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Schulfrei

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13.07.2006
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Schulfrei

Ernst hatte sich genau zwischen den Wracks der vor zehn Jahren liegen gebliebenen Lastwagen postiert.
Hier musste der verdammte Bus durch, und hier würde er den Wahnsinn stoppen.
Er spürte die Bewegungen der Läuse in seinem verfilzten Bart und den schneidenden Herbstwind, der durch seine zerlumpte Kleidung drang.
Der Bus, dieser verdammte, rot glänzende, stets pünktliche Bus, irrlichterte wie eine aufblitzende Erinnerung an bessere Zeiten durch sein Leben.
Da kam das Ding, blitzsauber und zuverlässig brummend.
Ernst hob seine dürren Arme und schloss die Augen.
Er hörte das Bremsgeräusch, das sich in ein leises Summen verwandelnde Motorgeräusch, dann ein überlautes Hupen.
Nach einer Weile stöhnten hydraulische Türöffner auf.
Schritte näherten sich. Er öffnete die Augen und sah einen kleinen, pummeligen Mann in blauer Uniform.
„Sie müssen da weg“, sagte der Busfahrer in freundlichem Tonfall. „Ich muss einen Fahrplan einhalten, verstehen Sie?“
Ernst senkte die Arme. „Nein, damit ist Schluss…“
Seine Stimme klang heiser und ungeübt.
„Was?“ Der Busfahrer kratzte sich unschlüssig den kahlen Schädel. „Mein Guter, ich bin in zwanzig Jahren nicht unpünktlich gewesen. Es ist meine Pflicht…“
„Nein“, kreischte Ernst. „Wozu denn? Es gibt keine Schule mehr! Die Seuche hat sie beendet! Die Schule ist aus!“
Der Busfahrer stutzte. Eine Erkenntnis spiegelte sich in seinem offenen, runden Gesicht. „Ich kenn Sie doch… Ja klar, Sie sind der Doktor Senkler, der Direx vom Gymnasium… Diehsel. Wissen Sie noch? Hannes Diehsel.“
Er streckte die Hand aus.
Ernst starrte auf die dargebotene Hand.
„Sie sind verrückt… total verrückt…“
Diehsel schüttelte traurig den Kopf. „Nun, ich muss weiter.
Und, Herr Doktor, ich werde fahren. Sie können ja einsteigen.“ Der Busfahrer wandte sich um.
Ernst verschränkte die Arme vor der mageren Brust.
„Dann müssen Sie mich überfahren.“
„Kein Problem.“ Diehsel kletterte zurück auf den Fahrersitz.
Ernsts Gedanken überschlugen sich. Ein zerlumpter Mann in einer zerstörten Welt war für diesen Verrückten irrealer als dieser rote Schulbus und sein sinnlos gewordener Fahrplan. Ernst Senkler würde hier sterben, wenn er nicht…
Er stürzte humpelnd auf den anfahrenden Bus zu und schwang sich hinein.
„Na das war knapp“, kommentierte Diehsel gutmütig lächelnd.
Senkler ließ sich in den ersten Sitz fallen.
„Das hätten Sie nicht getan“, krächzte er.
Diehsel richtete den Blick starr auf die von Unkraut überwucherte Fahrbahn. „7 Uhr 10. Haltestelle Kirche.“
Linkerhand tauchte die von Efeu überwucherte Ruine von Sankt Johannes auf. Der Bus hielt. Niemand stieg ein.
„Mein Gott, Diehsel! Warum machen Sie das?“
Der Bus fuhr wieder an.
„Was soll ich sonst machen, Herr Doktor? Ich bin Busfahrer.“
„Das ist doch sinnlos, ein Schulbus ohne Schule, ohne Kinder…“ Senklers Augen tränten. „Es gibt nichts mehr zu tun. Busfahrer und Lehrer werden nicht mehr gebraucht…“
Der Busfahrer zuckte lächelnd die Schultern. „Ach was.“
„Ach was? Soll ich Füchse und Katzen unterrichten?“
Der Bus passierte ein Waldstück und erreichte das nächste Dorf. „7 Uhr 15. Haltestelle Heide“, kam Diehsels monotone Ansage statt einer Antwort.
Der Bus hielt. Niemand stieg ein. Diesel streckte sich.
„Herr Doktor, schauen Sie aus dem Fenster. Sehen Sie?“
Die Ruinen von Heide lagen auf einem Hügel. In der Ferne stiegen vereinzelte Rauchfahnen auf.
Der Bus setzte seine Fahrt fort.
„7 Uhr 20. Haltestelle Heider Feld“, kam Diehsels Ansage.
Der rote MAN-Bus hielt vor einem verfallenen Bauernhof.
An der Bushaltestelle stand ein junger Bursche in Parka und geflickten Hosen, einen Knüppel abwehrend vor sich gestreckt. Hinter ihm hockte in den Resten des Wartehäuschens ein junges Mädchen. In ihren Armen lag ein schreiendes Bündel Mensch.
„Sehen Sie, Doktor.“ Diehsel lächelte zufrieden. „Die Schule geht wieder los…“
Doktor Ernst Senkler nickte stumm.

 

Da schau ich doch nach langer Zeit mal wieder bei kurzgeschichten.de vorbei und finde noch Reaktionen auf die kleine Episode...
Vielen Dank all denen, denen die Geschichte gefällt. Noch mehr Dank für Hinweise und Kritik.
Ich habe ein wenig mit mir gerungen, aber ich muss doch auch ein wenig Kritik an der Kritik üben ...

"Das Ding hier würde in einem Kurs für kreatives Schreiben einen Herzinfarkt bei allen Beteiligten auslösen."
Ich hoffe, dass ich niemanden mit dieser Episode umgebracht habe. Und das ist es: eine Geschichte, eine Episode, meinetwegen auch ein misslungener Versuch. Der Ausdruck "Das Ding" ist unhöflich und unangebracht.

"Mir gefällt dieser Stil überhaupt nicht. Er ist behäbig, träge und altbacken."
Das ist so beabsichtigt. Der momentane Trend, quasi den Bauhaus-Stil aus der Architektur in die Literatur zu übertragen, sieht mich definitiv nicht als Anhänger. Demzufolge ist Quinns Urteil aus seiner Sicht zutreffend.
Worte malen Bilder, das muss und darf m.E. nicht reinweg effizienzorientiert sein. Zumal eine inquisitorische Verfolgung von tatsächlichen und vermeindlichen Redundanzen auch Nuancen verdecken kann...


"Er spürte die Bewegungen der Läuse in seinem verfilzten Bart und den schneidenden Herbstwind, der durch seine zerlumpte Kleidung drang.

Wenn er die Bewegungen der Läuse spüren kann, ist der Bart verfilzt = Redundant." Läuse wohnen auch in nicht verfilzten Bärten. Sehr viele Menschen mit verfilzten Rastafrisuren haben keine Läuse.

"Wenn der Wind durch die Kleidung dringt, ist sie zerlumpt= Redundant."
Oder sie ist zu dünn bzw. der Witterung nicht angemessen...


"Der Bus, dieser verdammte, rot glänzende, stets pünktliche Bus, irrlichterte wie eine aufblitzende Erinnerung an bessere Zeiten durch sein Leben.

Der Bus irrlichterte wie eine Erinnerung an bessere Zeiten durch sein Leben.
Wäre das schlechter? Das schöne, starke Verb "Irrlichterte" geht unter in diesem Wust."
Ja, das wäre schlechter, denn die Wut und der Wirbel in Senklers Gedanken würden verschwinden.

Genug. An dieser Stelle möchte ich noch anmerken, dass einige m.E. gute Hinweise Quinns in dem Wust an geradezu wütend anmutenden Rundumschlägen untergehen.
Kürzen, Quinn, kürzen! ;-)

 
Zuletzt bearbeitet:

D
"Mir gefällt dieser Stil überhaupt nicht. Er ist behäbig, träge und altbacken."
Das ist so beabsichtigt.
Jo, na also. Dann liege ich mit meiner Einschätzung der Geschichte doch richtig.

Du guckst jetzt nach einem Jahr wieder ins Forum ... du hast ein paar ziemlich gute SF-Geschichten verpasst. Ich empfehle dir mal, diese zu lesen.


Genug. An dieser Stelle möchte ich noch anmerken, dass einige m.E. gute Hinweise Quinns in dem Wust an geradezu wütend anmutenden Rundumschlägen untergehen.
Kürzen, Quinn, kürzen! ;-)
hihi, guck dir mal die Kritik an, das sind nur 6 Punkte ... das riesen Ding darunter ist nur die gekürzte Version deines Textes, also wenn dich 6 Punkte schon überfordern, dann ... muss die Geschichte ja wirklich dein Lebenswerk gewesen sein, kein Wunder, dass du schon pampig wirst, wenn man es "Ding" nennt.

Worte malen Bilder, das muss und darf m.E. nicht reinweg effizienzorientiert sein. Zumal eine inquisitorische Verfolgung von tatsächlichen und vermeindlichen Redundanzen auch Nuancen verdecken kann...
Ich mal dir mal ein Bild:
Wenn man nicht Unkraut jätet, weil man Angst hat eine Rose zu zerstören, dann ist der Garten bald verwildert.

 

"... das riesen Ding darunter ist nur die gekürzte Version deines Textes, also wenn dich 6 Punkte schon überfordern, dann ... muss die Geschichte ja wirklich dein Lebenswerk gewesen sein, kein Wunder, dass du schon pampig wirst, wenn man es "Ding" nennt."

Nein, keine Bange, die Geschichte ist nicht mein Lebenswerk.
Unter anderem deshalb bin ich keineswegs "pampig" geworden.
Die oben zitierten Äußerungen gehen eher in diese Richtung.
Nun denn, es ist weder meine Aufgabe noch erfolgversprechend, hier erzieherisch tätig zu werden.
Okay, das war jetzt pampig. ;-)

Peace.

 

Kleiner Nachtrag: Im Grunde haben wir wohl nur eine mikroskopische Version des Clash-of-cultures vorliegen. Was dem einen ein normaler Tonfall ist, ist dem anderen eine Unhöflichkeit.

Um weiteren Mißverständnissen vorzubeugen: Nein, ich halte mich nicht für die Wiedergeburt von Goethe oder Schiller. Und: Ja, was ich so schreibe ist fehlerhaft und verbesserungswürdig.

 

Ich befinde mich derzeit auf dem Weg zu meinem eigenen Sci-Fi Debut und dachte mir: schau mal, was andere so machen. Dabei bin ich über deine Geschichte gestolpert und habe die letzten paar Kommentare überflogen.
Ich bin, ehrlich gesagt, ganz angetan von dem blumigen verspielten Stil, mitten in dieser düster-traurigen Geschichte. Gerade dieser Gegensatz gibt dem Werk was Eigenes. Auch die Details, wie die Seuche, machen für mich Rahmen und Handlungsverlauf greifbar. Ich mag Geschichten, die sich ganz deutlich, plakativ zeigen.
Das ist natürlich vielleicht unmodern und nicht mehr zeitgenössisch. Aber es ist entspannend und unterhaltsam für den Leser. Darum habe ich das hier sehr genossen.
Ein wenig gestolpert bin ich über "Ernst" als doch sehr hausbackenen Namen in dieser Zukunftsgeschichte. Für mich hat das die Story ganz nah in die Zukunft gesetzt.
Kurz gestolpert bin ich über die Wiederholung von "überwuchert":

Diehsel richtete den Blick starr auf die von Unkraut überwucherte Fahrbahn. „7 Uhr 10. Haltestelle Kirche.“
Linkerhand tauchte die von Efeu überwucherte Ruine von Sankt Johannes auf.
Das ist mir zu dicht beeinander und wirkt dadurch ein bisserl lieblos.
Und inhaltlich ist mir nicht klar geworden, warum der Bengel da mit einem Knüppel rum wedelt. Da fehlen mir, im Gegensatz zu den Lesern vor mir, sogar noch Informationen.
Alles zusammen eine tolle Geschichte, die für meine Story Inspirationen bietet. Dankeschön.

 

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