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Schwarzer Sonntag
Als das Licht wegblieb, hätte ihn der Schock fast umgebracht. Jenseits der vierzig ist das Herz nicht mehr so stabil wie noch zehn Jahre zuvor. Er öffnete die Augen, und als er nichts - absolut nichts! - sah, fiel ihn die Angst, plötzlich erblindet zu sein, wie ein Tier an, schlug seine Zähne so tief in sein Inneres, dass er glaubte, noch hier in seinem Bett im Ferienhaus zu ersticken. Halb wahnsinnig tastete er sich schließlich aus dem Zimmer, nahm kaum wahr, dass er dabei Geräusche wie ein verirrter Hundewelpe von sich gab.
Das Haus schien viel größer geworden zu sein. Er stieß immer wieder gegen undefinierbare Möbelstücke, noch ehe er den Treppenabsatz erreichte, schmerzten seine Schienenbeine, als habe man ihn mit Dachlatten verprügelt.
Unten in der Küche prallte er mit etwas Weichem zusammen, das einen erschreckten Laut von sich gab. Es klammerte sich an ihn und drohte, ihn zu ersticken.
In Panik schrie er auf und versuchte, sich freizukämpfen.
"Ruhig", sagte sie. Es war Helma.
Kai beruhigte sich. Immer noch ging sein Atem keuchend, aber es tat gut, ihre Stimme zu hören. "Ich bin blind", sagte er.
Sanft hörte er sie herumtasten, einen Stuhl heranrücken. Vorsichtig setzte er sich.
"Du bist nicht blind. Sie haben es gerade in den Nachrichten gesagt. Es ist überall dunkel."
"Wie meinst du das, überall? Im ganzen Land?"
"Auf der ganzen Welt. Soweit sie das beurteilen können, im ganzen ..." Helma schluckte hörbar. "Im ganzen Universum. Überall eben."
Kai lachte kurz auf. "Irgendwo ist immer Licht."
Helma raschelte. "Sie sagen, es sei etwas mit dem Licht selbst. Es breitet sich nicht mehr aus. Man kann noch etwas sehen, wenn man sehr nah an einer Lichtquelle steht. Wenn sie sehr stark und hell ist, reicht sie ein paar Meter, mehr nicht."
Er beugte sich zu ihr und nahm ihren Duft auf. Das beruhigte ihn weiter. Gleichzeitig fing er an, sich Gedanken über die Konsequenzen zu machen. "Alle Pflanzen werden sterben. Die Bäume, sogar die Algen im Meer."
"Ja. Uns wird die Luft ausgehen."
"Vorher werden wir verhungern."
"Davor werden Raubtiere oder marodierende Banden uns töten."
"Wenn sie uns finden können. Viele werden irre werden und sich selbst umbringen."
Helma atmete zischend ein. "Würdest du das tun?"
"Wie denn? Ich könnte nicht einmal ein Messer in dieser Küche finden. Außerdem ..."
"Ja?"
"Solange du hier bist ..."
"Das wird uns wenig nützen."
Sie schwiegen und Kai lauschte auf Helmas regelmäßigen Atem. Abgesehen davon war es still. Die Stadt war weit entfernt. Falls sich die Leute dort bereits gegenseitig umbrachten, war davon hier draußen nichts zu hören.
Kai spürte Helmas Hand auf seinem Arm. "Komm!"
"Was ist?"
"Ich will dir etwas zeigen."
Sie führte ihn durch die Küche. Er konnte hören, wie ihre Linke tastend über Schränke und Wände fuhr, etwas suchte. Dann klopfte sie gegen Glas. Sie mussten nun genau vor dem Fenster stehen.
"Sieh hin!", sagte sie.
"Wohin?"
"Sieh genau hin! Halte den Kopf gerade, in Richtung der Bucht."
Es dauerte einen Moment, bis Kai auffiel, dass er tatsächlich etwas sah. Einen matten, rötlich schimmernden Fleck, als habe man seinen Daumen zu lange auf den Augapfel gedrückt.
"Was ist das?"
Helma lachte, aber es klang fast wie ein Schluchzen. "Die Sonne, Kai. Das ist die Sonne."