vor ihm in die Hocke und sah im fest in die Augen.
„Das wirst du dir verdammt noch mal nicht gefallen lassen, kapiert? Das hinterhältige Miststück hat eine Abreibung verdient. Niemand springt so mit uns um, hast du gehört? Niemand!“
Maurice wusste, wenn Martin sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ er sich nicht wieder davon abbringen. Er würde Maurice so lange damit quälen, bis er schließlich nachgeben würde. Er seufzte und nickte dann langsam.
„Er wird hier immer ein Außenseiter bleiben. Er hat ja auch keine Freunde, nur Manu, unser Nachbarsohn, der schon siebzehn ist. Mit dem versteht er sich blendend.“
Frau Meyer schenkte ihrer Freundin Margit und sich selbst noch ein Glas Bordeaux ein. Ein 2001er Jahrgang.
„Versteh mich nicht falsch, aber: Für lernschwache Kinder gibt es überall Förderung. Das finde ich ja auch prima. Aber für die Schüler, die dauernd neues Futter brauchen, suchst du verzweifelt Orte, an denen sie richtig gefordert werden. Die nächste Kinderakademie, die sich mit hochbegabten Kindern beschäftigt, ist 100 km entfernt. Letztendlich kann man nur froh sein, wenn er einigermaßen schadlos durch die Schulzeit kommt. So, nun aber Schluss mit diesen Eltern-Kinder-Gesprächen.“
Auf die weit entfernten Sirenen der Feuerwehrfahrzeuge achteten die beiden nicht.