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Thema des Monats Schwarzer Sonntag

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01.06.2005
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Schwarzer Sonntag

Als das Licht wegblieb, hätte ihn der Schock fast umgebracht. Jenseits der vierzig ist das Herz nicht mehr so stabil wie noch zehn Jahre zuvor. Er öffnete die Augen, und als er nichts - absolut nichts! - sah, fiel ihn die Angst, plötzlich erblindet zu sein, wie ein Tier an, schlug seine Zähne so tief in sein Inneres, dass er glaubte, noch hier in seinem Bett im Ferienhaus zu ersticken. Halb wahnsinnig tastete er sich schließlich aus dem Zimmer, nahm kaum wahr, dass er dabei Geräusche wie ein verirrter Hundewelpe von sich gab.
Das Haus schien viel größer geworden zu sein. Er stieß immer wieder gegen undefinierbare Möbelstücke, noch ehe er den Treppenabsatz erreichte, schmerzten seine Schienenbeine, als habe man ihn mit Dachlatten verprügelt.
Unten in der Küche prallte er mit etwas Weichem zusammen, das einen erschreckten Laut von sich gab. Es klammerte sich an ihn und drohte, ihn zu ersticken.
In Panik schrie er auf und versuchte, sich freizukämpfen.
"Ruhig", sagte sie. Es war Helma.
Kai beruhigte sich. Immer noch ging sein Atem keuchend, aber es tat gut, ihre Stimme zu hören. "Ich bin blind", sagte er.
Sanft hörte er sie herumtasten, einen Stuhl heranrücken. Vorsichtig setzte er sich.
"Du bist nicht blind. Sie haben es gerade in den Nachrichten gesagt. Es ist überall dunkel."
"Wie meinst du das, überall? Im ganzen Land?"
"Auf der ganzen Welt. Soweit sie das beurteilen können, im ganzen ..." Helma schluckte hörbar. "Im ganzen Universum. Überall eben."
Kai lachte kurz auf. "Irgendwo ist immer Licht."
Helma raschelte. "Sie sagen, es sei etwas mit dem Licht selbst. Es breitet sich nicht mehr aus. Man kann noch etwas sehen, wenn man sehr nah an einer Lichtquelle steht. Wenn sie sehr stark und hell ist, reicht sie ein paar Meter, mehr nicht."
Er beugte sich zu ihr und nahm ihren Duft auf. Das beruhigte ihn weiter. Gleichzeitig fing er an, sich Gedanken über die Konsequenzen zu machen. "Alle Pflanzen werden sterben. Die Bäume, sogar die Algen im Meer."
"Ja. Uns wird die Luft ausgehen."
"Vorher werden wir verhungern."
"Davor werden Raubtiere oder marodierende Banden uns töten."
"Wenn sie uns finden können. Viele werden irre werden und sich selbst umbringen."
Helma atmete zischend ein. "Würdest du das tun?"
"Wie denn? Ich könnte nicht einmal ein Messer in dieser Küche finden. Außerdem ..."
"Ja?"
"Solange du hier bist ..."
"Das wird uns wenig nützen."
Sie schwiegen und Kai lauschte auf Helmas regelmäßigen Atem. Abgesehen davon war es still. Die Stadt war weit entfernt. Falls sich die Leute dort bereits gegenseitig umbrachten, war davon hier draußen nichts zu hören.
Kai spürte Helmas Hand auf seinem Arm. "Komm!"
"Was ist?"
"Ich will dir etwas zeigen."
Sie führte ihn durch die Küche. Er konnte hören, wie ihre Linke tastend über Schränke und Wände fuhr, etwas suchte. Dann klopfte sie gegen Glas. Sie mussten nun genau vor dem Fenster stehen.
"Sieh hin!", sagte sie.
"Wohin?"
"Sieh genau hin! Halte den Kopf gerade, in Richtung der Bucht."
Es dauerte einen Moment, bis Kai auffiel, dass er tatsächlich etwas sah. Einen matten, rötlich schimmernden Fleck, als habe man seinen Daumen zu lange auf den Augapfel gedrückt.
"Was ist das?"
Helma lachte, aber es klang fast wie ein Schluchzen. "Die Sonne, Kai. Das ist die Sonne."

 

Hallo Naut!

Ich hoffe du bist nicht inzwischen genervt von all den Wiederholungen in den Kommentaren, ich schließe mich da nämlich gleich an :D.

Die Idee ist wirklich sehr gut. Als ich das TdS gesehen habe, wusste ich erst mal nicht so richtig was damit anzufangen. Normalerweise ist Dunkelheit in Horrorgeschichten ja eher in einer Nebenrolle zu finden. Im Dunkeln können die lichtscheuen Monster aus ihren Löchern kommen, und die Protagonisten können nicht sehen, was sich in den schlecht beleuchteten Ecken verbirgt. Aber Dunkelheit an sich ist ja eigentlich nicht bedrohlich.
Hier hast du einen überzeugenden Weg gefunden, die Dunkelheit in der Hauptrolle zu besetzen, das fand ich wirklich gut. Und die Schlussszene, die viele Kommentare vor mir schon gelobt haben, mit dem blassen Fleck, der sich als die Sonne herausstellt, die hat mir auch sehr gefallen.

Aber ich hätte mir auch mehr gewünscht als eine Miniatur. Diese Situation hat wirklich viel Potenzial für eine längere Geschichte. Ich würde es zum Beispiel unheimlich spannend finden, da eine Figur einzubauen, die von Geburt an blind ist. Die wüsste ja erst mal überhaupt nicht, dass etwas anders ist als sonst. :)

Ich kann aber auch verstehen, wenn du das Projekt nicht in Angriff nehmen willst, denn an sich ist die Geschichte jetzt schon rund und funktioniert. Der Anfang ist gut, das Ende ist gut, und man erfährt eigentlich alles, was man wissen muss. Wenn das zu einer längeren Erzählung ausgearbeitet wird, läuft man vielleicht Gefahr, dass es zu einer eher durchschnittlichen Apokalypsenstory wird - kleine Gruppen von Menschen, die versuchen in einer völlig veränderten Welt zu überleben - da würde diese ungewöhnliche Ausgangssituation vielleicht das Besondere verlieren.

Aber wenn du dich doch dazu durchringen könntest, etwas Längeres draus zu machen, würde ich das sehr gerne lesen, und bin wohl bei weitem nicht die einzige. :)

PS: Dein Protagonist hat immer noch Schienenbeine.

Er stieß immer wieder gegen undefinierbare Möbelstücke, noch ehe er den Treppenabsatz erreichte, schmerzten seine Schienenbeine, als habe man ihn mit Dachlatten verprügelt.

Grüße von Perdita

 

Hi Naut!

"Was, schon vorbei ...?", habe ich mir gleich gesagt.
Jetzt stellt sich mir noch die Frage, ob das wirklich schlecht ist. Klar, könnte man einen Roman aus dieser Grundidee zimmern. Wohl auch einen mehrteiligen Epos. Freilich: Man könnte.
Aber ist es notwendig? Ich sage: Nötig nicht - wär nur schön zu lesen. Denn dieses "Geschichtlein" schafft es sofort zu fesseln. Guter Stil, nette (natürlich nicht wirklich innovative) Idee. Anmerkung: Heut zu Tage ist es ja beinahe schon unmöglich etwas gänzlich Neues zu ersinnen. Ich denke da spontan an den Film "Die Stadt der Blinden". Aber das mit dem Ausbreiten des Lichtes ist ja eigentlich wieder ein gänzlich anderer Zugang. Na - dann doch wieder neu. Egal, mir hat die Geschichte gut gefallen. Hoffe, du machst so weiter ...
Schon vorbei? Besser als: "Zum Glück ist es aus!" Du hast mich gut unterhalten - ein Shorty. One Hit und Aua - das hat gesessen!
Lg

 

Hallo naut,

mir ist das zu wenig. Das wirkt wie die Idee zu etwas Größerem, nur hast du nicht das entwickelt, sondern die Idee nett ausformuliert. In meinen Augen übrigens etwas effektheischerisch, besonders der erste Absatz: "hätte ihn der Schock fast umgebracht", "glaubte zu ersticken", "halb wahnsinnig", "Geräusche wie ein verirrter Hundewelpe" - mir ist das zu krass. Dann seine dramatische Wanderung durch die Wohnung / das Haus - wenn die Helma da chillt, hört sie ihn doch, wie er da rumpoltert, warum sagt sie nichts und lässt ihn in sich reinlaufen? Auch so ein Dramatik-Punkt. Auch erst dieses Alles ist dunkel!, dann aber: Eigentlich leuchten Lichtquellen nur schwächer. Selbe Sache.

Gleichzeitig fing er an, sich Gedanken über die Konsequenzen zu machen.
Das war mir zu abgebrüht, so à la: Ach, alles ist dunkel? Ok, was hat denn das für Konsequenzen? Hmmm ... ("Konsequenzen" ist auch so nüchtern/sachlich.)

"Ja. Uns wird die Luft ausgehen."
"Vorher werden wir verhungern."
"Davor werden Raubtiere oder marodierende Banden uns töten."
"Wenn sie uns finden können. Viele werden irre werden und sich selbst umbringen."
Selber Punkt, zu abgebrüht, und geht mir auch viel zu schnell.

Soll jetzt wie kein Totalverriss klingen, ich finde die Idee mit dem schwächeren Licht sehr gut, aber da muss mehr ran. So ist das für mich "nur" eine Idee, die durch Dramatik vertuschen will, dass sie eine ist.

Noch zwei Textsachen:

Sanft hörte er sie herumtasten, einen Stuhl heranrücken.
Das heißt, er hört sanft (was nicht so recht Sinn ergibt). Du meinst aber, er hört, wie sie sanft tastet und rückt.

Helma raschelte.
Finde ich unglücklich. Ein Mensch raschelt? Eher bewegt er etwas und das raschelt.

Viele Grüße,
Maeuser

 

Hallo Naut!

Jenseits der vierzig ist das Herz nicht mehr so stabil wie noch zehn Jahre zuvor.
Da kann ich den achtunddreißigjährigen Autor beruhigen: Dem ist nicht so! Einfach schön weiteratmen, und alles ist gut. :D


Der Erzähler hat Anfangs einen großen Abstand zum Protagonisten. Da wird viel in Form von Vergleichen behauptet. Dennoch kommt bei diesen Zeilen einwenig Grusel-Stimmung auf. Leider beruhigt dann Helma nicht nur Kai, sondern auch mich.
Dann wird ein wenig theoretisiert (Die wissenschaftlichen Aspekte im Text sind mir nicht so wichtig, deshalb fange ich erst gar nicht an.) und zum Schluss dann die Realität erblickt, die Sonne ist nicht mehr als ein mattroter Fleck am schwarzen Himmel. Das ist ein starker Abschluss. Nach Helmas "Ruhig" und einigen eher nüchtern getroffenen Zukunftsprognosen kommt da noch einmal das Grauen so richtig zum Vorschein.
Die Geschichte ist beinahe eine kleine Huldigung der Sonne, allerdings in unüblicher Weise.

Ein Stück, das trotz seiner extremen Kürze mich einigermaßen geschockt und nachdenklich zurück lässt.

Lieben Gruß

Asterix

 

Ich persönlich finde es ja frappierend, wie viele schöne, interessante und treffende Gedanken man sich zu so einer kleinen Geschichte machen kann. Ich vermute, dass es länger dauert, diesen Thread zu lesen als ich ursprünglich gebraucht habe, um die Geschichte zu schreiben!

Jetzt, da ich meine ersten beiden Romane fertig habe (die mich während des Schreibens schon ein wenig aus diesem Forum fernhielten), denke ich durchaus wieder, wie toll es wäre, aus dieser Idee mehr zu machen. Mirkoo, "Stadt der Blinden" kenne ich natürlich. Ich hoffe, ich konnte mich etwas abgrenzen, das war mir nämlich ein Anliegen.

Deshalb bleibt mir erstmal nur, Euch allen herzlich zu danken: Hanniball, Anakreon, Mairie, Hacke, Pürierstab - nee, Purersternenstaub -, Perdita, Mirkoo, Maeuser und Asterix.
Ihr seid lieb!

 

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