Mitglied
- Beitritt
- 02.11.2020
- Beiträge
- 10
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Schutzengel
Ich habe keine Angst. Ich weiß, dass ich überleben werde. Bisher habe ich es immer geschafft. Zwölf Mal konnte ich dem Tod schon ein Schnippchen schlagen. Und auch dieses Mal werde ich ihm entkommen. Diese Wichser haben mich an die Gleise gekettet und in nicht einmal zwei Minuten wird der Zug kommen. Wegen läppischen sechstausend Euro, die ich ihnen schulde. Da hatte ich auch schon größere Probleme in meinem Leben gehabt.
Ein Moment der Panik, aber ich beruhige mich wieder, denn ich weiß, dass sie kommt. Mein Schutzengel. Sie kommt immer. Es dauert nur noch einen Augenblick, nur ein paar Sekunden, dann wird sie da sein. Hoffe ich …
Ich sehe etwas im Augenwinkel und drehe den Kopf in die Richtung. Mein Herz macht einen Satz. Da kommt sie; so blass, als könnte ein Windhauch sie verwehen. Ich werde überleben. Heute werde ich nicht sterben, heute nicht.
Jedes Mal, wenn sie gekommen ist, um mich zu retten, bin ich sprachlos gewesen, aber dieses Mal will ich endlich verstehen, verstehen, warum ich so ein Glück habe, warum sie mich immer wieder rettet. Sie kommt zu mir und löst meine Ketten ohne sie zu berühren. Ich stehe auf, reibe mir die Gelenke. Ihr Gesicht ist ausdruckslos. Für einige Momente schaut sie mich an, dann dreht sie sich wieder und geht davon.
»Warte!«, rufe ich ihr zu.
Sie wendet sich zu mir und sieht mich an. Eine unterschwellige Irritation liegt in ihrem Gesicht. Als hätte ich etwas getan, was sich nicht gehört, was ich nicht hätte tun sollen.
Ich steige über das Geländer, da der Zug herannaht und ich ihr so näher bin. Sie ist so blass, es ist fast, als wäre sie durchsichtig. Ich will sie berühren, aber sie ist noch zu weit weg.
»Kannst du sprechen?«, frage ich sie.
»Ja«, sagt sie mit einer fremdartigen Stimme. Ich höre sie zum ersten Mal.
»Warum hilfst du mir?«
»Dieser Tod ist nicht schlimm genug.«