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Schultz & Sülze
Gerade als Hans in seine Schweinskopfsülze biss, brachte das Radio die Eilmeldung:
„… wurde die dreißigjährige Verjährungsfrist für Mord und Völkermord nicht aufgehoben. Das bedeutet, ungesühnte Morde nationalistischer Täter verjähren in zwei Monaten. Wir schalten nun zu unserem Hauptstadtstudio nach Bonn.“
Hans wischte sich die Hände am Hemd ab und schaltete das Radio aus. Aus dem Hof drang das Kreischen der Kinder nach oben. „Ist gut, Libsche. Brauchst keine Angst zu haben.“
Er nahm den Gehstock und quälte sich vom Polster hoch. Alte Kriegsverletzung; eine Granate, die sein Bein zerfetzt und Spuren im Gesicht hinterlassen hatte. Seufzend öffnete er das Fenster zum Innenhof, und hätte am liebsten gebrüllt: Scheiß Kanaken! Könnt ihr kein Deutsch? Fußballspielen im Hof verboten!
Seit die alten Nachbarn nach und nach in Holzkisten hinausgetragen worden waren, hatte sich vieles im Haus verändert. Im Flur stank es nach eigenartigen Gewürzen, Kinder lärmten in fremden Sprachen. Kürzlich waren sogar Schwatte eingezogen, deren Kinderwagen den Weg im Flur versperrte.
Er hätte sich den Hausmeister vorknöpfen sollen. Aber was konnte er von dem erwarten? Der war ja selber Ausländer. Früher hätte es so etwas nicht gegeben.
Rasch schloss er das Fenster; Libsche vertrug keine Zugluft. Außerdem würde der kleine Piepmatz früher oder später aus dem Fenster verschwinden, wenn Hans für einen Augenblick unachtsam war.
„Hast du das im Radio gehört, Libsche? Bald hört das Versteckspiel auf!“
Hans starrte den Wellensittich an. Unbeirrt putzte Libsche ihr Gefieder, während Hans die Bodenlade herauszog und den dreckigen Sand in einen Pizzakarton kippte, in dem sich bereits eine bröckelige Masse aus Pizzaresten, Vogelkot und Sand angesammelt hatte.
Als er die Käfigtür mit seinen fleischigen Fingern aufbekam, flatterte der Vogel durch das Zimmer und landete auf dem Regal. Das Tier bewegte den Kopf auf und nieder und begann, die Schnabelhälften gegeneinander zu wetzen.
Hans grinste. Er hinkte näher heran und ahmte mit den Fingernägeln das Knirschgeräusch nach. Knick, knack. Knick, knack. Hans genoss es, wie sich Libsche vorbeugte, die Augen wie in Trance schloss und den Schnabel rhythmisch an seinen Nägeln rieb.
Im Zooladen hatte ihm das Jungtier seinerzeit so gut gefallen, dass er es zurückhalten ließ, bis das Geschlecht eindeutig zu bestimmen war. Als sich das Braun an der Wachshaut des Schnabels durchsetzte, nahm Hans das Weibchen endlich mit nach Hause.
Klein, lieblich, süß. Der Name stand auch schon fest. Der Name seiner großen Liebe aus der Kriegszeit.
Hans öffnete seine Zigarrenkiste und versank in sehnsüchtige Erinnerungen an die gute alte Zeit, an die schönen Stunden mit der hübschen, jungen Libsche. Es war Liebe auf den ersten Blick, als die schüchterne Brünette, die wie die anderen kein Gepäck mit sich führte, an der Endstation aus dem Zug stieg. In ihrer einfachen Kleidung fiel sie nicht weiter auf, doch sie besaß diesen besonderen unschuldigen Blick und war blutjung, unberührt.
Unter anderen Umständen hätte er sie vielleicht geheiratet. Bedauerlicherweise musste sie viel zu früh von ihm gehen, bereits im zweiten Winter. Er besaß noch nicht mal ein Foto von ihr. Nur eine kleine Locke, die er noch heute in der Zigarrenkiste zusammen mit anderen Andenken aufbewahrte.
„Komm, Libsche. Komm, meine Liebste“, hatte Hans ihr damals zugeflüstert und sie an die Hand genommen. Das Pistolenhalfter gab er immer dem jungen Sturmmann, damit sich die Kleine nicht daran verletzen konnte.
Der treue Sturmmann passte vor der Baracke auf, dass keiner an den dünnen Wänden lauschte. Ab und an gab Hans dem Sturmmann eine kleine Belohnung fürs Aufpassen. Einmal durfte der junge Freund sogar selbst ran. Du kannst Libsche haben, hatte Hans großzügig erlaubt. Erst die geladene Knarre vor seinem Schädel verlieh dem Sturmmann Manneskraft. Kranker Typ. Sensibelchen.
Die kleine Libsche war genauso aufgeregt wie Hans, wenn er sie in die Baracke begleitete, in der frische Bettwäsche, Schweinesülze und französischer Rotwein für die Offiziere lagerten. Zunächst war Libsche nicht bereit, sodass Hans nachhelfen musste. Die blauen Flecken an Schultern und Armen sowie die Striemen im Gesicht fielen nicht weiter auf.
Die anderen hatten keinen gutmütigen Fürsprecher wie ihn und besaßen keine Freiheiten wie Libsche. Die anderen wurden, wenn er Lust danach verspürte, auch schon mal totgeprügelt. Oder der Einfachheit halber erschossen, wenn sein Bein schmerzte und er nicht lange genug stehen konnte. Libsche war privilegiert; sie durfte sich vergnügen!
Hans hatte sie oft nach ihrem Namen gefragt. Keinen Ton brachte sie heraus. Bis er zwischen den anderen diesen hübschen Namen Libsche aufschnappte und die Wortkarge fortan so nannte.
Wilhelm fielen Messer und Gabel auf den Teller. Verdammt!, dachte er.
Jupp, der Wirt, blickte auf. „Schmeckt’s dir nicht?“
„Verjährung? Mach mal das Radio lauter.“
Als die Nachrichten zu Ende waren, kippte der Wirt zwei Selbstgebrannte ein. „Was regst du dich so auf? Hier, nimm mal 'n Feierabendtröpfchen.“
Wilhelm winkte ab. „Nee, danke. Nehme seit Tagen Tabletten.“
Jupp trank beide Schnäpse aus. „Kennst du etwa so einen Nazi?“
„Nein“, murmelte Wilhelm.
Der Wirt stützte die Hände auf die Hüfte. „Du kennst mich seit Jahren, Wilhelm, und du kennst meine Meinung: Diesen ganzen Holocaust … den gab es nicht. Nichts als Lügen!“ Er verharrte noch einen Augenblick in der Stellung, bevor er weiter ein Glas polierte.
Wilhelm unterdrückte ein Seufzen. „Ich möchte zahlen.“ Er deutete auf den Glasschrank, in dem kleine Snacks ausgelegt waren. „Hast du auch Schweinesülze? Ich meine, welche im Glas.“
Nassgeschwitzt wachte Wilhelm am nächsten Morgen auf. Die Schlaftabletten hatten nicht gewirkt, böse Erinnerungen geisterten durch seinen Kopf. Er zog den Morgenmantel über, würgte ein Aspirin mit einem Schluck Wasser runter und griff zum Hörer.
„Süssmann.“
„Guten Morgen, Jonathan. Ich bin’s, Wilhelm. Tut mir leid. Ich … muss was Falsches gegessen haben. Mir geht’s nicht gut.“
„Du Armer. Ruh dich aus und werde erst mal gesund. Soll ich meine Frau vorbeischicken? Sie macht die beste Hühnersuppe westlich des Jordans.“
„Nein, danke. Morgen komme ich wieder.“
Der Kaffee war längst kalt, als er die Zeitung wieder zuschlug. Zwanzig Nazigrößen waren darin abgebildet, die sich alle abgesetzt hatten, irgendwo völlig unbekümmert lebten und bald keine Angst mehr zu haben brauchten. Daneben die Anzahl der Menschenleben, die sie, soweit bekannt, auf dem Gewissen hatten. Nüchterne Fakten.
In ein paar Wochen war es vorbei. Sie arbeiten unbehelligt in der Backstube, beim Frisör, im Supermarkt; schlendern ihm auf dem Marktplatz entgegen oder fahren einen Schulbus.
Mit Tränen in den Augen nahm Wilhelm den schweren Stoffbeutel aus dem Vorratsschrank, den er vor langer Zeit dort gelagert hatte und der noch immer nach feuchter Erde roch.
Ein paar Minuten später parkte Wilhelm seinen Wagen am Seitenstreifen einer ruhigen Geschäftsstraße und zog die Baseballkappe bis zum Rand der Sonnenbrille herunter.
Wilhelm sah sich um. Da lag sie: die Apotheke, die er vor ein paar Tagen aufgesucht hatte, um neue Schlaftabletten zu besorgen.
Hier hatte er an der Kasse gestanden. Direkt vor ihm. Sein Haar war weißer geworden, zu den Narben im Gesicht hatten sich tiefe Falten gesellt. Die Uniform mit den stolzen Schulterstücken hatte er gegen Stoffhosen mit bunten Hosenträgern getauscht, die schweren Stiefel gegen löchrige Schlappen. In der Hand hielt er nicht die Pistole, sondern balancierte einen Gehstock.
Ein alter, gebrechlicher Mann, der ein Bein nachzog.
Draußen hatte Wilhelm noch einen Moment auf den Alten gewartet und vorgegeben, den Busfahrplan zu studieren. In seinen Augen hielt der Alte nicht die Packung Schmerztabletten in der Hand, sondern die kleine Belohnung für den jungen Sturmmann.
Wilhelm sah dem Alten noch hinterher, bis er in einer Toreinfahrt verschwand. Er hatte einem kranken Alten mit Krückstock nachspioniert, der in einer Altbauwohnung hauste, abends Kreuzworträtsel löste, sonntags Tatort schaute – wie viele andere auch. So normal.
Als Hans die Haustür von innen öffnete, kam ein Junge mit einem Fußball auf den Eingang zu. Am Krückstock gestützt legte Hans seine Mülltüte auf den Boden und hielt die Tür offen.
„Guten Tag, Herr Schultz.“
„Hallo, mein Kleiner.“ Hans streichelte dem Jungen über das pechschwarze Haar. „Ahmed, richtig? Oder Mohammed? Ich verwechsle euch beide Racker immer.“
Ein Mann mit Kappe und Sonnenbrille drängelte sich an den beiden vorbei und eilte die Treppe hoch.
„Können Sie nicht aufpassen?“, rief Ahmed dem Mann hinterher.
„Ist gut, mein Junge“, sagte Hans. „Nicht jeder ist rücksichtsvoll. Aufmerksamkeit ist eine Tugend. Genauso wie Fleiß und Arbeitsfreude.“ Schmerzverzerrt hob er die Mülltüte auf, nachdem er sich noch unbemerkt die Hand an der Hose abgewischt hatte.
„Lassen Sie, Herr Schultz. Ich bringe Ihnen den Müll raus.“
Wilhelm, der bückend hinter einem Kinderwagen auf dem ersten Treppenabsatz verharrt hatte, hörte die Haustür ins Schloss fallen. Der Junge war längst in der Erdgeschosswohnung verschwunden. Aus der Ferne war das leise Rauschen eines vorbeifahrenden Zuges zu hören, im Flur unten das Stöhnen des Alten, der sich am Geländer entlang hinaufquälte.
Endlich erklomm der Alte den Treppenabsatz.
Wilhelm trat hinter dem Kinderwagen hervor.
„Lassen Sie mich bitte durch, junger Mann.“
„Kennen Sie mich nicht mehr?“ Wilhelm nahm Kappe und Sonnenbrille ab.
Schultz fummelte mit dem Stock herum. „Lassen Sie mich durch!“
„Ich … ich hätte eine Familie haben können. Eine hübsche Ehefrau. Liebe Kinder. Süße Enkel …“ Seine Stimme zitterte. „Ich habe nie mehr eine Frau berühren können!“
Schultz blinzelte ihn an. „Was geht mich das an! Los, verpiss dich und lass einen alten, kranken Mann in Ruhe!“ Die Stimme des ehemaligen KZ-Leiters hatte nichts an Schärfe verloren.
„Vielleicht hilft Ihnen das hier weiter, Lagerkommandant Hans Schultz!“ Wilhelm hob mit beiden Händen den schweren Stoffbeutel auf und drückte ihn dem Alten gegen die Brust.
Schultz wusste nicht, was er zuerst tun sollte: den Beutel abwehren, sich am Mann vorbeischlängeln, am Geländer festhalten oder auf dem Stock stützen. Er tat alles auf einmal und hielt sich am Kinderwagen fest, als er das Gleichgewicht verlor.
Jupp stellte ein Bier auf die Theke. „Heute scheint es dir zu schmecken, mein Lieber.“
„Danke“, antwortete Wilhelm und leerte das Glas in einem Zug.
„Hast du das vom alten Schultz gehört?“, fragte Jupp.
„Kenne ich nicht. Ein Kumpel von dir?“
„Der ist nicht mein Kumpel!“, sagte Jupp mit bösem Blick. „Der war hier nur beim Stammtisch. Vor deiner Zeit. Unscheinbarer, netter Opi. Aß seine Schweinesülze, trank ein, zwei Bierchen … Ist im Treppenhaus gestürzt. Wohl über einen Kinderwagen gestolpert.“
„Und?“
„In seinem Beutel fand man abgelaufene Konserven. Sülze, die noch aus der Kriegszeit stammt. Was er damit nur wollte …? Kein Wunder, dass er mit dem schweren Beutel in der einen und dem Krückstock in der anderen Hand stürzte. War aber auch ein neues Glas dabei. Die gleiche Sorte wie ich habe. Alles sehr merkwürdig.“
„Woher weißt du das alles?“
„Hallo! Ich bin Wirt!“ Nach einer kurzen Pause fuhr er leiser fort: „Jovanovic, der Hausmeister – ein Bekannter von mir – hat ihn gefunden. Er war auch in seiner Bude, nach dem Rechten sehen, lüften und so weiter, während Schultz im Krankenhaus liegt. In einer Zigarrenkiste fand Jovanovic einen Militärausweis, Dienstpläne und Namenslisten. Einen Judenstern. Und Haare. Stell dir das mal vor! Und so einen hab ich hier bedient!“ Jupp schüttelte den Kopf.
„Und, kommt er durch, der Alte?“
„Keine Ahnung. Übrigens hat mich Jovanovic gebeten, mich wegen dem Sittich von Schultz umzuhören. Ein hübsches, junges Tier soll es sein. Du, Wilhelm, du bist doch allein, einsamer Junggeselle. Du kannst Libsche haben.“