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Sei doch froh
Zurück mit drei vollen Einkaufskörben. Ich habe Lust auf einen Kaffee, still am Eichentisch, mit Blick auf den wilden Wein. Vielleicht lese ich ein Stück Zeitung, vielleicht werde ich auch sinnieren. Ich freue mich auf die Ruhe. Kurz ins Büro, die Briefmarken versorgen. Auf dem Anrufbeantworter eine wohlbekannte, ungeliebte Stimme. Schon wieder! Ich hole tief Luft. Den Kaffee streiche ich.
„Frau Meyer, bitte holen Sie Maurice aus der Schule ab“, ertönt die Stimme der Klassenlehrerin Frau Blixen. Maurice besucht die dritte Grundschulklasse und fällt täglich auf. So wie mir mein Magen. Maurice-Magen. Mies. Merde.
Aufgewühlt fahre ich zur Schule und gehe angespannt ins Lehrerzimmer. Er steht am Fenster, schaut aber traurig in meine Richtung. Ich könnte weinen, lasse es aber nicht zu.
„Mama, da war der Vulkan wieder in mir drin, der ist ausgebrochen, ich konnte doch nicht anders. Das ist wie Niesen, das muss raus.“ Er ist alleine und hat sich beruhigt. Man kannte das schon und konnte ihn ohne Aufsicht auf mich warten lassen.
„Willst du erzählen?“
„Ach, die immer im Bus. Die haben mich so geärgert. Dann hat der Busfahrer durch den Lautsprecher noch „Maurice Meyer – großes M und kleine Eier“ gesagt und dann bin ich wütend geworden.“
Schau ihn offen an, ohne Wertung, verzieh das Gesicht nicht, lass ihn weitererzählen, sage ich mir, immer die Stimme von dem hilfreichen Erziehungsberater, Herrn Kurz, im Hinterkopf: „Wenn Sie die Ruhe bewahren, ist viel gewonnen.“
„Als ich in die Aula kam, war ich so wütend, dass ich eine Stange von den Stelltafeln aus der Halterung gerissen habe und damit in der Gegend rumgerannt bin. Frau Bixen und Frau Kegen haben mich dann festgehalten. Die anderen haben blöd geglotzt.“ Er steht vor mir, mit seinen Armen fuchtelnd. Ich nehme ihn in den Arm und lege meine Wange auf sein Haar. Noch bin ich merklich größer, aber in vier, fünf Jahren wird er mich überrundet haben. Wir stehen einige Sekunden beieinander; körperliche Nähe kann er nur kurz ertragen.
Die Klassenlehrerin ist mit der Klasse im Unterricht; wir werden mittags telefonieren. „Komm, gehen wir heim. Mit dem Busfahrer überlegen wir uns noch was.“
Auf dem Flur kommt uns die Rektorin entgegen. „Frau Meyer, beim nächsten Vorfall in dieser Art bekommt Maurice leider drei Tage Schulverbot und einen Verweis.“
Der nächste Schritt wäre dann vier Wochen Verbot und wenn es noch ein drittes Mal geben würde, ja, dann wird er von der Schule verwiesen. Sie sagt es nicht, aber beide wissen voneinander, dass es die Gedanken der anderen sind, während wir uns ansehen.
„Maurice“, sagt die Schulleiterin, während sie offen zu ihm sieht, „das tut mir leid, aber wenn du so gefährliche Aktionen an den Tag legst, muss ich so reagieren, um auch deine Kameraden zu schützen. Mit dieser Stange hättest du jemanden schwer verletzen können. Jetzt geh erst mal mit deiner Mutter nach Hause. Wir können ja morgen in Ruhe darüber sprechen. Vielleicht auch zusammen mit deiner Mutter und Frau Blixen.“
Wir fuhren still nach Hause, jeder seinen Gedanken nachhängend. Er braucht keine Ermahnungen.
* * * *
„Könnte ich bitte den Busfahrer sprechen, der heute morgen die Linie 7 gefahren ist?“
„Moment bitte.“
Maurice machte ich klar, dass ich beide Seiten hören muss, um mir ein Urteil zu bilden. Nun lausche ich in die Leitung.
„Der ist draußen und kontrolliert seinen Bus.“
Gut, dass wir so nahe an dem Fahrunternehmer wohnen. Auge in Auge gibt es weniger Missverständnisse.
Ich parke meinen Wagen am Rande eines großen Stellplatzes, der mit gut einem Dutzend Bussen belegt war.
„Hallo, Sie sind Andy, der Busfahrer?“
„Ja, was gibt’s?“
„Ich bin Maurice Mutter. Er fährt mit der Linie 7 mit. Der hat mir gerade eine Geschichte erzählt, die ich gerne von beiden Seiten hören würde. Was war heute morgen los?“
„Heute morgen? Och, nichts besonderes. Die Kleinen sind immer so aufgedreht, da muss ich schon mal ein energisches Wort durchs Mikro lassen. Aber sonst? Nichts, dass ich wüsste.“
„Maurice meinte, sie hätten sich direkt über ihn lustig gemacht, und dass auch noch mit einem sexistischen Ausspruch.“
„Sexistisch? Nein. Nie! Ich weiß doch, was sich gehört. Ihr Sohn wohl nicht! “ Er schaut mir entrüstet ins Gesicht.
„Ich habe über fünfzig Kinder, die ich fragen kann.“
„Jetzt lassen Sie es aber mal gut sein, herrje. Dann fragen Sie sie doch!“
Ich war verunsichert. Ein erwachsener Mensch erzählt mir eine ganz andere Variante.
Maurice hat schon öfters geflunkert, um im Vorteil zu sein. Ich grüße ihn kurz zum Abschied und fahre nach Hause.
In mir brodelt es. Glucke. Dumme Kuh. Jetzt machst du dich auch noch zum Gespött des ganzen Busunternehmens. Ist doch klar. Der Junge daneben, auffällig, und die Alte kommt und verteidigt ihn auch noch. Ich sehe sie mit den Kaffeetassen zusammenstehen und tratschen.
Bis ich zu Hause bin, ist auch mein Vulkan zum Ausbruch bereit.
„Maurice, lüg’ mich ja nicht mehr an und bring mich dadurch in solch eine Lage!“ schreie ich ihn echauffiert an. „Da kämpft man für dich und dann stimmt das alles nicht!“
Er schaut mich mit traurigen Augen an. Öffnet den Mund.
„Halt jetzt ja deine Klappe. Ich will nichts mehr hören.“ Ich atme tief durch, flüchte auf die Terrasse. Mit Wehmut fällt mir die ruhige Tasse Kaffee ein. Ich sehe in die Ferne. Luftholen. Ruhig werden. Der Erziehungsberater gleitet in meine Gedanken. Ja, ich weiß, miserabel reagiert. Bin auch nur ein Mensch. Ich reiße garstig ein paar Weinblätter ab. Das Rot ist fast bonbonfarbig.
Er kommt zu mir, reibt wie unser Kater seinen Kopf an meiner Schulter und flüstert: „Mama, können wir da Gras drüber wachsen lassen? Aber nicht so langsam wie das da drüben, ja?“ und zeigt auf die noch grüne Wiese, die im November ruhend vor uns liegt.
Ich nehme ihn in den Arm.
„Ja, das können wir. Aber lüg mich bitte nie wieder an, ja? Ich verstehe auch gar nicht, wieso eigentlich. Mussten wieder andere schuld daran sein, dass du ausgeflippt bist?“
Er drückt mich stumm.
* * * *
Die Höflichkeit gebietet, dass wir unseren kompetenten Erziehungsberater mit Handschlag begrüßen. Ich kenne keinen Menschen, der so feuchtnasse Hände hat wie er. Ein Grund, wieso er Psychologe geworden sein könnte. Besprechung nur mit den Eltern. Familiensitzungen hatten wir auch schon zur Genüge.
„Es war gut, dass Sie einverstanden waren, als ich fragte, ob ich Maurice testen darf.“
Wir wissen auch ohne Test, dass er pfiffig - oder das Gscheitle -, wie meine Schwiegermutter immer sagt, ist.
„Ihr Sohn hat in allen Bereichen überdurchschnittlich abgeschnitten, in einigen Untertests sogar mit den Maximalwerten. Ich denke, er ist unterfordert. Das kann dazu führen, dass er diese Verhaltensmuster angenommen hat. Mit diesem Ergebnis würde ich unter Umständen einen Klassensprung, natürlich in Absprache mit den Lehrern und der Schulleitung, in Erwägung ziehen. Soll ich die Testauswertung an die Schule schicken?“
„Vielleicht hilft uns das weiter“, gebe ich das Einverständnis.
* * * *
„Frau Meyer, wir haben den Testbericht von Herrn Kurz erhalten. So etwas dachten wir uns schon lange im Kollegium“, spricht mich die Rektorin beim Elterngespräch an, an dem auch die Klassenlehrerin seiner und die der nächsthöheren Klasse teilnimmt.
„Aja, aber uns gegenüber ist nie etwas in dieser Richtung angesprochen worden. Bisher war Maurice immer nur ein aggressives, auffälliges Kind.“
„Wir wollen ja nicht Prognosen stellen, die nachher nicht stimmen und Sie dann womöglich enttäuschen, nicht wahr?“ Gebt doch zu, dass ihr keine Ahnung habt.
Ich weiß zu dieser Zeit noch nicht, dass es erfreulicher wäre, wenn diese Prognose nicht stimmen würde.
Die Rektorin fährt fort: „Wir würden Maurice gerne eine Klasse springen lassen, wenn Sie und Ihr Mann einverstanden sind. Wir haben Frau Kegen auch zum Gespräch eingeladen, weil sie die künftige Lehrerin sein würde.“
Ein Jahr einfach überspringen? Bekommt er das auf die Reihe? In der vierten Klasse geht es gerade um die Empfehlungen auf die weiterführenden Schulen; wird er es trotzdem auf das Gymnasium schaffen?
„Ich frage ihn. Wenn er will, probieren wir es.“
Wir sprechen Einzelheiten durch. Plötzlich scheint es keine Bürokratie mehr zu geben.
* * * *
Schnee macht mich zum Kind. Die ersten Wochen im Winter wird im Ort noch gerodelt, was das Zeug hält. Ich stehe erneut oben und will mit meinem Holzschlitten, der hier unter den Bobs einzigartig ist, wieder den Berg hinunterrasen.
„Du, Frau Meyer, was ich dir schon immer mal sagen wollte: Der Andy, der Busfahrer, ist ganz schön fies zum Maurice. Einmal hat er sogar den Spruch:„Maurice Meyer – großes M und kleine Eier“ durch das Mikrofon gesagt. Das fand ich eigentlich schon gemein, obwohl Maurice ja auch manchmal gemein zu uns war. Aber jetzt ist es besser.“ Der Kleine setzt sich auf seinen Bob und rutscht den Abhang hinunter.
Ich stehe da. Schäme mich. Schäme mich so vor meinem Kind. Ich will unter diesem Schnee versinken, ganz tief. Maurice kommt lachend auf mich zu.
„Maurice, weißt du noch, die Sache mit Andy, dem Busfahrer?“
„Mama, das Gras ist meterhoch. Hast du mir versprochen, weißt du nicht mehr?“
Bis zum Erdkern möchte ich versinken. Verschmelzen.
* * * *
„Jetzt ist er seit ungefähr vier Wochen in der neuen Klasse und wieder Klassenbester, aber...“
„Sei doch froh, dass du nie mit ihm an den Hausaufgaben sitzen musst.“ Ich knabbere an einer Olive, leckere Sachen gibt es hier auf der Fete.
Margit, eine Bekannte, sah mich eindringlich an: „Was glaubst du, wie ätzend das manchmal ist, wenn man von vorneherein weiß, dass tagtäglich mindestens ein bis drei Stunden weg sind, weil man kontrollieren, ermahnen und bei schwierigen Aufgaben mithelfen muss.“
Sie hat mit ihren drei Kindern, von denen zwei eine Lese-Rechtschreib-Schwäche haben, das komplette Gegenprogramm.
„Ich kann mir vorstellen, dass das viele Nerven kostet“, pflichte ich ihr bei.
„Aber weißt du, Margit, das Problem für Maurice ist, dass die auch in der höheren Klasse nicht schneller mit dem Stoff vorankommen. Die Übungsphasen sind für ihn extrem langweilig, da er alles sofort kapiert. Über kurz oder lang fängt er wieder mit der Kasperei an, dann reizen ihn die Kameraden wieder, weil sie wissen, dass er schnell in die Luft geht und der Kreislauf beginnt von neuem.“
Nicht einmal an einem Fest kann ich von diesem Thema loslassen.
„Gestern sagte er er zu mir, dass er im Deutschaufsatz extra wenig geschrieben hat, um eine schlechte Note zu bekommen. Damit die Klassenkameraden nicht immer Streber zu ihm sagen.“
„Das darf doch auch nicht sein!“ Margit sieht mich erschrocken an.
„Er wird hier immer ein Außenseiter bleiben. Er hat ja auch keine Freunde, nur Manu, unser Nachbarsohn, der schon siebzehn ist. Mit dem versteht er sich blendend.“
Ich schenke uns vom Bordeaux ein. Oh, ein 2001er Jahrgang. Der schmeckt sicher lecker.
„Versteh mich nicht falsch, aber: Für lernschwache Kinder gibt es überall Förderung. Das finde ich ja auch prima. Aber für die Schüler, die dauernd neues Futter brauchen, suchst du verzweifelt Orte, an denen sie richtig gefordert werden. Die nächste Kinderakademie, die sich mit hochbegabten Kindern beschäftigt, ist 100 km entfernt. Letztendlich kann man nur froh sein, wenn er einigermaßen schadlos durch die Schulzeit kommt. So, nun aber Schluss mit diesen Eltern-Kinder-Gesprächen.“
Ich sehe sie an, hebe mein Glas und proste ihr zu: “Der Kampf geht weiter. Für unsere beiden Familien.“