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Schulfrei
Ernst hatte sich genau zwischen den Wracks der vor zehn Jahren liegen gebliebenen Lastwagen postiert.
Hier musste der verdammte Bus durch, und hier würde er den Wahnsinn stoppen.
Er spürte die Bewegungen der Läuse in seinem verfilzten Bart und den schneidenden Herbstwind, der durch seine zerlumpte Kleidung drang.
Der Bus, dieser verdammte, rot glänzende, stets pünktliche Bus, irrlichterte wie eine aufblitzende Erinnerung an bessere Zeiten durch sein Leben.
Da kam das Ding, blitzsauber und zuverlässig brummend.
Ernst hob seine dürren Arme und schloss die Augen.
Er hörte das Bremsgeräusch, das sich in ein leises Summen verwandelnde Motorgeräusch, dann ein überlautes Hupen.
Nach einer Weile stöhnten hydraulische Türöffner auf.
Schritte näherten sich. Er öffnete die Augen und sah einen kleinen, pummeligen Mann in blauer Uniform.
„Sie müssen da weg“, sagte der Busfahrer in freundlichem Tonfall. „Ich muss einen Fahrplan einhalten, verstehen Sie?“
Ernst senkte die Arme. „Nein, damit ist Schluss…“
Seine Stimme klang heiser und ungeübt.
„Was?“ Der Busfahrer kratzte sich unschlüssig den kahlen Schädel. „Mein Guter, ich bin in zwanzig Jahren nicht unpünktlich gewesen. Es ist meine Pflicht…“
„Nein“, kreischte Ernst. „Wozu denn? Es gibt keine Schule mehr! Die Seuche hat sie beendet! Die Schule ist aus!“
Der Busfahrer stutzte. Eine Erkenntnis spiegelte sich in seinem offenen, runden Gesicht. „Ich kenn Sie doch… Ja klar, Sie sind der Doktor Senkler, der Direx vom Gymnasium… Diehsel. Wissen Sie noch? Hannes Diehsel.“
Er streckte die Hand aus.
Ernst starrte auf die dargebotene Hand.
„Sie sind verrückt… total verrückt…“
Diehsel schüttelte traurig den Kopf. „Nun, ich muss weiter.
Und, Herr Doktor, ich werde fahren. Sie können ja einsteigen.“ Der Busfahrer wandte sich um.
Ernst verschränkte die Arme vor der mageren Brust.
„Dann müssen Sie mich überfahren.“
„Kein Problem.“ Diehsel kletterte zurück auf den Fahrersitz.
Ernsts Gedanken überschlugen sich. Ein zerlumpter Mann in einer zerstörten Welt war für diesen Verrückten irrealer als dieser rote Schulbus und sein sinnlos gewordener Fahrplan. Ernst Senkler würde hier sterben, wenn er nicht…
Er stürzte humpelnd auf den anfahrenden Bus zu und schwang sich hinein.
„Na das war knapp“, kommentierte Diehsel gutmütig lächelnd.
Senkler ließ sich in den ersten Sitz fallen.
„Das hätten Sie nicht getan“, krächzte er.
Diehsel richtete den Blick starr auf die von Unkraut überwucherte Fahrbahn. „7 Uhr 10. Haltestelle Kirche.“
Linkerhand tauchte die von Efeu überwucherte Ruine von Sankt Johannes auf. Der Bus hielt. Niemand stieg ein.
„Mein Gott, Diehsel! Warum machen Sie das?“
Der Bus fuhr wieder an.
„Was soll ich sonst machen, Herr Doktor? Ich bin Busfahrer.“
„Das ist doch sinnlos, ein Schulbus ohne Schule, ohne Kinder…“ Senklers Augen tränten. „Es gibt nichts mehr zu tun. Busfahrer und Lehrer werden nicht mehr gebraucht…“
Der Busfahrer zuckte lächelnd die Schultern. „Ach was.“
„Ach was? Soll ich Füchse und Katzen unterrichten?“
Der Bus passierte ein Waldstück und erreichte das nächste Dorf. „7 Uhr 15. Haltestelle Heide“, kam Diehsels monotone Ansage statt einer Antwort.
Der Bus hielt. Niemand stieg ein. Diesel streckte sich.
„Herr Doktor, schauen Sie aus dem Fenster. Sehen Sie?“
Die Ruinen von Heide lagen auf einem Hügel. In der Ferne stiegen vereinzelte Rauchfahnen auf.
Der Bus setzte seine Fahrt fort.
„7 Uhr 20. Haltestelle Heider Feld“, kam Diehsels Ansage.
Der rote MAN-Bus hielt vor einem verfallenen Bauernhof.
An der Bushaltestelle stand ein junger Bursche in Parka und geflickten Hosen, einen Knüppel abwehrend vor sich gestreckt. Hinter ihm hockte in den Resten des Wartehäuschens ein junges Mädchen. In ihren Armen lag ein schreiendes Bündel Mensch.
„Sehen Sie, Doktor.“ Diehsel lächelte zufrieden. „Die Schule geht wieder los…“
Doktor Ernst Senkler nickte stumm.