- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 21
Schwarz lächelt
In einem Comic wären sich Karen und das Haus zur Begrüßung vermutlich überglücklich in die Arme gefallen. Im echten Leben schaut Schwarz dabei zu, wie seine Ex-Frau nach über einem Jahr wieder die Räume betritt, in denen sie einst zusammen lebten. Seit ihrer offiziellen Scheidung letzte Woche hat er mit dem Packen begonnen. Von all dem, was er nach seinem Herzinfarkt im vergangenen Jahr hatte verändern wollen, ist dieser Schritt im Lauf der Zeit immer dringlicher geworden. Er will hier möglichst bald weg, raus aus dem Haus, das so viel von Karen hat und so wenig von ihm. Jetzt, da sie wieder da ist, erkennt er deutlich, dass es ihr Zuhause ist.
„Du hast es dir auch wirklich gut überlegt?“ Sie schenkt ihm dieses warme Lächeln, das ihm lange nicht mehr vergönnt war, und es berührt ihn, in ihr wieder die Frau zu erkennen, mit der er einst bis zum Ende aller Tage hatte glücklich werden wollen. Immerhin haben beide noch die letzte Chance genutzt, aus ihrer Deckung zu kriechen. Der gemeinsame Weg aber liegt unwiderruflich hinter ihnen, vom Paradies über Berge und Täler mitten durch das Schlachtfeld bis in das heutige Niemandsland.
Ob er ein Problem damit hätte, aus dem Haus auszuziehen, in dem er sich bis heute wie ein Fremder fühlt? Ein Haus, in das ihre Liebe damals erst gar nicht mehr mit einzog. Statt einer Antwort betrachtet Schwarz die Kisten und Kartons, in denen er schon den Großteil seiner Sachen verpackt hat, wie wartende Freunde. Es ist nicht viel zusammen gekommen, doch sind es unverzichtbare Dinge für sein weiteres Leben, deren Wert darin besteht, einige Kompromisse überlebt zu haben. Genau wie Schwarz sind sie noch da, und das allein macht sie wichtig.
„Es stört dich auch wirklich nicht, wenn ich hier mit Jens wohnen werde?“ Karen lässt wieder einmal nicht locker, aber im Vergleich zu früher scheint ihre Beharrlichkeit diesmal gute Gründe zu haben. Sie will eine friedliche Trennung. Andere Paare kriegen das schließlich auch hin. Und den formalen Akt der Scheidung haben sie ja auch reibungslos abgewickelt. So geht es nur noch darum, beim letzten Walzer im Takt zu bleiben; was natürlich auch bedeutet, keinen Stein mehr zu werfen, auch nicht in Richtung des neuen Mannes an der Seite der Ex-Frau - in Richtung Jens. Ausgerechnet Jens, dieses attraktive Sportass, dessen kluger Kopf einen perfekten Körper durch ein sonniges, erfolgreiches und unbeschwertes Leben dirigiert - eine Kombination, die jeden normalen Mann mit Neid und Misstrauen erfüllt.
Schwarz schluckt jedoch zunächst alle kritischen Bemerkung runter, fragt stattdessen: „Willst du einen Kaffee? Ich habe allerdings nur entkoffeinierten.“
„Tee wäre mir lieber.“ Karen folgt ihm in die Küche, will ihn mit den explosiven Gedanken an seinen makellosen Nachfolger nicht allein lassen und trägt ihm das Gespräch hinterher. „Du hast meine Frage nicht beantwortet.“
Schwarz zuckt mit den Achseln. „Jens“, murmelt er in den offenen Vorratsschrank hinein, auf der Suche nach Tee und Kaffee. Mehr fällt ihm nicht ein. Er hat schon ohne Karen ratlos vor dieser Entwicklung gestanden. Jetzt, im Fokus ihrer erwartungsvollen Blicke, geht der letzte Rest klaren Denkens verloren. Als er sich zu ihr umdreht, kann er sich nicht einmal zu einem Lächeln durchringen, auch wenn das vielleicht schon gereicht hätte.
„Ja, Jens!“ Karen geht schon wieder in die Defensive. Das wirkt, als nehme sie einen gewaltigen Anlauf über irgendeinen Abgrund. Schwarz kennt ihre Körpersprache so gut, und macht trotzdem immer wieder dieselben Fehler. Dabei ist Karens Sehnsucht nach Harmonie deutlich zu spüren und es gibt keinen Grund, Gedanken wie Handgranaten einzusetzen – aber Schwarz macht es trotzdem:
„Du hast deiner besten Freundin den Mann ausgespannt ...“
Es ist eine grausame Feststellung.
Karens Blick bewölkt sich. „Erstens bist du der Letzte, der ein Recht darauf hat, mich moralisch zu verurteilen. Ausgerechnet du! Muss ich dir wirklich wieder in Erinnerung rufen, was du …?“
Nein, das muss sie nicht. Er hebt schuldbewusst die Hände, ergibt sich, flüchtet sich in ein schiefes Grinsen. „Du hast ja recht. Ich hätte das nicht sagen sollen.“ Es macht keinen Sinn, zum hundertsten Mal über Saskia Hartmann zu streiten, über seine seit Jahren brodelnde Affäre, die er kurz nach seinem Herzinfarkt und der Rückkehr aus der Reha vor einem Jahr ernsthaft hatte beenden wollen, die aber zwischendurch immer und immer wieder aufflackert. Er hat genügend Gründe für die Trennung von seiner Frau gefunden, aber bisher noch keinen Grund, seine Geliebte zu verlassen. Vielleicht deshalb nicht, weil es mit ihr „nur“ um Sex geht, und dieses Nur funktioniert ohne Regeln. Wenn er mit Saskia zusammen ist, muss er sich keine Sorgen über emotionale Altlasten oder zerschlagenes Porzellan machen, muss nicht auf Zehenspitzen denken und wenn er sich vor ihr auszieht, ist er wirklich nackt.
„Wahrscheinlich bist du immer noch mit dieser ...“ Karen holt so tief Luft, als müsse sie minutenlang den Atem anhalten und stößt dann nur hervor: „Vergiss es!“
„Und zweitens?“, fragt Schwarz, während er den Wasserkocher bedient.
„Wieso zweitens?“
„Weil du erstens gesagt hast.“ Er stellt die Kaffeemaschine an.
„Ach Gott, als ich damals nach unserer Trennung vorübergehend zu Suse und Jens zog, da stand ihre Ehe schon längst vor dem Aus. Ich habe nichts kaputt gemacht, was nicht schon kaputt war.“
Schwarz verdreht die Augen. „Doch nicht dieses Traumpaar! Die haben sich doch immer wie liebestrunkene Schmetterlinge umflattert. Gegen die kam man sich wie Fliegendreck auf einer Windschutzscheibe vor. Haben die nicht überhaupt die Liebe erfunden?“
Karen kann ein amüsiertes Lächeln nicht unterdrücken. Tatsächlich haben Suse und Jens ihre Harmonie zuletzt stets einen Tick zu effektvoll inszeniert, wie in einem Werbespot für das Traumpaar des Jahres, jede liebevolle Geste wie von einem Tusch begleitet.
„Das hat Suse bestimmt ziemlich mitgenommen“, vermutet Schwarz, bemüht, nicht allzu bösartig zu klingen. Zwischen der besten Freundin seiner Frau und ihm hat von Anfang an eine starke Abneigung geherrscht. Insofern macht ihn Suses persönliches Unglück nicht ernsthaft betroffen. Karen wedelt seine Worte wie lästige Insekten beiseite. „Ich denke, dass ich mit dir nun wirklich nicht über Suse sprechen muss. Ich bin mit ihr seit der Schulzeit befreundet, und daran wird sich nichts ändern, da mach dir mal keine Sorgen. Und wenn du mal wieder Lust haben solltest, gegen Jens im Tennis zu verlieren, dann frag ihn einfach. Auch da wird es keine Vorbehalte geben. Wir sollten uns alle wie Erwachsene benehmen.“
„Und wenn ich lieber mit dir Tennis spielen will?“
„Haben wir doch nie gemacht.“
„Vielleicht wäre es mal Zeit.“
„Ich hasse Tennis. Wir können aber gern mal zusammen laufen.“
Schwarz grinst. „Erst, wenn ich mit dir mithalten kann. Jedenfalls habe ich kein Problem damit, wenn du hier mit Jens einziehst. Wenn ihr mich, wie besprochen, auszahlt, ist alles gut.“
„Jens wird das erledigen“, versichert ihm Karen geschäftsmäßig. „Weißt du, es ist wirklich lieb von dir … dieses Haus ...“
„Ja, ich weiß“, sagt er. „Es ist ja dein Haus, schon immer gewesen, das ist mir längst klar. Es hat sich ja auch richtig auf deine Rückkehr gefreut. Letzte Nacht haben die Räume schon aufgeregt getuschelt, und die Möbel haben geschunkelt vor lauter Vorfreude, dass du bald wiederkommst und sie mindestens einmal die Woche vom Staub befreist.“
Karen knufft ihren Mann. „Verstehe mich bitte nicht falsch, aber der Herzinfarkt hat dir echt gut getan. Du bist wieder … du. Wie du früher einmal warst. Nicht mehr so ..."
"Schon gut", grätscht Schwarz verlegen in ihren Satz hinein.
Karen kümmert sich errötend um ihren Tee, er schenkt sich geschäftig seinen koffeinfreien Kaffee ein.
„Geht es dir denn immer noch gut?“, will sie wissen, während er sich am Küchentisch ihr gegenüber niederlässt, und es ruht wieder dieser Karenblick auf ihm, dem nichts entgeht.
Aber es gibt nichts zu verheimlichen. „Nach wie vor. Keine Zigaretten mehr. Keine Partys. Alkohol nur in medizinisch vertretbaren Mengen. Viel Sport, gesunde Ernährung. Und demnächst werde ich kündigen.“
Jetzt ist Karen wirklich überrascht.
„Du willst was?!“
„Kündigen!?“ Alexander Grubingers Augen verengen sich. „Bis du übergeschnappt?“ Er scheint aufspringen zu wollen und bleibt dann doch hinter seinem Schreibtisch sitzen, als habe ihm jegliche Kraft verlassen - ihn, diesen energischen Macher, der seine Rolle als Chefredakteur hier in der Redaktion mit viel Leib und wenig Seele auslebt.
Nun, da die Katze aus dem Sack gelassen ist, entspannt sich Schwarz im bequemen Lederstuhl, in dem er so viele Jahre Grubingers Stimmungsschwankungen ertragen hat.
„Brandy?“, schlägt Grubinger vor und stemmt sich entschlossen hoch. Im Stehen kann er den anschwellenden Zorn besser beherrschen, der ihm bereits in die feisten Wangen flammt.
Schwarz schüttelt den Kopf.
„Dann hat dein Infarkt doch schlimmere Auswirkungen gehabt, als ich dachte.“
„Weil ich keinen Brandy will?“
„Weil du kündigst, Mann! Hast du dir das auch wirklich gut überlegt? Wir beide haben doch noch so viel vor. Und gerade jetzt ...“
„Es ist doch immer gerade jetzt.“
„Du siehst aber selbst, wie gerade jetzt die Welt verrückt spielt, oder?“
„Was ich vor allen Dingen sehe, sind junge Typen, die im Sommer Wollmützen tragen und uns erklären, wie die Welt funktioniert. Das Schlimme daran ist nicht, dass sie das können. Schlimm ist, dass ich genau weiß, was sie über uns denken. Und das ist höchst unerfreulich. Ich weiß das, weil ich früher auch so war.“
„Du hast im Sommer eine Wollmütze getragen?“
„Scheiße, Alex, du weißt doch genau, was ich meine!“
Grubinger bietet ein versöhnliches Grinsen an. „Also, ich hab damals nicht mal im tiefsten Winter 'ne Wollmütze getragen.“
„Weil deine Haare bis zum Arsch reichten, und du meistens bekiffter warst, als die erste Reihe im Bob Marley Konzert. Aber es geht darum, dass wir mittlerweile alte Säcke geworden sind. Daran ändert man auch nichts, indem man seine letzten paar Haare zu einem Pferdeschwanz bindet, einen Ohrring trägt und alles krass oder porno findet.“
„Und worauf willst du hinaus? Soll ich Matze zum Chefredakteur ernennen und mich dann aufhängen?“
Schwarz zuckt mit den Achseln. „Was weiß ich? Du wendest dich in deinem Editorial mittlerweile an Menschen außerhalb aller werberelevanten Zielgruppen. Wir sind mit unseren Stammlesern ins Abseits gealtert. Das ist der Untergang jeder Zeitschrift. Und wir beide sind die Totengräber. Das bringt mir nichts mehr.“
„Du redest Bullshit!“
„Weil ich keine Lust mehr habe, gemeinsam mit dir hochglänzend in den Untergang zu steuern? Du brauchst mich doch sowieso nur noch als Prellbock. Ich verteidige deine Pläne gegen den Unmut der jungen Kollegen, und filtere aus deren Unmut die besten Ideen für dich raus, damit das Schiff einigermaßen auf Kurs bleibt. Wo genau finde ich denn da noch statt?“
„Dann nimm halt eine Auszeit, und geh dich suchen.“
„Hörst du mir eigentlich zu?“ Schwarz erhebt sich ebenfalls. „Ich hatte hier eine wirklich gute Zeit, Alex. Aber mittlerweile bin ich einfach … leer. Verstehst du? Gerade die letzten Monate habe ich gemerkt, dass mir der Job nichts mehr gibt. Ich habe meine Leidenschaft verloren. Und den Glauben an die Sache!“
Grubinger starrt Schwarz wie einen Außerirdischen an. „Leidenschaft?“, wiederholt er. „Was für'n Quatsch ist das denn? Du klingst wie eine Schwuchtel! Ich kann verstehen, dass so ein beschissener Infarkt einen vorübergehend umhaut. Und ich bin bereit, dir die Zeit einzuräumen, die du brauchst, um wieder in Form zu kommen. Nimm dir von mir aus den dir zustehenden Burnout und lass dir für ein paar Wochen irgendwo in einem Wellnesshotel die Seele und die Eier kraulen. Aber wenn du meinst, dich hier jetzt einfach so verpissen zu können … mich mit der ganzen Scheiße allein lassen … gerade jetzt … dann war's das mit uns. Deinen Namen werde ich in der Branche zum Synonym für Versagen machen.“
„Und dann hast du nachgegeben“, sagt Martha.
Schwarz schüttelt den Kopf. „Nein, habe ich nicht. Natürlich hat mich Alex für den Rest meines Lebens mit seinem Fluch belegt. Die Trennung von ihm war um einiges emotionaler als die von meiner Frau. Er hat geblitzt und gedonnert. Dann hat er mich mit sofortiger Wirkung suspendiert. Das Gehalt läuft noch eine Weile weiter. Nun bin ich schneller frei, als ich dachte. Und das gefällt mir!"
Die alte Dame hat auf Nadines Grab Blumen gelegt. Dann tritt sie wieder zurück und stellt sich neben Schwarz, verschränkt die Hände auf dem Rücken und blickt mit ihm zusammen auf den Grabstein. Sie schweigen lange und verlieren sich in Gedanken und Erinnerungen.
„Sie hatte wirklich niemanden ...“, sagt Schwarz schließlich aus dem seltsamen Gefühl heraus, genau das sagen zu müssen, auch wenn es nach einem schlechten Drehbuch klingt.
„Sie hatte uns“, widerspricht Martha.
Schwarz erinnert sich an die Reha nach seinem Infarkt, dort, wo er Nadine und Martha als Leidensgenossinnen kennenlernte. Er erinnert sich an Nadines liebenswerte, anhängliche Art, mit der sie seine verkrusteten Gefühle knackte. Eine junge, herzkranke Frau, die wie selbstverständlich seinen Schutz beanspruchte, und ihm damit genau das gab, was er in der schlimmsten Phase seines Lebens brauchte. Sich um Nadine kümmern, hatte ihn wieder stark gemacht. Nach der gemeinsamen Reha hat er zu den beiden Frauen weiterhin Kontakt gehalten, sich ab und zu mit ihnen getroffen. Er hat Nadine Mut zugesprochen, nachdem die nächste Operation unausweichlich geworden war, und Martha und er waren nach dem schweren Eingriff bei ihr, als die kleine, zarte Person schon wieder von Zukunft sprach, während sie Schwarz' Hand so fest umklammerte, als hinge sie in einer Steilwand. Die telefonische Nachricht von Nadines Tod hat er dann während einer Redaktionskonferenz erhalten, in der darüber diskutierte wurde, wie viel Erotik das Titelbild der nächsten Ausgabe vertragen könnte. Aber nicht erst seit diesem Tag weiß er, dass er so nicht mehr weitermachen will.
„Was wirst du jetzt tun?“, will Martha wissen und streichelt zum Abschied Nadines Grabstein.
„Was ich jetzt tun werde?“ Schwarz schaut nachdenklich in eine innere Ferne. „Das weiß ich nicht. Eigentlich habe ich mich erstmal nur gegen meinen Job entschieden. In den letzten Monaten hat mich der ganze Kram noch mehr geschafft als vor dem Infarkt. Für einige in der Redaktion bin ich nicht nur alt und angeschlagen, sondern nahezu tot. Seit ich aus der Reha zurück war, redeten sie manchmal mit mir, als würde ich mit den Augen hören.“
„Wenn du es dir finanziell erlauben kannst ....“ Martha hakt sich bei ihm ein. „Aber irgendeine Alternative zum Job müsstest du trotzdem haben, oder?“
„Eine Alternative“, murmelt Schwarz, als wäre ihm die Bedeutung dieses Wortes unbekannt.
Martha zieht ihn mit sich. „Nun komm erst mal, ich lade dich auf einen Kaffee ein, und dann reden wir noch ein bisschen über die Zukunft. Wie wirst du denn jetzt überhaupt deine Tage verbringen, so ganz ohne Aufgabe?“
„Ich laufe“, sagt Schwarz.
„Wenn du viel läufst, musst du oft die Schuhe wechseln“, hat Karen doziert und ihm ein gutes Sportgeschäft empfohlen. Auf ihr Anraten hat sich Schwarz gleich drei Paar Laufschuhe besorgt und dazu noch einen Herzfrequenzmesser, der mit einem Brustgurt getragen wird. Seine Werte kann er dadurch während des Laufens auf einer Uhr kontrollieren. Diese Form des Ausdauertrainings ist für ihn längst zur Passion geworden. Vier bis fünf Mal pro Woche läuft er mindestens eine Stunde. Seine neue Wohnung liegt direkt neben einem Park und bringt ideale Voraussetzungen für seine sportlichen Aktivitäten mit. Die Strecke hat eine ideale Länge, ist abwechslungsreich und vor allen Dingen gut beleuchtet – was besonders wichtig ist, weil er gern früh morgens läuft. Meistens verlässt Schwarz mit einem Sack voll ungelöster Probleme das Haus. Beim Warmmachen beginnt zunächst die Konzentrationsphase. Durch Dehn- und Lockerungsübungen bekommt er ein Gefühl dafür, in welchem Zustand sein Körper ist. Seine Tagesform ist launisch. Heute geht es ihm gut. Die Übungen fallen ihm leicht, er ist hoch konzentriert und die Gedanken hat er unter Kontrolle.
Greif dir einen dieser Gedanken, Schwarz, einen ganz wichtigen, und dann laufe mit ihm!
„Was wirst du jetzt tun?“ Er nimmt sich diese Frage, die ihm Martha gestern stellte, mit auf die Strecke und läuft los. Langsam. Schritt für Schritt; kontrolliert die Atmung, die Geschwindigkeit, seine Bewegungen, blickt kurz auf die Armbanduhr, die ihm den ersten Herzfrequenzwert meldet und schaut sich dann um. Das regelmäßige Laufen hat sein Empfinden für die Natur wieder gestärkt. Der Herbst hat längst Einzug gehalten; ungestüm, nass aber entwaffnend farbenfroh. Ein morbider Clown, der bunte Blätterleichen fröhlich herum wirbelt. Doch die Luft ist angenehm, und wenn es nicht zu stark regnet oder stürmt, bieten sich ideale Laufbedingungen.
Anfangs fällt es Schwarz schwer, in den richtigen Atemrhythmus hineinzufinden. Nach ein paar Minuten spürt er eine aufkommende Erschöpfung - aber kurz danach stellt sich das ideale Tempo wie von selbst ein. In diesem magischen Moment hat der Geist die Kontrolle an den Körper abgegeben. Die Bewegungen werden flüssiger und entspannter. Schwarz wird eins mir der Situation. Genau das ist es, was er auf sein Leben übertragen möchte!
Locker überholt er zwei plaudernde Joggerinnen, kommt an einem schnaufenden und mit seinen Stöcken klappernden Nordic Walker vorbei, und an einem jungen Mann, der beim Laufen einen Kinderwagen vor sich her schiebt. Sein Kopf wird frei. Die zentrale Frage bekommt auf diese Weise viel Raum und lässt sich entspannt von allen Seiten betrachten.
Was wirst du tun?
„Und was wirst du jetzt tun?“ Saskia hockt noch auf ihm und mustert ihn aus großen Augen, während sein Schwanz langsam aus ihr heraus schrumpft. Er atmet schwer. Sie lässt sich seufzend neben ihn fallen und umklammert ihn sogleich. „Du kannst ja nicht einfach so aufhören.“
Er versucht, ihren Griff etwas zu lockern, um besser atmen zu können. „Ich höre nicht auf“, ächzt er. „Ich mache nur etwas anderes.“
Sie drängt sich mit ihren verschwitzten Brüsten auf ihn. „Aber was denn? Das haben sich auch schon andere gefragt. In der Redaktion reden sie natürlich über dich, obwohl Alex verboten hat, jemals wieder deinen Namen zu erwähnen. Er hat dein Türschild abmachen lassen, kaum, dass du weg warst. Das konnte ihm gar nicht schnell genug gehen. Aber einige bedauern, dass du weg bist.“
„Mir egal“, brummt Schwarz und fragt sich, wer seinen Fortgang wohl bedauert haben könnte.
„Du warst jedenfalls ein guter Chef“, sagt Saskia. „Ich habe dich schon geliebt, als wir noch nicht gebumst haben.“
„Klingt irgendwie komisch“, sagt Schwarz.
„Dass du ein guter Chef warst?“
„Dass du mich liebst.“
„Aber wir haben doch gerade ...“
„Saskia. Hör auf mit diesem naiven Gerede! Und hör vor allen Dingen bei dem, was wir hier machen, von Liebe zu reden.“
Sie boxt ihm ärgerlich gegen die Schulter. „Wie soll ich das denn sonst nennen?“
„Hast du doch selbst gesagt. Wir bumsen.“
„Für mich ist das Liebe.“
„Würdest du meinetwegen deinen Mann verlassen?“
„Warum denn?“
„Weil du mich liebst! Schon vergessen?“
„Aber jetzt ist doch endlich alles gut? Du bist frei, und mein Mann merkt sowieso nie was.“
„Und das findest du gut?“
„Natürlich! Wir beide sind ...“
Jetzt richtet Schwarz sich auf und starrt gespannt auf ihre vollen Lippen, als wolle er die Geburt des nächsten Wortes mit eigenen Augen sehen. Aber Saskia bricht ab, senkt den Blick und fühlt sich von seinem Interesse in die Enge getrieben.
„Ich habe noch nie darüber nachgedacht, ob ich Uli verlassen will“, sagt sie schließlich kleinlaut.
„Dann sollten wir vielleicht zuerst definieren, was du konkret unter Liebe verstehst“, schlägt Schwarz vor. „So inflationär, wie du dieses Wort benutzt.“
„Lass das“, sagte sie leise.
„Was denn?“
„Mich wie eine blöde Kuh zu behandeln.“
„Ich versuche doch nur ...“
Sie kneift die Augen zu wie bei einem akuten Migräneanfall. Als Schwarz sie besänftigen will, schlägt sie seine Hand weg. „Ich werde nicht heulen, keine Sorge. Willst du noch mal ficken? Sonst kann ich ja gehen.“
Da Schwarz schweigt, steht Saskia schließlich auf und verschwindet Richtung Badezimmer. Später taucht sie fertig angezogen vor seinem Bett auf und schaut finster auf ihn herab.
„Es gibt vielleicht kein richtiges Wort für das, was wir machen“, sagt sie. „Aber irgendwie liebe ich alles, was wir machen. Und das ist Liebe!“
Schwarz steht auf, versucht, sie in die Arme zu nehmen. Er spürt, wie sie das verunsichert, wie sie sich sträubt und verkrampft, als wären ihr ernsthafte Zärtlichkeiten zuwider. Trotz der langjährigen Affäre haben sie zwischen sich kaum Nähe zugelassen. Wie oft hat Schwarz Saskia einfach nur geküsst, weil er keine Ahnung hatte, worüber er mit ihr reden sollte. Und sie schien immer nur die Zeit überbrücken zu wollen, bis endlich sein Schwanz in ihr steckte. Erst dann passten sie zusammen.
„Wir sollten uns eine Pause gönnen“, sagt Schwarz. „Ich brauche Abstand und Zeit für mich. Ich hoffe, du verstehst das ...“
„Nein, tue ich nicht. Will ich auch gar nicht!“ Sie versucht, sich aus seiner Umarmung zu befreien. Und schließlich weint sie doch. „Wir können ja nicht mal Freunde bleiben“, schluchzt sie. „Wir nicht!“
„Es tut mir leid“, murmelt Schwarz. Da windet sie sich endgültig aus seinem Mitleid und geht. In der Tür stehend blickt sie sich noch einmal für ein trotziges Lächeln um. „Ich verstehe nicht, wie du einen Herzinfarkt bekommen konntest“, sagt sie. „Ohne Herz.“ Dann ist sie weg.
Der Mann steht plötzlich hinter ihm, gerade als er vom Laufen gekommen ist und seine Tür aufschließen will. Schwarz spürt den Druck im Rücken, während Alkoholdunst über seine Schulter weht. „Ich habe eine Pistole“, droht die heisere Stimme. „Aufschließen und Fresse halten!“
„Sie wollen mich ausrauben?“, fragt Schwarz auf eigentümliche Weise belustigt.
„Nee, ich will dir einfach nur in deine blöde Birne schießen“, erwidert der Mann. „So, wie Saskia vorhin.“
Schwarz ist entsetzt. Saskia? Erschossen? Und offensichtlich steht ihr Mann besoffen und bewaffnet hinter ihm. Dann ist die Tür ist offen, der Mann schubst Schwarz in die Wohnung und knallt sie hinter ihnen wieder zu. Schwarz dreht sich um. Der Eindringling hat tatsächlich eine Waffe und starrt ihn hasserfüllt an. Wenn er sich bloß an den Namen von Saskias Mann erinnern könnte, dann wäre es vielleicht einfacher, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Hat Schwarz den verdammten Herzinfarkt am Ende nur überlebt, um heute auf diese erbärmliche Weise sterben zu müssen? Welch Ironie des Schicksals wäre das!
„Sie haben Saskia erschossen?“, fragt er erschüttert. „Was für ein Wahnsinn!“
Der Mann antwortet nicht, starrt eine Weile nur stupide an ihm vorbei ins Nichts. Er ist unrasiert und nachlässig gekleidet, als hätte er fluchtartig seine Wohnung verlassen. Jetzt richtet er mit zitternder Hand die Pistole auf Schwarz. Der hebt reflexartig die Hände, spürt, wie sein Herz pocht und seine Knie weich werden. Ulrich Hartmann – jetzt ist Schwarz der Name eingefallen – lässt die Waffe wieder sinken. „Gibt's hier was zu trinken?“
„Wasser?“
„Ich meine zu saufen!“
„Rotwein? Ich habe nur Rotwein im Haus.“
Hartmann nickt. „Her mit dem scheiß Rotwein.“
Schwarz geht in die Küche, Hartmann folgt ihm. „Keine Dummheiten“, warnt er, wie in einem schlechten Krimi.
„Dummheiten!“, entgegnet Schwarz aufgebracht. „Wer macht denn hier wohl die Dummheiten!“
Sein unerwünschter Besucher reißt ihm nach dem Öffnen gleich die Weinflasche aus der Hand, zwingt Schwarz wieder zurück ins Wohnzimmer auf das Sofa und lässt sich schwerfällig in einem der gegenüberliegenden Sessel fallen.
„Scheiße, ich brau 'ne Kippe!“,Hartmann reibt sich nervös die Bartstoppeln. Schwarz zuckt bedauernd mit den Schultern. „Ich bin Nichtraucher.“ Die letzte angebrochene Schachtel Zigaretten vom Tag seines Infarkts, lange das Mahnmal seiner ungesunden Vergangenheit, hat er beim Umzug endgültig entsorgt.
Hartmann nimmt mächtige Schlucke aus der Flasche. „Scheiß Nichtraucher“, murmelt er dann. „Aber meine Frau vögeln. Du bist ihr Boss, verdammt! Wie nennt man das, wenn Vorgesetzte es mit ihren Angestellten treiben? Unzucht mit Abhängigen, oder was? Ist das nicht strafbar?“
„Nein.“
„In meinen Augen ist das aber strafbar. Und ich finde, die Todesstrafe wäre dafür angebracht. Die Todesstrafe für den Chef, der die kleine Assistentin zum Sex zwingt.“
„Ich bin nicht mehr Saskias Chef und ich habe sie zu nichts gezwungen.“
„Das macht die Sache nicht besser, oder?"
Schwarz kriegt diese beiden sich überlagernden Bilder nicht mehr aus dem Kopf. Saskia, die ihn mit einem traurigen Lächeln verlässt, und wie sie jetzt erschossen in ihrer Wohnung liegt.
„Die Sache hatten wir gerade beendet“, murmelt er bitter, und es klingt, als würde er sich das selbst klar machen. „Saskia und ich ...“
„Oh, du fickst meine Frau gar nicht mehr!“ Hartmann lacht höhnisch. „Da muss ich mich jetzt wohl entschuldigen. Drauf geschissen! Ihr habt es Jahre lang hinter meinem Rücken getrieben. Und ich hab ahnungslos geschuftet, um Saskia ein gutes Leben zu bieten. Überstunden noch und nöcher, und ein Dasein tief im Arsch von meinem Boss. Meine Saskia … oder soll ich lieber sagen unsere Saskia? Nun, sie ist nämlich sehr anspruchsvoll. Aber ich habe sie immer geliebt. Wirklich geliebt! Ich habe gedacht … ich war mir immer so sicher … sie hat nie ...“
„Es tut mir leid“, sagt Schwarz lasch. Je mehr Hartmann allerdings von sich preisgibt, desto weniger tut es ihm leid. Vor ihm sitzt ein sich selbst bemitleidender Jammerlappen, unberechenbar mit einer Waffe herumfuchtelnd, mit der er seine Frau ...
Hartmann springt jäh auf und richtet unbeherrscht die Pistole auf Schwarz, hält sie schräg, wie das in den neueren Actionfilmen gern dargestellt wird. „Scheiß drauf, ob dir irgendwas Leid tut! Wie oft habt ihr wohl im Bett über mich gelacht, weil ich so blöde war und nix geschnallt habe?“
Schwarz würde ihm gern versichern, dass sie im Bett mit interessanteren Dingen beschäftigt waren, als über Hartmann zu lachen, aber so was wagt man nicht, wenn man vor dem Lauf einer Pistole sitzt, hinter der ein betrogener Ehemann steht, der zu allem fähig ist.
Der ungebetene Gast lässt sich wieder in den Sessel fallen, trinkt noch mehr Wein, hält dann die Flasche hoch und prüft nachdenklich den Inhalt.
„Halbleer“, sagte er. „Oder halbvoll. Was meinst du?“ Er schaut Schwarz an, als wäre er der Moderator einer Talkshow und hätte gerade eine besonders pfiffige Frage gestellt.
„Auf jeden Fall teuer“, entgegnet Schwarz. „In einem Glas hätte er seinen besonderen Charakter besser entfalten können.“
„Besonderer Charakter!“ Hartmann lacht. „Dann hat dein Wein ja was, was du nicht hast. Nun, bisher war ich der Typ, für den ein Glas immer halbvoll war, verstehst du? Immer!“ Er rülpst bekräftigend. „Aber seit gestern Abend ...“ Er hält noch einmal - jetzt fast vorwurfsvoll - die Flasche hoch. „Nun ist die blöde Flasche plötzlich halbleer, kapiert? Und das ist alles deine Schuld. Und Saskias Schuld. Ihr habt mein Leben kaputt ... gefickt. Nun gibt es keine halbvollen Gläser mehr!“
„Das ist dummes Partygequatsche“, brummt Schwarz. „Ob das Glas halb voll oder halb leer ist, der Weg das Ziel ist und all dieser Eso-Mist, das nervt!“
„Aha“, ruft Hartmann triumphierend aus, trinkt und rülpst abwechselnd und wirkt so, als würde er gleich explodieren. „Der Weg, das Ziel, halb volle Mösen und was weiß ich noch alles, aber du hast natürlich den Durchblick. Und deshalb sind die Frauen alle so geil auf dich, oder was? Dabei bist du hundert Jahre älter als ich. Warum hat Saskia eigentlich mit so einem alten Sack wie dir gevögelt? Das ist doch unnatürlich! Was ist denn nun wichtiger als ein halbes oder leeres Glas?“
„Woher der Inhalt kommt.“
Hartmann winkt kopfschüttelnd ab. „Komisch. Für mich ist immer die wichtigste Frage, wer den ganzen Scheiß eigentlich bezahlen soll. Und das bin am Ende tatsächlich immer ich. Ich bin der geborene Übrigbleiber, der, der bezahlen muss, weil sich alle anderen vorher verpisst haben. Saskia weg, du bist gleich weg, und ich hab mal wieder die ganze Scheiße am Hals … wo kann man hier eigentlich kotzen?“
Schwarz begleitet den würgenden Hartmann hastig zum Badezimmer. Bevor er eine Idee hat, wie er die Situation zu seinem Vorteil ausnutzen und den ungebetenen Gast überwältigen kann, klingelt sein Handy. An der Nummer erkennt Schwarz überrascht, dass der Anruf von Saskias Handy kommt. Und sie ist tatsächlich dran und völlig aufgelöst. „Mein Mann ist verschwunden“, erzählt sie aufgeregt. „Ich habe ihm gestern Abend alles von uns gebeichtet, da hat er sich die ganze Nacht betrunken und ist morgens einfach abgehauen. Jetzt weiß ich nicht mehr, wo ich noch suchen soll. Ich habe Angst, dass er sich etwas antut. Was soll ich nur machen?“
„Er ist bei mir“, sagt Schwarz, froh darüber, dass sie lebt. „Er ist vorhin bei mir mit einer Pistole aufgetaucht und hat behauptet, er hätte dich erschossen.“
Auch Saskia ist erleichtert. „Er ist bei dir? Gott sei Dank!“
„Mit einer Pistole!“, wiederholt Schwarz etwas eindringlicher. „Momentan kotzt er sich allerdings gerade die Seele aus dem Leib. Ich werde jetzt mal lieber seine Waffe an mich nehmen. Die hat er im Wohnzimmer vergessen.“
„Das ist nur eine Schreckschusspistole“, beruhigt ihn Saskia. „Ich komme gleich bei dir vorbei und rette dich vor Uli, okay? Bevor er dich zu Tode labert.“
Schwarz ist immer noch flau im Magen. „Er hat gesagt, er hätte dich erschossen“, betont er nochmals. „Und ich habe ihm das natürlich geglaubt. Saskia, das war ein echter Schock, verstehst du?“
„Mich erschossen? Wie süß!““ Sie lacht. „Bevor er abgehauen ist, hat er mich zu küssen versucht. Von seiner Fahne bin ich tatsächlich fast gestorben. Dann ist er auf und davon. Ich dachte, der wird sich schon irgendwann wieder beruhigen. Er ist ja eigentlich ein durch und durch lieber Kerl, weißt du. Nur trinken darf er nicht. Dann dreht er durch. Ich mach mich jetzt mal am besten auf den Weg. Bis gleich!“
Als Hartmann leicht zitternd aus dem Badezimmer kommt, sieht er wie eine ramponierte Wachsfigur aus, mit wirrem Haar, und blutunterlaufenen Augen. „Mann“, stöhnt er. „Dein teurer Wein ist einfach nur scheiße. Den Charakter habe ich gerade im Klo runter gespült.“
Schwarz hat mit der Waffe in der Hand vor der Tür gewartet, richtete sie jetzt auf den blassen Mann und sagt. „Hände hoch.“
Hartmann schlurft mit hängenden Schultern am Lauf der Pistole vorbei. „Hast du nicht doch irgendwo Kippen?“
Schwarz folgt ihm. „Saskia kommt gleich, um Sie abzuholen. Ich könnte sie noch mal anrufen und sie bitten, Zigaretten mitzubringen.“
Hartmann lässt sich wieder in den Sessel fallen. „Saskia“, stöhnt er. „Von der will ich nix mehr. Da werde ich lieber Nichtraucher, so wie du. Gibt’s hier in Nähe einen Tabakladen oder einen Automaten?“
Schwarz legt die Pistole auf den Wohnzimmertisch, holt sich ein Weinglas und schenkt sich den letzten Rest der Flasche ein. Er nimmt einen Schluck und spürt, wie er langsam wieder zur Ruhe kommt. Zum ersten Mal nach seinem Infarkt könnte er schwach werden. Hätte er jetzt Zigaretten im Haus, würde er vermutlich zusammen mit Hartmann eine rauchen. Aber der ist mittlerweile im Sessel eingeschlafen und schnarcht.
Schwarz hat Platz genommen. Sein Hausarzt Dr. Reuther sichtet aufmerksam einige Daten in seinem Monitor. Dann schaut er den schweigend abwartenden Patienten über seine Halbbrille prüfend an.
„Wie fühlen Sie sich denn so?“
Schwarz ruft sich all die radikalen Veränderungen in Erinnerung, die er nach Infarkt und Reha Angriff genommen hat, und denkt daran, wie Saskias Mann letzte Woche dieses neue Leben mit einer Waffe bedrohte. Da war es ihm so wertvoll wie nie vorgekommen, mit all den neuen Strukturen und Plänen, mit wichtigen Entscheidungen und viel Hoffnung.
„Ich fühle mich gut“, stellt er zufrieden fest und scheint sich mit dieser Erkenntnis selbst ein wenig zu überraschen. „Sehr gut sogar.“
„Keine Beschwerden?“
„Nein. Ich habe nur hin und wieder Nasenbluten.“
Dr. Reuther nickt. „Nicht ungewöhnlich.“ Und referiert dann über ASS 100, Antikoagulanzien und Acetylsalicylsäure. „Wenn es häufiger auftritt, müssen wir uns mal was überlegen.“
Schwarz nickt, ohne wirklich zuzuhören.
Der Arzt faltet die Hände wie zum Gebet. „Tja, Herr Schwarz, was soll ich Ihnen groß sagen? Was auch immer Sie seit dem Infarkt in Ihrem Leben geändert haben, Sie sind auf dem richtigen Weg."
Es ist sechs Uhr Morgens, als Schwarz seine Wohnung verlässt. Es nieselt. Während er in Richtung Park geht, macht er erste Lockerungsübungen und atmet bewusst ein und wieder aus. Neben seinem Lieblingsbaum ziehen ihm beim Warmmachen die Ereignisse der letzten Wochen durch den Kopf. Mittlerweile ist fast alles geklärt, geordnet und besprochen. Karen und Jens sind in das Haus gezogen. Saskia hat ihren Uli wieder beruhigen können. Der Fachpresse war zu entnehmen, dass Alexander Grubinger kurzfristig einen Nachfolger für seinen überraschend ausgeschiedenen Stellvertreter verpflichten konnte. Und Schwarz geht es gut. Er hat sich nach dem letzten Arztbesuch zeitweise wie Supermann gefühlt. Hätte Saskias Mann vor einigen Tagen mit einer echten Waffe auf ihn geschossen, vielleicht wären die Kugeln sogar an ihm abgeprallt.
„Und was werden Sie jetzt tun?“, hat Dr. Reuther ihn zum Abschied gefragt.
Schwarz hat zur Antwort nur gelächelt. Und mit demselben Lächeln startet er heute seinen morgendlichen Lauf.