Hallo @Kerzenschein,
zunächst einmal Hut ab für deinen Mut, diese Geschichte zu teilen und dich der Kritik zu stellen. Dein Text hat eindeutig das Potenzial, tiefgründig zu berühren und erschüttert den Leser auf leise, aber eindringliche Weise. Du hast hier eine super Basis für einen düsteres Psychogramm geschaffen.
Hier meine Anmerkungen:
Ich muss gestehen, dass ich deine Geschichte beim ersten Lesen völlig falsch verstanden habe. Ich war über ein paar Sätze gestolpert und habe dann ein falsches Setting zusammengesetzt, sodass mir im weiteren Verlauf einige Anspielungen nicht aufgefallen sind. Ich dachte, er hätte sie wiederholt betrogen. Aber er hat sie misshandelt, korrekt? Auch die Möglichkeit, dass sie ihn vergiftet, ist mir entgangen. Ich dachte, wir hätten es hier einfach mit einem kleinen Alltagspsychogramm zu tun.
Mit dem zweiten Lesen hat sich das Bild verändert, aber ich sehe jetzt auch, was mich in Runde 1 rausgeschmissen hat. Ich gehe einmal durch:
Sie stand vor dem Fenster und starrte in die Dunkelheit. Doch sie sah nichts, auch nicht ihr eigenes Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelte. Stattdessen fühlte sie, fühlte die pulsierenden Stellen an ihrem Körper.
War mir offensichtlich zu subtil. "Pulsierende Stellen" assoziiere ich jetzt auch nicht per se mit Schmerz, zumindest nicht ohne Kontext.
Er kam nach Hause. Sie hörte, wie er die Haustür wieder schloss, seinen Aktenkoffer auf den Boden stellte; das Rascheln des Sakkos, das er an den Garderobenhaken hängte.
„Schatz, ich bin zu Hause“, rief er.
Das wirkt auf mich wie eine Phrase, denn so oder sehr ähnlich ist dieser Satz in Film und Fernsehen schon x Mal gefallen, sodass ich ihn in dieser "klassischen" Form mittlerweile sogar satirisch lesen würde.
Vor dem Hintergrund der Situation finde ich ihn auch psychologisch nicht plausibel. Der Mann weiß, was er getan hat, und da es sich hier offensichtlich um kultiviert-reflektierte Menschen handelt, wird er wissen, dass er seine Tat nicht so einfach überschminken kann mit Süßholzraspelei ("Schatz") und Alltäglichkeit. Auch wird seine Frau nicht jetzt erst, an diesem Abend, auf die Gewalttat mit Kühle reagieren. Plausibler fände ich solche Alternativen:
Er könnte entweder lakonisch-kühl nach Hause kommen:
Er kam nach Hause. Sie hörte, wie er die Haustür wieder schloss, seinen Aktenkoffer auf den Boden stellte; das Rascheln des Sakkos, das er an den Garderobenhaken hängte.
„Bin da!“, rief er.
Oder man könnte ihr hier direkt kurz die Kontrolle zu entziehen, um seinen dominanten Charakter herauszustellen. Du könntest den Einstieg etwas ausweiten und dann:
"Na, was gibt's?"
Sie fuhr zusammen. "Ich hab dich gar nicht reinkommen gehört."
Schnell verdeckte sie das Schälchen vor sich mit einem Spültuch. (Mit so etwas könntest du foreshadowen.)
Er kam nach Hause. Sie hörte, wie er die Haustür wieder schloss, seinen Aktenkoffer auf den Boden stellte; das Rascheln des Sakkos, das er an den Garderobenhaken hängte.
„Schatz, ich bin zu Hause“, rief er.
Sie nickte.
„Ich habe dir was mitgebracht.“
Wieder nickte sie.
Er kam herein und schlang seine Arme um ihre Taille.
Da es ungewöhnlich ist, vor sich hinzunicken, würde ich das irgendwie als Info einbauen oder etwas abfangen. Ich denke, wenn auch unbewusst, ist das ein szenischer Stolperstein; man verortet den Mann bei ihr im Raum.
Er kam herein und schlang seine Arme um ihre Taille. Sie hielt den Atem an, sein Aftershave eine Tortur, er sollte nicht merken, wie ihr Körper reagierte. Er legte sein Kinn auf ihre Schulter, ohne ihre Frisur in Unordnung zu bringen.
„Das Essen steht noch nicht auf dem Tisch!“
Sie schob sich aus seiner Umarmung. „Ich habe ein bisschen länger gebraucht, ich wollte den Parmesan frisch reiben.“
Sie ging an ihm vorbei und ignorierte sein Stirnrunzeln.
Über diesen Satz bin ich extrem gestolpert. Bis jetzt, wo ich die Antwort schreibe, habe ich gedacht,
sie sagt ihn, was ich völlig unplausibel fand. Jetzt wird mir klar, dass er ihn sagt, aber auch das ist mir zu ausgelutscht. Diese Frage ist wie oben das "Schatz, ich bin zu Hause" in meinen Augen eine verbratene Phrase, ein überpointierter Satz, wie man ihn heute rückblickend in Sketchen dem dominanten und patriarchalen Mann aus den 50ern in den Mund legt. In dieser platten Reinform wurde wahrscheinlich schon damals selten gesprochen (hoffe ich), heute funktioniert so ein Satz gar nicht mehr, außer eben vl. als scherzhafte Persiflage.
Zwei Sätze weiter, der nächste Stolperstein. Parmesan reiben dauert vielleicht zwei Minuten. Das fängt seine Frage also überhaupt nicht ab. Soll das so? Dass er die Stirn runzelt, deutet an, dass du das so intendiert hast, aber so ganz fügt sich das alles für mich nicht zusammen. Warum hat sie denn länger gebraucht? Wir erfahren es nicht, oder? Und warum hat sie als Figur länger brauchen müssen? Du zeichnest sie überlegt und strategisch und scheinbar hatte sie prinzipiell genug Zeit zum Kochen? Warum also ist sie nicht trotz ihres Plans auf den Punkt?
Wie schon oben angedeutet denke ich, dass du sie zu defensiv und unterwürfig zeichnest. Wenn sie wirklich schwer misshandelt wurde, sollte sie ihm gegenüber deutlicher Reaktionen zeigen, die ihm klar machen, dass er nicht direkt zum Alltag zurückkann. Das Geschenk zeigt ja, dass er vielleicht nicht schuldbewusst ist, aber etwas wieder gut machen will. Lass sie doch in der ganzen Szene stärker wie eine verletzte Frau reagieren.
Ein Schlüssel kratze im Schloss.
"Bin da!"
Sie hörte, wie er die Haustür schloss, seinen Aktenkoffer auf den Boden stellte, wie sein Sakko raschelte, als er es an den Garderobenhaken hängte.
"Na?" Er kam auf sie zu und schlang die Arme um ihre Taille. Sie hielt den Atem an, um sein Aftershave nicht riechen zu müssen.
"Wie geht's dir?"
Sie antwortete nicht auf diese Frage. Er legte sein Kinn auf ihre Schulter, ohne ihre Frisur in Unordnung zu bringen. „Ich habe dir was mitgebracht.“
"Aha."
Sie löste sich aus seiner Umarmung. "Essen dauert noch einen Moment. Der Einkauf heute hat etwas länger gedauert."
"Riecht schon mal gut."
...
In der Küche richtete sie das Safran-Trüffel-Risotto auf seinem Teller an. Dabei achtete sie darauf, dass der Tellerrand sauber blieb. Langsam ließ sie den frischgeriebenen Parmesan über sein Risotto rieseln. Sie mochte keinen Parmesan. Und sie hasste Risotto. Daher richtete sie für sich nur eine kleine Portion an, ohne Parmesan.
Wieso kocht sie Essen, das ihr selbst nicht schmeckt? Warum weiß er das nicht und fragt nicht nach? Mit Blick aufs Ende ist man geneigt zu denken, das Gericht sei eine Zwangsläufigkeit, um die Schalentiere untermischen zu können, aber das ist ja keineswegs so. Diese würden auch in einem dicken, kräftigen Sugo oder einer Fleischpastete geschmacklich untergehen. Quält sie sich hier selbst? Das ist genau an diesem Abend für mich nicht plausibel – im Zeitraum vorher vielleicht, aber das ist doch der Moment ihres Rückschlags.
Vorsichtig, um das Handgelenk zu schonen, setzte sie seinen Teller vor ihm ab.
Das kleine weiße Schächtelchen, das auf ihrem Platz lag, schob sie beiseite. Als sie sich setzte und ihren Rücken anlehnte, zuckte sie zusammen. Unauffällig verlagerte sie das Gewicht wieder nach vorne.
Diese Anspielungen sind mir völlig entgangen. Wenn man arglos liest und zudem noch nach dem Grundkontext und der Situation an sich sucht, dockt das Gehirn an so etwas wohl einfach nicht an. Zumindest meins nicht.
Ich persönlich denke auch, dass man sich als Autor nicht zu sehr auf die detektivischen Fähigkeiten des Lesers verlassen sollte. Allein vom Kognitiven her wird es schwer, eine Geschichte am Ende, wenn ein entscheidendes Detail schließlich enthüllt wird, rückblickend neu aufzurollen. Man liest im Fluss und setzt ein Bild zusammen, kleine Anspielungen am Rande vergisst man schnell wieder, wenn das Geschehen selbst sie nicht präsent hält.
Das Forum ist in diesem Fall kein guter Resonanzraum, weil man hier erstens sehr genau und analytisch und zweitens häufig mehrmals liest. Aber "da draußen" hat man nur eine Chance. Der Wald-und-Wiesen-Leser liest nur einmal und ohne viel Kredit zu geben.
Im Grunde baust du alles schon sinnvoll auf, aber diese ganzen kleinen Ungereimtheiten in deinem Storytelling summieren sich auf, sodass die Geschichte nicht optimal zieht. Wenn es am Ende um das Untermischen von Schalentieren geht, müssen diese schon am Anfang aufgetaucht sein und irgendeine Rolle gespielt haben in der Story. Der Leser muss sich am Ende an die Schalentiere erinnern, nicht am Ende eine Schalentierallergie irgendwie mit einem Safran-Trüffel-Risotto zusammenführen.
Die Kerzen brannten. „Auf unser Wohl“, sagte er und hob sein Weinglas. Seine schlanken Hände waren sauber, der Rand seines Tellers auch. Sein Lächeln versprach alles. Hatte sie es tatsächlich früher einmal `magisch` genannt?
Auch das ist psychologisch deplaziert, finde ich. Er hat sie allem Anschein nach gerade erst vermöbelt, jetzt prostet er auf ihr Wohl? Damit machst du ihn und die Story zu einem überzeichneten Schwarz-Weiß-Schema. Spannender wären menschliche Grauzonen, Ambiguitäten, realistischere Reaktionen, die der Leser selbst nachvollziehen kann.
Seine Krawatte hing schief, aber sie sagte nichts.
Das Klirren der Gläser klang so kalt wie ihr Körper sich anfühlte. Kalt und pulsierend.
Sie lächelte, weil er es erwartete, und schaffte es, nicht auf seinen Teller zu sehen.
Er hob die Gabel zum Mund, öffnete, schob sich das Risotto in den Mund, kaute. Sie aß ihren Teller leer, öffnete das Schächtelchen. Es war ein goldener Ring mit einem Diamanten. Er war ihr zu protzig. Trotzdem schob sie ihn sich auf den Finger.
Again: Ein goldener Ring mit Diamant als Wiedergutmachungsgeschenk ist himmelschreiend überzeichnet. Warum bucht er nicht das Wellness-Wochenende, das sie sich mal gewünscht hat, oder stimmt endlich zu, eine neue Couch zu kaufen? Er sollte an etwas andocken, was ihr normalerweise tatsächlich gefallen hätte. Sie kennen sich offensichtlich schon lange und gut; der Mann soll doch kein Idiot sein, oder? Mach ihn zu einem meisterhaften Manipulator, dem sie verständlicherweise lange auf den Leim gegangen ist, weil sie ihn nicht durchschaut hat.
Nur einmal hatte er ihr gegenüber Schwäche gezeigt, als er ihr seine Krustentierallergie gestanden hatte, als ob er daran schuld gewesen wäre.
Er hatte geschworen, es würde nie wieder passieren. Doch sie hatte sich dasselbe geschworen. Sie war die Stärkere, vollendete an ihm das, was er an ihr begonnen hatte.
Sie sah über seinen Körper hinweg zum Fenster, in dessen Scheibe sich ihr Gesicht spiegelte.
Hier erklärst du die Intention deiner Geschichte und die Charaktere. Das würde besser aus dem Text selbst hervorgehen.
Insgesamt hat die Geschichte alles Potenzial der Welt, verlangt aber auch nach sehr viel Erzählkunst, denke ich. Es ist ja ein rein psychologisches Kammerspiel, das allein von der Konsistenz der Charaktere und der Dynamik leben soll, trotzdem aber irgendwie Backstory einflechten muss. Das ist schwer; solche Texte leben meist von diesen winzigen Details, über die der Leser denkt: genau so! Da biegt dein Text also in gewisser Weise genau falsch ab, denn er setzt stark auf althergebrachte und teilweise sogar ausgelutscht-überzeichnete Elemente.
Das Gute ist, dass das eine perfekte Grundlage für Arbeit am Text ist: Das Grundgerüst kann bleiben, wie es ist, an den Details und an den Besonderheiten kannst du nun in Ruhe feilen.
Freundliche Grüsse,
HK