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Schwarz im Schnee
Schwarz. Wie die Feder eines Raben. Oder wie ein goldgschimmernder Obsidian? Kohle aus dem Herzen eines Berges? Milliardenaltes Meteoritengestein, das vor Urzeiten auf die Erde fiel? Oder wie langsam herabfliessende Tinte, die alles Darunterliegende verschluckt und nie mehr preisgibt.
Der Leser steht wenige Zentimeter davor, und streckt seine Hand nach der Oberfläche aus. Es hätte genauso gut nichts vor ihm sein können, das Pechschwarze verschlingt alles Licht. Wie in einer tiefen, mondlosen Nacht ohne Sterne.
Er konzentriert sich stark auf die Oberfläche, auf die er seine nackte Hand zusteuert. Nicht nur Licht scheint darin zu verschwinden, auch Geräusche gehen in dieser gewaltigen Aura verloren. Ein Sturm aus etwas Unbekanntem will die nahende Hand verscheuchen. Aber da ist Nichts. Nur Schwarz.
Seine Hand berührt den kalten, rauen Stein. Das Herz des Lesers pocht heftig, aber er zwingt sich, die Hand auf der Oberfläche zu behalten. Er schliesst seine Augen. Es ist alles gut, hier gibt es keine Gefahr, die man sich einbilden muss. Der Stein fühlt sich allmählich warm an, als würde er den Eindringling akzeptieren.
Gerade als er sich an die Anwesenheit des Schwarzes gewöhnt hat, lässt der Leser von der Wand ab. Direkt fühlt er sich, als habe ihn etwas verlassen, dass er schon immer dabeihatte. Aber dieses Gefühl verschwindet schnell. Er tritt ein paar Schritte zurück, und richtet seinen Blick aufwärts.
Schwarze Leere ragt bedrohlich vor ihm auf, bis sie in den Wolken verschwindet. Bei dem Anblick wird ihm schwindlig und taumelt einen Schritt zurück. Diese Gewalt! Diese unermessliche Grösse! Er schaut nach links. Kein Ende in Sicht. Rechts, die Wand dehnt sich unendlich in die Länge. Ihre Präsenz drückt schwer auf den Leser. Der grösste Mensch ist an diesem Ort winzig, unbedeutend. Hier gibt es nichts, ausser das Schwarz der Mauer und ihre Existenz.
Der Leser zieht seinen Handschuh wieder an und packt sich besser in seiner Kleidung ein. Sein Gesicht wird von einer Kapuze unkenntlich gemacht und der Rest wird von einem wolligen Schal verdeckt. Nur seine Augen leuchten lebendig durch den Schatten. Der Schneefall hat wieder begonnen, Schneeflocken fallen lautlos auf die schneebedeckte Landschaft. Die Mauer macht die Umgebung kalt, hier hat es immer Schnee. Ein totes Land.
Er macht sich auf den Weg entlang der Mauer. Langsam, aber stetig.
Seine Schritte sind lautlos auf dem weichen Schnee, kein Knirschen, kein Brechen. Das Schnaufen des Lesers ist der einzige Beweis, der von Leben an diesem Ort zeugt. Aber das kümmert ihn nicht, die Anwesenheit der Mauer mindert fast seine Einsamkeit. Sie scheint über ihn zu wachen, zu beschützen. Wie ein Gefährte begleitet sie ihn.
In der Ferne entdeckt der Leser eine schmale Rauchsäule, die von einem Gebäude zu kommen scheint. Beim Näherkommen enthüllt sich ein gigantisches Abbild der Mauer. Ein rabenschwarzes schmales Gebäude, das für ihre Länge übermässig in die Höhe reicht. Keine Verzierungen oder Dekoration. Nur nacktes Gestein. In der Mitte findet er ein grosses Tor aus Ebenholz, das mehrere Meter über ihm aufragt. Während der Leser vor dem Eingang steht, übermannt ihn das Gefühl, vor der gleichen Mauer zu stehen, wie die, die er gespürt hat. Aber doch anders.
Langsam drückt er das Tor auf, das sich mit einem lauten Knarren beschwert. Im Inneren ist es nicht bedeutend wärmer als draussen. Sein Atem gefriert in der Luft. Das einzige Licht kommt von der Decke, durch ein gläsernes Dach weit oben. So weit, dass der Leser die reichlich verzierten Motive im Glas nicht erkennen kann. Das Glas erstreckt sich über die gesamte Länge des Gebäudes, vielleicht einen Kilometer. Sonst sind die Wände, der Boden und die Säulen schwarz, manchmal gräulich, wenn das Licht darauf fällt. Spärlich verteilte Bänke aus Ebenholz sind an den Wänden verteilt, die sich in der Dunkelheit des Schattens verstecken.
Ein alter Mann hat das Eintreten des Lesers bemerkt und humpelt langsam auf ihn zu, sein Kopf gesenkt. Seine schlurfenden Schritte hallen an den hohen Wänden wider. Der Leser wartet geduldig, bis der alte Mann ihn erreicht. Nun kann er das Gesicht des alten Mannes erkennen, dessen Falten und Flecken, die Hakennase. Seine Augen sind fast vollständig geschlossen, aber er findet trotzdem den sicheren Weg zum Leser.
«Segen des Werkes, Reisender. Sucht Ihr nach Vergebung? Oder wollt Ihr ein Gebet zu Ehren des Werkes sprechen?» begrüsst der alte Mann den Leser mit kratziger Stimme, die von der Kälte gezeichnet ist.
Der Leser schaut sich kurz um, sucht nach anderen Menschen, aber sie zwei sind die einzigen weit und breit. Er fokussiert sich wieder auf den alten Mann.
«Nein, ich suche nach Wissen» sagt der Leser gedämpft durch seinen Schal hindurch. Seine Worte echoen einige Male durch das Gebäude. Der alte Mann wartet, bis sie verhallen.
«Das Werk birgt viel Wissen, Reisender, und nicht alles ist für die Ohren Unwürdiger bestimmt. Aber das Werk ist gnädig. Was wollt Ihr denn Wissen?»
«Ich will auf die andere Seite» unterbricht ihn der Leser.
Der alte Mann blickt langsam zu ihm auf. Seine Augen sind nicht verschlossen, sondern blicken den Leser an. Sie mustern ihn eindringlich, so alt und so weise. Der Leser lässt die Inspektion seiner Person zu und wartet. Er ist locker und gefasst. Der schmale Mund des alten Mannes verzieht sich, er setzt langsam zu einer Antwort an.
«Das dürft Ihr nicht. Das lässt das Werk niemals zu!» Seine Stimme ist von Abscheu erfüllt und schneiden wie Schwerter durch die kalte Luft.
«Das Werk ist nicht irgendeine Haustür, durch die man beliebig schreiten kann. Es ist eine Grenze. Eine Grenze, die trennt. Für wen hält Ihr euch?» Er spuckt diese Worte aus. Seine Augen haften an den leuchtenden Augen des Lesers, der ungerührt dasteht. Der alte Mann verringert seine Lautstärke wieder, fasst sich und senkt wieder seinen Blick.
«Dem Werk begegnet man mit Respekt. Wir sind seine Diener. Niemand darf seine Autorität in Frage stellen.» Er macht eine Pause, schluckt. Schnauft einmal ein und aus und schüttelt den Kopf. Dann sagt er: «Eine Überquerung ist nicht möglich. Es darf nicht möglich sein.»
Er bringt diese Aussage nur schwer über die Lippen, mit einer ungeheuren Ehrfurcht. Wieder schaut er den Leser an. Diesmal auf eine Antwort wartend. Der Leser löst seinen Blick und betrachtet abermals die verzierten Fenster in der schwindelerregenden Höhe. Nach einer Weile kehrt er um und tritt hinaus. Der alte Mann beobachtet ihn stumm.
Kalter Wind peitscht dem Leser ins Gesicht und lässt seinen langen Mantel aufschlagen. Es fällt wieder Schnee. Das Tor schliesst sich langsam und fällt mit einem grollenden Donner ins Schloss.
Beim Entfernen schrumpft das mächtige Gebäude, verschmilzt mit der Dunkelheit der Mauer dahinter, bis das enorme Schwarz die vollständige Gegenwart in Anspruch nimmt, und das Gebäude verschluckt.
Die Zeit verliert hier an Bedeutung. Sie könnte genauso gut stillstehen, es würde keine Rolle spielen. Alles, was zählt, ist die Mauer, das Werk, die Wand. Das Ende der Welt. Das Schwarz. Der Leser wandert am Fuss entlang, unwissend, wie viel Zeit vergangen ist. Ein Tag? Ein Monat?
Es schneit ununterbrochen und der Wind weht unermüdlich. Die Sonne scheint nie durch die dicke Wolkenschicht. Der Nebel zieht nie ab. Ein Ende der Mauer ist niemals zu erkennen, ob oben oder an den Seiten. Der Leser ist wie in einem Gemälde, in dem der Inhalt unveränderlich ist. Statisch. Gefangen.
Die Kälte dring durch seine Kleidung hindurch. Er hat schon lange nichts mehr gegessen oder getrunken. Seine blosse Entschlossenheit treibt ihn voran, Schritt für Schritt.
Während seiner Wanderung meint der Leser immer wieder, Gestalten in der Ferne zu erkennen. Als er sich ihnen aber nähert, ist da nichts als Schnee und Nebel. Es gibt kein Leben, keine Pflanzen. Der Leser vermutet, dass selbst unter dem Schnee nur Gestein zum Vorschein käme.
Plötzlich scheint sich die Mauer zu verändern. Im Gestein erkennt er Kratzer, gerade und gebogene Einbuchtungen. Sie sind zu regelmässig für einen blossen Zufall. Es sieht so aus, als hätte jemand mit einem grossen Hammer Stücke aus dem Gestein geschlagen. Der Leser begutachtet die merkwürdigen Muster aus grösserer Entfernung. Mit jedem Meter werden die groben Vertiefungen kleiner und feiner. Die Linien offenbaren sich als Kreise mit dutzenden Metern Durchmesser. Gerade Linien durchstossen andere, treffen sich in einem spitzen Winkel oder ziehen in eine Richtung davon. Was auf den ersten Blick wie ein riesiges Durcheinander wirkt, entfaltet sich nach kurzer Zeit als ein fein abgestimmtes Gemälde. Komplexe Muster und Formen fliessen ineinander, vervollständigen sich gegenseitig. Jede Linie ist mit höchster Präzision eingekerbt. An einigen Stellen entdeckt der Leser sogar goldene Farben in den Linien, die im Schwarz der Mauer förmlich zu leuchten scheinen.
Aber das Gemälde ist alt, von Leben verlassen. Was auch immer seine Bestimmung ist, es erfüllt keinen Zweck mehr.
Dennoch fühlt sich der Leser davon in den Bann gezogen, kann kaum den Blick von den Mustern abwenden. Der Wind fühlt sich plötzlich intensiver an, das Schwarz dunkler. Die Mauer scheint zu wachsen, die Linien sind deutlicher zu erkennen. Sie will ihm etwas sagen. Der Leser hört.
«Hör auf!»
Die Stimme kommt von weit her, dringt durch den Wind. Die Linien beginnen golden zu leuchten. Er steht still, aber die Mauer kommt immer näher, schränkt sein Blickfeld ein. Es gibt nur noch die Mauer.
«Du musst dich loslösen!» klingt es nun etwas näher, aber immer noch weit entfernt. Eine Wärme erfüllt ihn, es fühlt sich gut an. Es fühlt sich richtig an. Sein Körper scheint in der kompletten Dunkelheit zu schweben. Er hört nichts mehr, spürt nichts mehr.
Dann greift eine Hand den Leser an seinem Arm. Er wird kräftig durchgeschüttelt, wird aus der perfekten Balance gebracht. Er blinzelt ein paar Mal irritiert. Seine Sicht kehrt wieder zurück, Kälte überkommt ihn. Die Mauer ist wieder dort, wo sie einst war. Die Muster sind tot. Alles ist wieder normal.
«Bist du da? Hörst du mich?» fragt eine laute Frauenstimme neben ihm. Aber sein Blick ist immer noch auf die Mauer gerichtet. Erst jetzt merkt er, dass er vollkommen ausser Atem ist und dass sein Herz wie wild pocht. Er löst sich und dreht sich zu der Unbekannten.
«Ja, ich bin da. Ich höre dich» sagt der Leser erschöpft. «Wer bist du?»
«Du musst aufpassen. Diese Zeichnungen in Gestein können gefährlich sein.» erklärt die Frau dem Leser besorgt. Ihr Gesicht wird ebenfalls von einem dicken Schal verborgen, nur ihre Augen sind zu erkennen. «Ich dachte nicht, hier draussen jemanden zu finden.»
«Was passiert, wenn man zu lange darauf starrt?» fragt der Leser, obwohl er die Antwort bereits zu kennen vermutet.
«Du stirbst» antwortet die Frau knapp und sieht ihn eindringlich an. Sie wirft einen flüchtigen Blick auf die mehrere Meter entfernten Muster.
«Ich komme von einem Forschungslager nicht unweit von hier. Ich empfehle dir, eine kurze Pause bei uns zu machen» sagt sie und dreht sich um, ohne auf eine Antwort des Lesers zu warten. Er folgt ihr.
Das Forschungslager ist nicht mehr als eine Anhäufung von ein paar Zelten. In der Mitte brennt ein kleines Feuer trotzend der eisigen Kälte.
«Wie wusstest du, dass ich dort war?» fragt der Leser. Es kann kein Zufall sein, dass sie genau über ihn gestolpert ist.
«Wir untersuchen die Mauer mit Sonden über tausende Kilometer hinweg. Eine davon fing deine Wärmesignatur ein und ich ging los, um das zu untersuchen». Sie legt einen schwarzen Klumpen ins Feuer, der sofort entfacht. Der Leser spürt Wärme in seinem Gesicht, ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr erlebt hat. Beinahe hat er vergessen, dass es so etwas überhaupt gibt.
«Die Anderen sind unterwegs, ich bin allein hier» sagt die Forscherin als sie sich ans Feuer setzt und ihre Hände wärmt. Der Leser bleibt stehen, beobachtet das Züngeln des Feuers, wie es im Wind um sein Überleben kämpft.
«Wie komme ich auf die andere Seite?» fragt er endlich. Die Forscherin sieht ihn ernst aber gelassen an. Sie ist nicht überrascht, solch eine Frage zu hören. Sie bleibt eine Weile still und schaut in die Flammen als würden sie mit ihr reden.
«Du bist ein Leser, stimmts?» konfrontiert sie ihn schliesslich, den Blick ins Feuer gerichtet. Ihre Augen leuchten rötlich. «Ich war auch einmal so wie du. Es endete nicht gut» Sie seufzt tief. «Dieses schwarze Gestein stellt Dinge mit dir an. Es verdreht die Zeit, den Raum. Ich habe es aufgegeben, auf die andere Seite zu kommen» Sie schaut Richtung Mauer, die weit entfernt durch Wind und Schnee zu sehen ist. Es ist wie die Oberfläche eines schwarzen Planeten, den man von oben betrachtet. Wolken ziehen an der Oberfläche vorbei und egal wohin man sieht, da ist nur Stein. Wenn der Nebel nicht zu sehr die Sicht behinderte, wer weiss was für ein erschreckender Anblick das wäre.
«Du hast es auch versucht?» Der Leser ist verwundert. Niemals hätte er gedacht, auf eine Weitere zu stossen. «Also gibt es einen Weg?»
«Ich weiss es nicht. Vor mir gab es schon viele. Wer weiss, was aus denen geworden ist. Vielleicht hat sie die Mauer geholt» Sie macht eine Pause, geht vergangene Erinnerungen durch. Der Wind rauscht durch ihre Kleidung, bringt sie zum Flattern. Nun setzt sich auch der Leser ans Feuer.
«Ich kann dir nicht helfen. Und dich auch nicht abhalten» sagt sie zu ihm. «Ist die Reise einmal begonnen, kann sie nicht mehr abgebrochen werden»
Der Leser nickt, sagt aber nichts. Er weiss es auch. Dem Sog der schwarzen Mauer kann man nicht entkommen, sie zieht ihn an. Sie macht mit ihm, was sie will. Er fühlt sich kontrolliert, wie eine Puppe an Fäden. Manchmal denkt er, dass all seine Handlungen von der Mauer bestimmt werden, dass er nur ein leeres Gefäss ist, das gefüllt wird. Von der Mauer, des Werks, dem Gestein. Vom Schwarzen.
«Ich erinnere mich kaum noch an mein Leben von Früher. Eigentlich erinnere ich mich an nichts, bis ich vor dieser Mauer stand.» Seine Worte kommen ruhig, aber dennoch mit einem leichten Zittern in seiner Stimme. Der Leser schaut passiv in das Feuer, beobachtet, wie die schwarzen Klumpen von den hungrigen Flammen ohne Mühe verzerrt werden. «Es ist so, als würde ich nur mit der Mauer existieren. Es gibt kein Leben ohne sie. Woher kommt sie?» Mit verzweifelten Augen schaut er zur Forscherin, welche sich tief in ihrem Schal vergraben hat. «Woher komme ich?» Sie bleibt still, unwissend einer würdigen Antwort. Die gleichen Fragen stellt sie sich schon seit Ewigkeiten.
Und so sitzen die Forscherin und der Leser zusammen am Feuer. Es ist alles gesagt. Es vergehen Stunden, vielleicht sogar Tage. Dann macht er sich wieder auf den Weg.
Der Leser verliert jeden Bezug zu Realität. Oder ist das hier die Realität? Die Rufe zur Mauer werden lauter, fressen sich in seinen Kopf, ergreifen Besitz von ihm. Nur mit grosser Mühe kann er sich davon abschotten. Die Forscherin hatte Recht. Die Mauer stellt mit diesem Ort und den Leuten an, was sie will. Er verspürt keinen Hunger, keinen Durst, muss nicht schlafen. Nur Kälte und Erschöpfung erfüllen ihn.
Im Gestein der Mauer erscheinen immer regelmässiger die Muster, jedes grösser und gewaltiger als die vorherige. Oder sind es dieselben? Dann werden die Rufe am intensivsten. Schon viele Male war er kurz davor, einfach aufzugeben und sich der Mauer zu fügen. Aber er bleibt verschlossen. Irgendwann muss er brechen.
Sonst ist es ruhig. Der Schnee fällt sanft, der Wind ist gerade nicht so stark. Friedlich.
Dann sieht der Leser etwas Neues. Nicht auf der Mauer, aber im Schnee vor ihm. Kleine Schneehäufchen verteilen sich über eine grosse Fläche, schön gleichmässig verteilt, als wären sie bewusst angelegt. Er schaut herum und realisiert, dass er mitten in einem Feld von Hüglechen steht.
Der Leser nähert sich einem Häufchen und tritt mit dem Fuss sanft darauf. Er stösst durch eine dünne Schneeschicht, bevor er etwas Hartes spürt.
Er bückt sich und wischt den Schnee mit der Hand weg. Ein Schädel starrt ihn mit leeren Augenhöhlen und weit aufgerissenem Mund an. Der Leser schreckt auf, macht einen Satz zurück und stolpert über einen weiteren Schneehaufen hinter ihm. Taumelnd fällt er rücklings in den Schnee und wird von einem weiteren Skelett vorwurfsvoll angestarrt. Panisch versuch er sich aufzurichten, wirbelt mit den Armen herum, greift aber ungewollt in den nächsten Schneehaufen und legt das nächste Skelett frei. Ein Schädel, an dem immer noch Hautfetzen und Haare hängen, schreit ihn stumm an.
Im Chaos des Schreckens fällt sein Blick auf die Mauer. Ein gigantisches Auge, eingekerbt in den schwarzen Stein, schaut den Leser direkt an. Er schnappt nach Luft, will wegschauen, aber es ist zu spät. Es hat bereits Besitz von ihm ergriffen. Die Mauer hält in fest, macht ihn bewegungsunfähig. Das Auge fängt an, golden zu leuchten, wird von Leben erfüllt. Die Pupille scheint sich zu bewegen und dem Leser zu folgen. Sein Sichtfeld wird eingeschränkt, er wird in die Mauer gesogen, alles wird schwarz, bis da nur noch das Auge ist.
Da sind Visionen von lang vergangenen Ereignissen. Wilde Kämpfe von Kriegern in schweren Rüstungen, unklar, wer gegen wen kämpft oder wofür. Sie krachen scheppernd aufeinander, stossen sich gegenseitig Schwerter und Speere in die Brust. So viel Leid, so viel Blut, so viel Tod. Der Leser schwebt über dem Kampf. Er spürt, wie die Mauer in ihn eindringt und erfüllt. Es ist vorbei.
Ich will dich!
«Nein!» schreit der Leser mit aller Kraft. Er strampelt wild um sich, versucht die durchbrechenden Kräfte abzuwehren, will nicht akzeptieren, dass es keinen Zweck mehr hat. «Du wirst nicht gewinnen!» bring er unter Schmerzen hervor. Ziemlich amüsant, denn du hast bereits verloren. Dann verliert er das Bewusstsein.
Als der Leser wieder zu sich kommt, ist der Schneefall so stark und der Wind so kräftig wie noch nie. Eine dicke Schneeschicht hat sich bereits auf seinem Körper angelegt. Benommen richtet er sich auf. Die Leichen sind verschwunden, das grosse Auge nicht mehr auf der Mauer. Sein Kopf dröhnt, kann keinen klaren Gedanken fassen. Einen weiteren Angriff wird er nicht überstehen.
Mit Mühe schafft er es auf die Füsse. Er muss weitermachen. Ein Zurück gibt es nicht. Die Mauer lässt das nicht zu.
Als er schleppend die ersten Schritte macht und seinen Blick aufrichtet, sieht er einen dunklen Umriss im Nebel. Nicht von einem Menschen oder einem Gebäude. Beim Näherkommen enthüllt sich ein imposanter Baum, der viele Meter in die Höhe reicht. Aber er ist tot, die langen dürren Äste strecken nackt in die Luft, wie Finger, die etwas von oben greifen wollen. Einst ein prächtiger Anblick, jetzt Teil der ausgestorbenen Welt. Nur noch eisiger Wind pfeift durch das tote Holz.
Am Fusse dieses Baumes entdeckt der Leser abermals ein Skelett, das sitzend gegen den dicken Stamm lehnt. Anders als die vielen Toten mit Rüstung und Schwerter, ist dieses anders. Die Person ist schon lange gestorben, nur noch kleine Kleidungsfetzen und verdorrte Haut klebt an den blassen Knochen. Deutliche Spuren eines Schals sind zu erkennen. Sein Schädel grinst den Leser an, als fände er irgendetwas an ihm lustig. War das auch mal einer wie er? Jemand, der versucht hatte, auf die andere Seite zu kommen? Eine merkwürdige Verbindung baut sich zwischen dem Toten und dem Leser auf, als hätte er ihn einmal gekannt.
Auf dem Schoss des Toten liegt etwas, verbandsähnliche Stofffetzen lugen aus dem Schnee hervor. Er wischt den Schnee weg und legt ein kurzes Schwert frei. Kein Schaft und keine Verzierungen. Es ist nur die Schneide des Schwertes, dennoch genaustens hergestellt und im einwandfreien Zustand. Das im Schal eingewickelte Gesicht des Lesers spiegelt sich auf der perfekt glatten Oberfläche der Waffe. Nur ein mit Stoff umwickeltes Ende bietet eine Möglichkeit, das Schwert zu halten, ohne sich an der scharfen Kante zu schneiden.
Der Leser stutzt. Von welchem Nutzen wäre solch ein Waffe? Woher kommt sie? Eine Weile kauert er vor dem Toten mit dem Schwert auf dem Schoss, eiskalter Wind fegt um den Leser. Er denkt an die Worte der Forscherin, aber es ist sowieso zu spät.
Er greift die Waffe und nimmt sie an sich.
Sofort wird das Eisen von Leben erfüllt, fängt an zu vibrieren, es spürt den Kontakt mit einer lebenden Person. Durch seine Handschuhe fühlt er die Waffe warm werden, aber er lässt nicht los, sein Griff schliesst sich fester um das Schwert. Ein Gemisch aus Angst und Akzeptanz überwältigt ihn. Dann sieht er in seinem Augenwinkel Lichter flitzen. Er reisst nervös seinen Kopf herum, blickt zur Mauer. Pulsierende Lichter schiessen auf der Mauer entlang, so viele, dass er sie unmöglich zählen könnte. Aus allen Richtungen nähern sie sich mit unbegreiflicher Geschwindigkeit, schlagen Hacken und Bögen, bis sie alle an einem Punkt am Fusse der Mauer zusammenfliessen. Ein Portal aus pulsierendem Licht bildet sich dort, umgeben von den labyrinthartigen, heranschiessenden Lichtern. Es ist wunderschön, ein Kunstwerk. Diese Muster anzuschauen, fühlt sich anders an. Er hat das Gefühl, die Kontrolle über die Mauer zu haben.
Das ist nicht gut. Er soll wissen, dass das nicht gut ist.
Mit dem Schwert in der Hand stapft er langsam durch den Schnee zum leuchtenden Fleck. Der Wind wird heftiger, kälter, bedrohlicher. Wollen sein Vorstossen verhindern. Aber er spürt diese Naturgewalten gar nicht mehr, ignoriert ihre Beschwörung. Alles, was er sieht, ist das Licht. Er muss sich gegen den Wind stemmen, schützt seine Augen mit seinem Arm. Er kommt näher. Das darf nicht sein!
Du bleibst stehen!
Nein, ich gehe weiter. Ich höre nicht mehr auf die Rufe! Ich bin es leid, kontrolliert zu werden. Das hier hat nun ein Ende! Das pulsierende Licht füllt nun mein Blickfeld aus, ich stehe direkt vor der Mauer. Ich schaue nach oben, in die unbeschreibliche Höhe. Diese Gewalt droht mich zu erdrücken, will mich kontrollieren, aber die Stimme kommt nicht mehr zu mir durch. Plötzlich fühlt sich die Mauer klein und harmlos an. Als würde sie nur dastehen und keine Gefahr mehr darstellen. Es fühlt sich fast lächerlich an, an die vergangenen Ereignisse zu denken.
Dann sehe ich wieder ins Licht, strecke meine Hand aus, ganz langsam. Bis ich den kalten Stein der Mauer unter meinem Handschuh fühle. Es ist ein anderes, seltsames Gefühl. Da ist… nichts. Wie ein Blatt Papier.
Papier…
Ich halte das Schert in meiner Rechten und schwinge es mit all meiner Kraft von oben in die Mauer, mit so viel Wut und Entschlossenheit. Wie Butter schneidet die Klinge dort, wo die Mauer wäre. Ich fühle ungeheuer viel Energie durch mich fliessen, sie scheint mich zum Platzen zu bringen. Der Schneesturm ist verschwunden, die Mauer zerfallen, die Stimme weg, mein Körper aufgelöst. Als ich meine Hände ansehen will, kann ich sie nicht mehr finden. Die Zeit steht still. Es existiert nichts mehr, kein Licht und kein Schatten, keine Materie. Mein Geist driftet langsam ins Nichts. Es ist so friedlich, so still. Weder Kälte noch Wärme. Es ist genau richtig. Da ist nur noch weiss.
Nur noch weiss.
Die Sonne scheint warm auf den Leser hinab. Er liegt bewegungsunfähig im Schnee. Ein sanfter Wind weht, es fühlt sich gut an. Glitzernd reflektiert der Schnee das Sonnenlicht, das langsam zu schmelzen beginnt.
Er schlägt seine Augen auf, keucht panisch. Jegliche Kraft hat ihn verlassen, er findet keine Energie, sich aufzurappeln. Stattessen blickt er in den blendenden, wolkenlosen Himmel. Aber der Himmel wird geteilt von der schwarzen Mauer, die unendlich in den Himmel reicht. Alles Licht wird von der Oberfläche verschluckt, als wolle es das satte Blau verdrängen wollen.
Ist er auf der anderen Seite?
Nein.
Nach einigen Minuten richtet er sich auf, seine Gliedmassen schmerzen. In der Nähe findet er das Schwert im Schnee liegen. Er nimmt es zu sich, aber es bleibt tot. Er schaut um sich. Da ist nichts als endloser Schnee und die Mauer. Keine Hügel, keine Berge, kein Leben. Nur ein prächtiger Baum sprengt diesen sonst eintöniger Raum. Seine grünen, saftigen Blätter leuchten in dieser weissen Welt und wehen sanft mit dem Wind. Der Leser fühlt sich wie in einem Traum.
Mit all seiner Kraft schafft er es, sich aufzurappeln, mit dem Schwert in seiner Rechten. Seine Füsse fühlen sich wie Blei an, jeder Atemzug ist eine Qual, sein Kopf dröhnt und er kann kaum einen klaren Gedanken fassen. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an, durch den weichen Schnee zu stapfen, durch diese wunderschöne, idyllische Winterlandschaft.
Am Baum angekommen, bricht er zusammen und lässt sich rücklings gegen den Stamm fallen. Er ist am Ende, kann einfach nicht mehr. Obwohl die Sonne warm scheint, friert er bis auf die Knochen, spürt seine Beine nicht mehr. Aber hier ist es anders. Er lauscht dem leisen Rascheln der Blätter, beinahe hat er das Gefühl, in einem Wald zu sein.
Aber da ist die Mauer, wie ein schwarzes Loch saugt es die Harmonie auf. Da steht sie, so gewaltig und endlos wie immer, gleichgültig ihrer Umwelt. Für die Mauer gibt es nur Schwarz, nur Trennung. Nur Kontrolle.
Der Leser will wütend schreien, aufstehen und kämpfen. Aber sein Körper gehorcht nicht, er ist besiegt. Er spürt, dass es sich dem Ende nähert. Bald ist es vorbei, und er kann nichts dagegen tun. Er schaut das Schwert auf seinem Schoss an. Fast hätte er es geschafft, er war fast durchgebrochen. Dann erinnert er sich an die Forscherin, aber seine Gedanken wirbeln unkontrolliert in seinem Kopf umher. Seine Augenlieder werden schwerer, er kann es nicht verhindern. Dunkelheit umgibt ihn.
Letztendlich gewinnt die Mauer, das Schwarz.