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Schwarz, Weiß und Grau
„Woher hätten wir das wissen sollen? Wir hatten hin und wieder davon gehört, ja, aber wir haben es nicht so richtig geglaubt, es war einfach unvorstellbar. Keiner von uns hatte selbst zuvor so etwas erlebt. Niemals hätten wir damit gerechnet. Nie im Leben. Sie kam über uns wie…“, der Mann machte eine kurze Pause, um nach den passenden Worten zu suchen. „Wie ein Geist“, sagte er schließlich, „wie ein böser Geist, direkt aus der Dunkelheit. Sie hatte uns überrascht, vollkommen überrascht. Eine solche Geschwindigkeit. Und sie zeigte keinerlei Erbarmen.“ Der Mann schüttelte bei den letzten Worten seinen Kopf, dann setzte er seine Erzählung fort. „Dabei wollte ich nur meine Familie ernähren, verstehen Sie? Von irgendwas müssen wir doch leben! Und jetzt….“ Er verstummte. Seine Lippen begannen zu vibrieren, sein Gesicht verzerrte sich zu einer Maske des Leids und Schmerzens. Das warme, monotone Surren der Kamera, welches bisher unaufdringlich im Hintergrund verklang, schallte nun wie ein Dieselmotor in seinen Ohren, fordernd und leidenschaftslos. Er versuchte die Tränen, die seinen Wangen hinunterrannen, zu verbergen und hielt die Hand vor sein Gesicht. Zwei, drei laute Schluchzer noch kamen über seine Lippen, dann fasste er sich wieder, massierte mit Zeigefinger und Daumen seine Augenlider und sprach schließlich weiter. „Sehen Sie sich das an“, und hob anklagend seinen rechten Arm, der knapp unterhalb der Schulter in einen Stumpf mündete. „Zum Krüppel hat sie mich gemacht.“
Dann senkte sich sein Blick und ein Ausdruck unendlicher Leere breitete sich in seinen Augen aus. „Zum Krüppel“, flüsterte er wie abwesend.
Kapitel Eins
Es war dunkel. Sternenklar lag der Nachthimmel über der Landschaft, die friedlich zu schlummern schien, gewogen in den Schlaf vom Gesang der Zikaden.
Vor vier Tage war sie zurückgekehrt an die Stelle, wo sie den niedergeschossenen Körper der jüngsten von ihnen im Gras liegen gesehen hatte; dorthin, wo sie und die anderen heimgesucht worden waren.
Sie war nicht mehr da gewesen.
Wo hatten die Männer sie hingebracht?
Sie hatte sich erinnert, daß in einiger Entfernung eine Siedlung war, an der sie vor ein paar Monaten mit den anderen zusammen vorbeikamen. Damals hatten sie dieses Dorf nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen und es keiner weiteren Beachtung geschenkt.
Ungeachtet des weiten Weges hatte es ihr aussichtsreich erschienen, auch dort zu suchen. Schließlich war es eine der wenigen ihr bekannten Orte, wo eine größere Anzahl an Menschen anzutreffen war. Und er war der nächstgelegene.
Nun endlich stand sie hier, nach viertägiger Wanderung, und sah in der Entfernung etwas Helles funkeln.
Auf ihr Gedächtnis war Verlass.
Müdigkeit und Erschöpfung hatten sich bereits in ihrem Körper breitgemacht, aber die Lichter der Siedlung gingen durch ihre Augen hindurch in ihr Herz, und brachten dort den Saatkorn der Sehnsucht, den sie seit vier Tagen in sich trug, zum Keimen.
Vitalisierend verströmte er seine Energie durch ihre Lebensadern und schien sie die letzten Meter wie auf einer Sänfte gleich über den Boden zu tragen, den Lichtern entgegen.
Je näher sie ihnen kam, desto deutlicher vernahm sie Stimmen und Gelächter, die durch das akustische Gewand, in das die Singzikaden die Nacht kleideten, zu ihr hindrangen.
Noch vor Mitternacht würde sie dort sein, und etwas nährte in ihr die Gewissheit, daß sie in diesem Dorf finden würde, wonach sie suchte.
Die Menschen des Dorfes saßen kreisförmig um ein riesiges Lagerfeuer, das sie auf einem Platz inmitten ihrer Siedlung aufgeschichtet hatten. Gelbe und orange Flammen, die knisternd auf und ab tanzten, tauchten einige Meter um sie herum alles in ein warmes und weiches Licht. Offensichlich vergnügten sich die Dorfbewohner bei einer Art Feier und waren bei Tanz und Gesang in freudiger und ausgelassener Weise mit sich selbst beschäftigt.
Niemand von ihnen hatte sie das Dorf betreten sehen. Still stand sie da, getaucht in der Schwärze eines Schattens, den eines der Gebäude spendete. Wissend, daß sie niemand bemerkt hatte, ließ sie ihren Blick über die Versammlung am Feuer schweifen.
War sie hier?
Waren auch die Männer hier?
Sie setzte noch einen Schritt vor. Obwohl sie sich keinerlei Mühe gab, leise zu sein, gab sie kaum vernehmbare Geräusche von sich. Noch immer hatte keiner von ihr Notiz genommen. Mit ihrer kleinen Bewegung nach vorn hatte sich ihr Sichtfeld erheblich verbessert.
Und dann erblickte sie einen der Männer. Sie war sich sicher. Er war einer von ihnen. Nicht der, der geschossen hatte. Aber er war mit ihnen da draußen. Sie spürte, daß ihr Herz anfing schneller zu schlagen. Weiter unbemerkt tastete ihr Blick über die Gesichter der Dorfbewohner. Es dauerte nicht lange, nur ein paar Sekunden, und sie machte den nächsten ausfindig. Keine Minute war vergangen und sie hatte alle Männer gesichtet.
Aber wo war sie?
Sie musste hier sein, da war sie sich sicher.
Nun war es an der Zeit für sie zu handeln.
Sie preschte mit blitzartiger Geschwindigkeit in die Menschenmenge hinein. Bevor der erste von ihnen mitbekam, was los war, war es bereits um ihn geschehen. Mit aufgerissenen Augen landete er tot in der staubigen Erde.
Blut ran aus seinem Mund, der Nase und den Ohren. Einer seiner Knochen, vermutlich das Schlüsselbein, ragte bleich und blutverschmiert unterhalb seines Halses heraus.
Das lähmende Staunen der Überraschung wich hellem Entsetzen, welches nun die Dorfbewohner erfasste. Schiere Todesangst ließ sie stolpern und strampeln und übereinander fallen. Heulend und winselnd rappelten sie sich wieder auf, versuchten auf die Füße zu kommen, einige krochen auf allen Vieren davon. Über all dem Getümmel wütete ein ohrenbetäubender Lärm. Knochen knackten hörbar. Ein weiterer Mann ging zu Boden. Dort, wo sich vor ein paar Sekunden noch sein Kopf befunden hatte, war nun ein breiiges, kelchförmiges Etwas, aus dessen geborstenem Ende eine hellrosa geléeartige Masse wie in Zeitlupe blutend herausquoll und sich über die staubige Erde ausbreitete.
Einen weiteren Augenblick später übertönte jäh ein gellender, schmerzerfüllter Schrei das panische Gewusel, der ebenso abrupt mit einem knirschenden Geräusch endete.
Einige derer, die unversehrt blieben, sollten später berichten, wie sehr sie fasziniert waren von der Betrachtung dieser Komposition der Zerstörung, in deren Zentrum sie stand und alles Leben wie ein Mahlstrom anzog und in dunkle Tiefe hinabriss. Hypnotisiert von ihrer Gewandtheit, ihren geschmeidigen Bewegungen auf kleinstem Raum voll von Kraft und Anmut gleichermaßen und ihre unglaubliche Geschwindigkeit, mit der sie einem Sturm gleich über sie alle hereinbrach, vermochten die Überlebenden nicht, ihre Blicke abzuwenden, bar jeglichen Bewußtseins, ebenso aus dem Leben ins Verderben hineingezogen werden zu können.
Denjenigen, die vor vier Tagen da draußen waren, diesen Männern machte sie den Garaus. Und jenen Unglücklichen, die ihr dabei im Wege standen. Niemand war imstande, ihr etwas entgegen zu setzen. Zu groß war der Schrecken, zu gut war sie bewaffnet, zu gewaltig war sie in diesem Moment.
Es dauerte nicht lange, nur wenige Minuten, und der einseitig geführte Kampf war zu Ende. Stille legte sich über den Schauplatz ihres todbringenden Tanzes.
Allein stand sie auf dem Dorfplatz und schaute sich wieder um. Frauen und Männer, tot oder schwerverletzt, lagen um sie herum über den Boden verstreut.
Jetzt, wo der Platz um das Lagerfeuer gelichtet war, entdeckte sie sie.
Sie erkannte sie fast nicht wieder, so schrecklich entstellt hatte man sie. Gehemmt von dem entsetzlichen Anblick, bedrückt von der Gewissheit ihres Todes, die nun zur Herrin ihrer Sehnsucht wurde, begab sie sich langsamen Schrittes zu ihr hin. Sie blickte hinab auf ihr Antlitz und sah die schmerzerfüllten Züge, die die geschlossenen Lider und die Partien rund um die Augen zeichneten. Sanft strich sie über die Haut ihres geschundenen Leibes, aus dem alles Leben und alle Würde qualvoll vertrieben worden waren. Ihr Tod, ihre Pein erfüllte sie mit Traurigkeit, die ihre Seele durchströmte gleichsam eines reißenden Flusses, der sich seinen Weg durch die Wildnis bahnt.
Vier Tage zuvor.
Der Schuß brach. Aufgeschreckt durch den Knall stieg ein Schwarm Vögel kreischend und mit wildem Flügelschlag aus den Wipfeln einer nahegelegenen Baumgruppe empor und verschwand rasch.
Unten am Boden sah es nicht anders aus. Panik machte sich breit und hatte auch die anderen erfasst, selbst die Alten und Erfahrenen. Die nackte Angst um das eigene Leben löste bei ihnen den naturgegebenen Trieb der Selbsterhaltung aus, der ihnen unbändige Kraft, Energie und auch Kopflosigkeit bescherte.
Alle anderen um sie herum nahmen lärmend Reißaus von den Männern. Nur sie, sie allein blieb stehen. Nicht nur ihr Blick, ihr ganzer Körper war denjenigen zugewandt, die den Tod über sie hineinbrachten.
Ihre gesamte Körpersprache war Ausdruck ihrer Standhaftigkeit und ihres Mutes, gespeist aus der Verantwortung, die sie den anderen gegenüber trug. Trotz der Gefahr, in der sie sich befand, verspürte sie keinerlei Angst, zumindestens nicht um sich selbst. Stattdessen überkam sie Kummer. Kummer über den regungslosen Körper, den sie nur wenige Meter entfernt vor sich am Boden liegen sah. Nur ein paar Schritte und sie wäre bei ihr.
Sie musste ihr helfen.
Sie musste wissen, ob sie noch lebt.
Ihr Verlangen, ihr zur Hilfe zu eilen, zu gucken, ob sie noch atmet, wurde erstickt, als sie hochblickte und sah, wie einer der Männer den Lauf seines Gewehrs auf sie gerichtet hatte.
Sie waren immer noch rund einhundert Meter entfernt.
Würde er auch sie niederstrecken?
Wieder krachte ein ohrenbetäubender Schuss. Ihr Herz raste. Sie hörte, wie die Kugeln mit einem hohen, sirrenden Ton an ihr vorbeisausten. Sie glaubte sogar einen Luftzug zu spüren. Es gab für sie keine andere Möglichkeit, als sich zurückzuziehen. Ihr war es bewusst, daß die Männer nicht davon abließen, nach ihr zu trachten, ihr das für sie Wertvollste zu entreißen, wenn sie weiter hierbliebe. Bevor sie sich abwandte, ließ sie ihren Blick über die Gruppe ihrer Häscher wandern. Es reichte nur ein Moment, nur wenige Sekunden, und sie hatte sich all ihre Gesichter eingeprägt.
Dann machte sie eine Kehrtwendung und strebte den anderen hinterher. In diesem Moment war es an ihr, all die Ihresgleichen, die zuvor in Panik auseinandergestoben waren, wieder einzuholen und zu sammeln. Aber wenn das getan war, würde sie hierher zurückkommen. Sie würde sich vergewissern, was aus ihr geworden war.
Sie schritt über den Platz vorbei am Lagerfeuer, über die zertrümmerten, verstümmelten und zerquetschten Leiber hinweg in Richtung des Dorfausganges.
Kurz bevor sie das Ende der Siedlung erreichte, blieb sie stehen und wandte sich um.
Noch einmal schaute sie die Gesichter derer an, die dort blutend, röchelnd, wimmernd und stöhnend inmitten der Verheerungen im Staub lagen.
Sie schwenkte ihren mächtigen Kopf in hin und her, reckte ihn dann empor, sodaß ihre imposanten Stoßzähne nach oben in den nächtlichen Himmel zeigten, hob ihren Rüssel und stieß einen langgezogenen und lauten trompetenden Ruf aus.
Dann drehte sie sich um, verließ das Dorf mitsamt all dem Kummer, all den Schmerzen und wanderte hinaus in die Savanne, zurück auf den Weg zu ihrer Herde.