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Schwanengesang
Großmutter schläft meistens, wenn ich sie besuche. Ihr Gesicht verschwindet fast in dem riesigen Kissen. Bis auf ihre Atemzüge ist es still im Zimmer.
Seit ich sie kenne, ist sie eine alte, kranke Frau. Von meiner Mutter weiß ich, dass das nicht immer so war. Früher erzählte sie mir oft von Großmutters Zeit als Balletttänzerin. Abend für Abend stand sie auf der Bühne, sie gewann Preise und hatte viele Verehrer. In einem ihrer Schränke hängt ihr altes Kostüm. Ich erinnere mich noch genau, wie ich als Kind mit großen Augen vor dem weißen Spitzenstoff stand. Damals glaubte ich, er müsse einer Prinzessin gehören, einer wunderschönen Prinzessin aus einem Märchenland.
Einmal zeigte meine Mutter mir ein Foto. Es wurde nach einer Vorstellung aufgenommen. Großmutter trägt das Prinzessinnenkostüm und hält einen Blumenstrauß. Neben ihr steht ein Tänzer. Nicht das Kleid war es, das mir an diesem Bild so gefiel, auch nicht der Blumenstrauß oder der junge Mann. Es war ihr Lächeln. Ich konnte nicht sagen, was genau es in mir auslöste. Aber ich vergaß es nie.
Manchmal, wenn ich ihre Decke zurechtrücke, lächelt Großmutter im Schlaf. Vielleicht spürt sie meine Gegenwart, vielleicht ist es nur ein Reflex. Wer weiß das schon. Es sind Momente, in denen ein Hauch des Fotolächelns auf ihr Gesicht zurückkehrt.
Mehr als sechzig Jahre sind seit dem Bild vergangen. Doch es ist immer noch etwas da, von diesem Lächeln. Es ist immer noch etwas da.