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Schwarze Papageien fallen tief

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28.06.2006
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Schwarze Papageien fallen tief

Blutrotes Blitzen.
Gänsehaut.
Nein.
Es ist vorbei.

Der Geruch verbrannter Haare stach ihm in die Nase, der Mann hielt inne und schnippte den Zigarettenstummel mit einem Seufzer zu Boden. Ohne sich die Strähnen aus dem Gesicht zu streichen, schlurfte er mit gesenktem Kopf weiter.
»Da seid ihr ja.« Die Worte galten den vier Türmen, die sich wie gigantische, verfaulende Zähne in den Himmel streckten. Die Schatten waren kurz. Gerade einmal Mittag, dachte er.
Tyler Devlin war gekommen, um etwas abzuliefern, das er in einem Sack hinter sich herschleifte. Mit der zweiten Hand umklammerte er die Stiele von dreißig Tulpen der Sorte Black Parrot, in den Ohren steckten Kopfhörer.
Er war allein; die letzten lebenden Kreaturen außer ihm selbst hatten sich jenseits des Zauns geschlängelt. Vier Stunden war es her, dass er sich die Mullbinden an den spitzen Maschen aufgeschlitzt hatte.
Danach gab es nur noch sandigen Morast, Büschel abgestorbener Weide und im Wind klappernde Blechschilder mit Totenschädeln, deren Berechtigung sich überlebt hatte. Vor etwa fünfzig Jahren hatte ein Haufen wichtiger Wissenschaftler den Grünstift gezückt und das Gebiet von einer Fläche groß wie Surinam als wieder lebensfreundliche Zone erklärt.
Natürlich glaubte niemand einem von der Regierung geschmierten Gremium, dass ein Testgebiet, das jahrzehntelang gepeinigt wurde, von heute auf morgen ein neues Zuhause werden könnte.
Entstanden waren weder Siedlungen noch Fabriken, sondern die Türme. Fünfhundert Meter Durchmesser, zweihundert Stockwerken in den Himmel, zweihundert Stockwerke ins Erdreich. Mit einer schwindelerregenden Anzahl von Steckplätzen für die letze Ruhe. Je ein Löffel Asche und ein Anschluss. Das Platzproblem der sich immer weiter ausbreitenden Friedhöfe war mit einem Schlag gelöst, und alle waren zufrieden.
Tyler rief sich die Koordinaten wieder und wieder ins Gedächtnis. Turm 3, Stockwerk -190, Sektor 7, Ring 2. Das waren die Zahlen, die ihn verfolgten und wie Finger in sein Kreuz drückten. Seit viel zu langer Zeit schon.
Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn und schleppte sich weiter. Linker Stiefel, rechter Stiefel. Immer im Rhythmus zur Musik; linker Stiefel...
Er konnte den Wagen weder hören noch sehen, der rücklings auf ihn zupreschte. Erst als ihn Steinchen anspritzten, spannte sich sein Instinkt. Schnell erkannte er die Gefahr und versuchte noch, zur Seite zu springen. Tyler wurde zu Boden geschleudert, die Tulpen fielen ihm aus der Hand.

Atmen.
Augen, die in Flammen stehen.

»Sind Sie verletzt?«, kam es von weit her.
Ein Mann von höchstens dreißig Jahren blies Tyler seinen heißen Mundgeruch ins Gesicht. Tyler blinzelte. Der Kerl wirkte zerstreut, seine Augen bewegten sich hektisch in den Höhlen, und seine Mundwinkel zuckten. Er schien Angst zu haben. Tyler hatte das Gefühl, dass der Unfall nichts damit zu tun hatte; er stöhnte.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen.« Er wurde unter den Achseln gepackt und hochgezogen.
»Mir geht es gut«, entgegnete Tyler, und fügte leiser hinzu: »denke ich.« Das Schmerzmittel hatte sich aktiviert und strömte durch seine Adern, die Musik war deaktiviert worden. Tyler hörte jetzt das Tuckern eines stehenden Motors.
»Sind Sie sicher?« Der Fahrer sah ihn zögernd an.
»Ja. Warten Sie.« Nach einer Pause, in der ihn der Fremde nicht aus den Augen ließ, schüttelte er den Kopf. »Ist eine Prellung. Dauert ein paar Minuten, bis der Bodyscanner die Sache in Ordnung gebracht hat.« Tyler schaltete das Implantat im Handgelenk auf Stand-by.
Der Mann sackte ein wenig in sich zusammen, lächelte aber. Dann begann er, die Tulpen einzusammeln. Tyler blieb halb aufgerichtet sitzen und schielte nach dem Sack. Aus den Augenwinkeln erspähte er einen verbeulten Pick-up.
»Sie wollen jemanden besuchen«, stellte der Fahrer fest, »persönlich?«
»Genauso wie Sie, nehme ich an.«
»Oh, nein! Wir waren nur in der Gegend unterwegs«, der Mann stockte, »ich meine, doch, die Kleine, sie will ihren Vater besuchen. Können Sie sie sehen? Zappelt auf dem Beifahrersitz und ist schon ganz aufgeregt.«
Tyler rappelte sich hoch und humpelte auf den Sprechenden zu.
»Wollen Sie das letzte Stück mitfahren? Es wäre besser, wenn sie sich vorläufig schonen.«
»Ich gehe lieber zu Fuß.« Er riss dem Mann die Blumen aus der Hand. Das letzte, das er jetzt brauchte, war Gesellschaft.

Nägel, die sich ins Fleisch bohren.
Schrei mich nicht an!
Du bist verrückt geworden.

»Brüderchen, komm, tanz mit mir. Beide Hände reich ich dir.« Klirrendsüßer Singsang.
Beide drehten sich um. Das Kind, es war ausgestiegen und stand neben dem Wagen. Wie alt mochte es sein? Neun? Vielleicht Zehn?
»Bitte, Mister. Wollen Sie wirklich nicht mit uns fahren?« Der Wind bauschte ihre langen, schwarzen Haare. Sie lächelte, lief auf die beiden zu und umklammerte Tylers Handrücken mit dem Strauß Black Parrots.
»Na los, kommen Sie schon!«, rief sie verzückt und zog ihn zurück zum Wagen.
»Ich heiße Chloe«, sagte das Kind. »Er ist Norman. Sie können sich zu uns nach vorn setzen. Wie lange sind Sie schon unterwegs, Mr. ...«
»Devlin. Aber du kannst Tyler zu mir sagen.« Er fühlte sich unbehaglich. Der Inhalt des Sackes hüpfte zwischen den Grasbüscheln hin und her und übertrug die Bewegung auf seine Hand. Er griff den Stoff weiter unten, damit der Beutel in der Luft hing.
Norman folgte ihnen schweigend.
»Tyler!« Chloe kicherte. »Ich besuche heute jemanden, den ich sehr gern hatte.«
Tyler presste die Lippen aufeinander und sog sie ein, bis der Druck schmerzte.
»Wir mussten über ein Jahr lang suchen«, sagte Chloe und krabbelte in den Wagen.
»Bei mir hat es länger gedauert, die richtigen Koordinaten herauszufinden«, meinte Tyler einsilbig.
»Eine Unverschämtheit ist das. Den Toten nicht einmal eine unbeschädigte Koordinaten-Datenbank zur Verfügung zu stellen«, meinte Norman, der auf der Fahrerseite Platz genommen hatte.
»Wozu auch, wenn man alles übers Netz abwickeln kann. Für Besucher sind die Türme kaum ausgerichtet.«
Norman zuckte die Achseln und stieg aufs Gas.

Während der Fahrt zog das Mädchen ein fleckiges Blatt hervor und las ab: »Turm 3, Stockwerk -176, Sektor 5, Ring 6. Da muss ich hin.«
Tyler betrachtete die Tulpen. Sie verloren Flüssigkeit, obgleich er sich eine neuartige Züchtung hatte geben lassen.

Endlich angekommen stiegen alle aus dem Wagen. Tyler verkniff sich ein Danke und stapfte davon. Aus mehreren Metern Entfernung beobachtete er, wie Norman zum Wagen zurückging und wieder wegfuhr. Als sich der Wagen etwa fünfzig Meter entfernt hatte, flog etwas aus dem Fenster, das nach einigen Überschlägen liegen blieb.
Chloe ging auf den Gegenstand zu und hob ihn auf. Umständlich klopfte sie den Sand davon ab und lief zurück. Ein Rucksack.
»Gehen wir hinein?« Tyler hatte nicht bemerkt, dass sie plötzlich neben ihm stand.
»Wir?« Tyler war nicht erpicht darauf, dieses Kind um sich zu haben. Er wollte nur eins, diese Sache schnellstmöglich hinter sich bringen. Allein.
»In welchen Turm musst du?«, fragte sie wie selbstverständlich und drückte auf einen unsichtbaren Knopf am Riemen. Tyler wollte sich gerade abwenden, da kam Leben in den Teil des Rucksackes, der auf dem Rücken anlag.
»Automatische Anpassung«, erklärte sie.
Der grobe Stoff, aus dem der Sack gefertigt war, kratzte plötzlich in Tylers Handfläche.

Was soll das?
Lass mich zufrieden!
Lass sie endlich los!
Ich habe mich entschieden.
Mir bleibt keine Wahl.

»Komm, Chloe. Wir müssen beide in Turm 3.« Warum hatte er ihr das gesagt? Warum faselte er weiter? »Der Aufzug befindet sich genau in der Mitte. Wir müssen also zuerst ins Zentrum durch den Gang. Die Sektoren selbst haben von oben betrachtet die Form eines Tortenstücks, wenn man so will. Es gibt fünfzig Ringe.«
Chloe nickte wissend.
Die Tür war eine gewöhnlich manuell zu öffnende mit Klinke. Tyler drückte sie nach unten und kam ins Grübeln. Warum habe ich sie nicht abgewimmelt, fragte er sich. Wieso gebe ich immer so schnell nach?
Weshalb? Du dummer Idiot, genau aus dem Grund bist du doch hier!
Quietschend ging die Tür auf, dahinter verlief der Korridor. Der Boden war mit einer pudrigen Schicht überzogen, an den Wänden hingen Staubflocken. Das Licht reichte nur weniger Meter, danach war es dunkel. Die Besucher traten ein. Chloe rümpfte die Nase, Tyler musste niesen.
»Himmel, was für ein Gestank.« Er ging schniefend zu einem Display, das in die Wand eingelassen war. Das Besucherterminal.
»Mal sehen, wie viel Saft noch in den Leitungen steckt.«
Er steckte sich eine Kippe an und widmete sich dem veralteten System.
»Also, die Beleuchtung müsste noch funktionieren«, nuschelte er. »Chloe, geh mal ein paar Schritte. Na also.« Die Zwanzig-Watt-Birnen hinter der Wandverkleidung reagierten auf die Bewegung. Stille Verfolger, dachte Tyler.
»Der Aufzug ist noch in Betrieb.«
Schweigend machten sie sich auf den Weg. Tyler schielte immer wieder zu seiner Begleitung. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, den er als verbissene Selbstsicherheit deutete.
Der Lift war winzig. Chloe stellte ihren Rucksack neben sich ab, und Tyler klemmte den Sack zwischen seinen Füßen und der Wand fest. Bevor sich die Tür schloss, schnippte er den Stummel nach draußen. Dann fing er an, den Strauß Tulpen zwischen den Fingern zu drehen, fühlte die weichen Stiele. Aus seiner beginnenden Meditation riss ihn Chloes Frage:
»Was hast du da drin?« Sie deutete in Richtung seiner Stiefel.
»Je einen Fuß mit je fünf Zehen.«
Chloe fand das offenbar gar nicht lustig. Ihr Blick wanderte über die Seitenwände, zur Decke und blieb schließlich an Tylers Augen hängen, die im Schatten lagen. »Kinder sollte man nicht anlügen«, flüsterte sie, doch Tyler war nicht sicher, ob sie das wirklich gesagt hatte.
Die Beleuchtung flackerte, manchmal klickten die versteckten Mechanismen, als ob sie krank wären.
Nach einer Weile kramte Chloe aus dem Rucksack eine Blechdose hervor. Sie hielt sie Tyler unter die Nase und fragte: »Magst du ein paar Erdbeerdrops? Die sind wirklich lecker und machen gute Laune.«
Tyler schüttelte den Kopf.
Chloe fragte noch einmal, kauerte sich nach dem zweiten ›Nein‹ auf den Boden und schwenkte die Dose zwischen Daumen und Zeigefinger, sodass die Drops darin herumkugelten. Gemeinsam mit den flackernden Lichtern und der Abwärtsbewegung erinnerte Tyler das Szenario an einen Bohrer, der sich tief in einen erkrankten Zahn hineinfräst. Bis er den Nerv irgendwann traf.
Seine Gedanken drifteten ab. Mit halb geschlossenen Augen stiegen die Bilder herauf.

Was machst du hier drin?
Was hast du da?
Mein Gott, Tyler!
Weißt du, es tut mir nicht einmal leid.
Es muss ein Ende haben.
Für sie.

Plötzlich fiel die Beleuchtung aus. Der Aufzug stockte, kam krachend zu Stehen. Chloe kreischte und ließ die Dose fallen. Scheppernd schlitterte sie über den Boden. Das Licht sprang wieder an.
»Was ist das?«, wollte Chloe wissen und wies auf einen kaum sichtbaren Bildschirm.
Tyler trat darauf zu und las vor: »Zu Ihrer eigenen Sicherheit muss der Aufzug hier stoppen. Wir bitten Sie, dieses technische Problem zu entschuldigen und wünschen noch einen angenehmen Aufenthalt im dritten Turm. Danke.«
Stockwerk -170, sechs Stationen über Chloes und zwanzig Stationen über Tylers Ziel, blieb die vorläufige Endstation.
Sie stiegen aus.
»Verdammt!« Das Wort hallte in den Korridoren wider. »So kurz vor dem Ziel!« Tyler schlug mit der flachen Hand von außen gegen die Lifttür.
Der Knall verhallte und Chloe begann wieder mit ihrem Singsang. »Mit den Füßchen tapp tapp tapp, mit den Händchen klapp klapp klapp, einmal hin, einmal her ...«
Schließlich zog etwas anderes Tylers Aufmerksamkeit auf sich. An der Decke drehte sich etwas, nur Schritte entfernt flammten auf einem Steckplatz Blumen auf. Tyler ging darauf zu und erkannte ein Arrangement aus Lilien und langen Grasfäden, die irgendjemand übers Netz aktiviert haben musste. Über die Webcam jagten die Bilder der Blumenspende dann zum Empfänger.
Ein digitaler Wind bewegte die Blüten, ließ leuchtenden Staub von den Blättern rieseln.

Soll ich klopfen?
Eintreten.
Jetzt nur nicht schwach werden.
Du wirst mich doch rächen?
Ja. Aber dann hat es ein Ende.

Tyler ging zurück. Chloe war nirgends zu sehen oder zu hören. Ihm war das nur recht. Er wickelte das leere Ende des Sackes um seinen Unterarm, klemmte die Tulpenstiele zwischen Sackende und Hand und wollte eben die erste Sprosse nach unten nehmen, als ihm jemand ans Bein fasste. Beinahe hätte er aufgeschrieen. Es war nur Chloe. Sie habe ebenfalls Glühblumen gesehen, sagte sie.
»Tyler, gehst du wirklich durch diese Röhre nach unten?«
»Klar, siehst du doch. Kannst ja mitkommen, wenn du willst. Das kriegen sogar deine Beinchen hin.«
»Ich weiß nicht so recht«, zögerte sie.
»Dann bleib hier. Eine Spende übers Netz ist weit weniger gefährlich. Warum bist du überhaupt hergekommen?«
»Weil ich es nun mal so will«, flüsterte Chloe.
Er ignorierte sie und trat auf die erste Sprosse, prüfte über das Schuhprofil die Haftung. Dann setzte er die Notbeleuchtung des Schachtes in Gang.
»Warte, ich komme mit. Dann bin ich meine sechs Stationen nicht allein.«
»Na schön. Aber ich werde nicht auf dich warten, wenn du zurückfällst.«
»Du bist gemein. Und dir wollte ich meine Drops geben!«
»Schon gut, beruhige dich«, sagte Tyler in den Schacht hinunter und war bereits ein gutes Dutzend Schritte entfernt.
Die Streben funkelten. Kalte Präzision. Dunkel, nur das Klapp-klapp der Schritte. Tyler fröstelte. Chloe sagte irgendetwas, doch Tyler hörte Samanthas Stimme. Ihre suchenden Augen, ihr Gesicht, die Lippen, aufgesprungene Wülste, doch voll einflüsternder Worte. Sie schnitten in seinen Verstand, durchtrennten jede Logik.
-173 verkündete ein Leuchtkubus. Noch drei, und Tyler wäre allein. Er beschleunigte seine Schritte. Das Bündel schlug rhythmisch gegen seinen Oberschenkel. Die Härchen sträubten sich. Schneller, drängte jede Zelle seines Körpers. Er musste zum Nerv vordringen.
»Warte«, kam es von weit her, schwach, ängstlich.
»Geh einfach immer weiter.«
»Aber ich sehe nichts mehr.«
»Immer einen Fuß nach dem anderen«, rief Tyler nach oben.
»Das sagst du so einfach.«
Tyler ignorierte sie, der Beutel trieb ihn weiter nach unten, Samanthas spröde Lippen, du wirst mich doch rächen, raunte sie in seinem Kopf.
»Warte auf mich!« Chloes Stimme überschlug sich.
Tyler stoppte. Etwas rieselte auf seine Haare herab, er kniff die Augen zusammen, versuchte, auszuweichen. Ein Quietschen von Gummisolen.
Chloe stieß einen überraschten Schrei aus. Sie fiel. Halb schluchzend, halb kreischend polterte sie nach unten auf Tyler zu, der gerade noch reagieren konnte. Verdreht landete sie auf seinen angespannten Bauchmuskeln. Der Schmerz fuhr wie eine Klinge in Tylers Eingeweide. Durch die Zähne entfuhr ihm ein gequälter Laut.
»Runter!«, keuchte er.
»Was?« Chloe schien verwirrt.
»Weg!«
Sie kletterte zurück auf die Sprossen und trat dabei auf eine sensible Stelle. Tyler gurgelte.
»Du hast mich allein gelassen. Du warst auf einmal nicht mehr zu sehen. Ich habe Angst bekommen.«
»Und du hast verdammtes Glück, dass die Röhre so schmal ist! Shit.« Er hustete und hangelte sich zurück. »Beinahe hätte ich das Wichtigste verloren«, sagte er und vergewisserte sich über den idealen Sitz seines Sacks.
»Ich brauch jetzt erst mal eine Zigarette«, meinte er. »Himmel. Pass in Zukunft besser auf, klar.«
»Ja. Entschuldige«, sagte Chloe tonlos.
Tyler fummelte umständlich die Schachtel heraus.
Als das Feuerzeug aufglühte, sagte Chloe: »Beim nächsten Mal wirst du mich abstürzen lassen.« Keine Frage, eine Feststellung.
»Keine Sorge, das werde ich nicht.« Den Glimmstängel zwischen die Zähne geklemmt, drang Tyler tiefer ins schwarze Ungewisse vor. Das Kind folgte ihm. Er kämpfte gegen eine nervöse Unruhe, die von ihm Besitz ergriff.
- 174 erschien, Chloe summte manchmal, -175 und Tyler drückte den Stummel an der Wand aus, - 176.
»Da wären wir. Hast dich gut geschlagen, Chloe.«
»Ich werde hier warten, bis du zurückkommst.«
»Nein, schon gut. Das brauchst du nicht, es könnte länger dauern, weißt du.«
Chloe grinste. Es lag nichts Freundliches in dieser Geste.
»Na dann«, sagte Tyler, weil ihm nichts Besseres einfiel.
Chloe kletterte aus der Öffnung, und streckte dann den Kopf wieder in die Röhre. Beim vierten Mal, als Tyler nach oben sah, war sie verschwunden.
Noch dreizehn Stockwerke. Na schön, einfach immer weiter. Tyler wurde das Gefühl nicht los, dass die Kleine ahnte, was sich im Beutel befand, dass sie aus Kalkül und nicht aus Schüchternheit kein Wort über seine Verbände verloren hatte.
Noch sieben, sechs.
Die Kleine hat dich durchschaut. Sie spielt mit dir. Du hast immer alles mit dir machen lassen.
Noch fünf, vier, drei, zwei.
Der letzte Kubus war ein blindes Leuchtauge, das nach ihm suchte. Unter Tylers Nägeln prickelte es, sein Atem ging stoßweise. Nur noch wenige Meter. Er empfand so etwas wie abartige Vorfreude.
-190. Er zögerte, ihm war schwindelig. Reiß dich zusammen, ermahnte ihn sein Unterbewusstsein.
Er war hier, allein, niemand würde ihn davon abhalten, seine Tat zu vollenden und dann...
Aufmerksam verließ er die Röhre, fand Sektor sieben, folgte den Bodenmarkierungen bis Ring zwei. Samanthas Steckplatz befand sich in Augenhöhe.
Tyler hatte damit gerechnet, sich hier anders zu fühlen, irgendwie realer. Doch es blieb alles gleich; die Schrammen unter den Verbänden pochten im gleichen Takt, die Übelkeit kam in denselben Wellen. Vorsichtig legte er das Bündel am Boden ab und die Tulpen neu zusammen. Alte Gefühle, lange unterdrückt, vermischten sich mit neuen, verklebten Tylers Denken.
»Samantha«, begann er und senkte sogleich die Stimme, »ich bin hier.« Er holte tief Luft. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
»Ich liebe dich. Sieh, ich habe dir Blumen mitgebracht, echte Blumen, mit echten Blättern. Ich lege sie dir hier auf den Sockel. Es sind Tulpen, Black Parrots, deine Lieblingssorte. Dreißig Stück, für jedes Jahr eine. Die Datenbank der älteren Fälle wurde vorletzten Sommer beschädigt. Die Hitzewelle war schrecklich, einige Schaltungen sind durchgeschmort. Deshalb habe ich so lange gebraucht, um dich zu finden. Die Verwaltung war alles andere als hilfreich, das kannst du mir glauben. Wollten mir doch glatt einreden, ich solle die Sache übers Netz regeln. Kannst du dir das vorstellen? Die Sache! Aber ich habe nicht aufgegeben.
Sieh, ich habe dir noch etwas mitgebracht. Ich habe deinen Willen ausgeführt. Du erinnerst dich doch? Damals, wir waren noch so jung. Du musst gemerkt haben, dass ich dich liebte. Aber du hast dich für Andrew entschieden. Ich hielt meinen Mund. Warum musste er dich so sehr verletzen? Das hattest du nicht verdient. Er hätte um deine zarte Seele wissen müssen. Es war so offensichtlich, dass du dir etwas antun würdest. Dem Trottel warst du egal. Er hat dich nicht einmal gefunden. Ich hab dich wieder belebt, dich ins Krankenhaus gebracht und an deiner Seite gesessen. Der Arzt sagte noch, du kämst wieder in Ordnung, und es wäre nicht annähernd so schlimm, wie es aussah. Doch dann... Ich konnte Andrew niemals verzeihen. Weißt du noch, was du mir gesagt hast, kurz bevor... Du sagtest, Tyler, du wirst mich doch rächen? Ich wusste lange nicht, was du damit gemeint hast.«
Tyler griff sich das Bündel und öffnete es.
»Hier, als Zeichen meiner Liebe und deiner Rache habe ich dir seinen Kopf mitgebracht.«
Am Ende von Tylers ausgestrecktem Arm verkrallten sich seine Finger in die Haare von Andrews Kopf und präsentierten ihn einem Geist.
»Nichts anderes hat er verdient. Er hat ständig seine Unschuld beteuert, aber ich habe ihm niemals geglaubt.«
Tyler stoppte, ging in sich und sprach dann weiter:
»Und nun gib mich frei. Gib meinen Verstand frei und lass mich los. Ich habe alles getan, was du von mir verlangt hast.« Er senkte seinen Blick und wartete.
Sich des Gewichtes bewusst, begann Tylers Arm zu zittern, er ließ ihn sinken, der Kopf entglitt seinen Fingern, rollte vor seine Füße.
Andrews Augen starrten genau in seine eigenen.
Tyler knickte zusammen.
»Mein Gott, was habe ich getan.«
Alles wurde unwirklich, wie ein Schleier, der sich um den Verstand schlingt.
»Mein ... Bruder ...«
Er hob den Kopf mit beiden Händen auf und presste ihn an seine Brust. Tränen und Rotz strömten herab, verklebten die Haare des Toten.
Endlich stand er auf, taumelte, stolperte, krachte gegen eine Wand und erbrach sich würgend und weinend auf seine Füße.

Tylers Hülle stieg die Sprossen empor. Sein Innerstes war ausgeschabt, er empfand eine faulig feuchte Leere.
»Hallo Tyler, da bist du ja wieder. Du siehst furchtbar aus.«
Er stoppte.
»Möchtest du jetzt ein Erdbeerdrops?«, bot sie an und hielt ihm die Dose vor die Nase.
»Ja, danke.« Das Dragee schmolz langsam unter der Zunge und hinterließ einen herbsüßlichen Film.
»Du hast lange gebraucht«, sagte das Kind und hangelte sich über Tylers Kopf auf die Sprossen. »Weißt du, ich habe Erfahrung mit Leuten wie dir.«
Tyler hörte die Worte, begriff nicht.
»Du machst es mir fast zu einfach.« Sie kicherte.
»Was bedeutet das?«
»Ich selbst war einmal das Opfer. Beinahe. Aber ich konnte meinen Vater daran hindern.«
»Woran hindern?«
»Mich aus dem Weg zu räumen. Er hat mir erklärt, die Welt sei nicht bereit für Menschen wie mich. Da musste ich mich verteidigen.«
Tylers keuchte. »Ich krieg keine Luft«, stotterte er.
»Aber Tyler. Das sollst du auch nicht. Weißt du was? Andrew war genauso unschuldig wie ich. Es ist kein Gefühl, verstehst du? Es ist Gewissheit, die zu einem großen, schwarzen Loch wird. Dagegen muss ich etwas tun. Ich kann nicht anders. Wer wenn nicht du kann das verstehen?«
Tyler fasste sich an den Hals.
»Chloe, was soll das heißen?«
»Du bist ein Mörder. Niemand wird dich vermissen, alter Mann. Außerdem habe ich den nächsten schon aufgespürt. Er ist ganz in der Nähe.« Chloe verstummte, lauschte mit halb geschlossenen Augen.
Tyler hörte und sah nur noch verzerrt. Schweiß drang aus allen Poren, brannte in den Augen. Sein Hals juckte, die Lungen zersprangen.
»Wehr dich nicht. Das Gift wirkt so schneller und es tut nicht weh.«
Hektisch suchte Tyler Halt, seine Hand bekam Chloes Rucksack zu fassen. Die winzigen Mechanismen bewegten sich, passten sich an. Erschrocken zog er den Arm zurück.
Im Fallen hörte er Chloes Singsang: »Brüderchen, komm, tanz mit mir, beide Hände reich ich dir, einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer. Ei das hast du schön gemacht, ei das hätt ich nicht gedacht, einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer.«

Losgelöst.
Vereint.

 

Hi Plasma,

hübsch geschriebene, wenn auch etwas zähe Geschichte.
Allerdings für meinen Geschmack kaum SF, denn auch ohne die „SF-Requisiten“ würde der Story wohl nichts verloren gehen.
Das Mädchen ist ohnehin ein deus ex machina, was mir noch nie gefallen hat.

Proxi

 

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