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Schuld
Vor mir das leere, weiße Blatt Papier. Es starrt mich an, eine mächtige Anklage wegen Sprachlosigkeit, ein Plädoyer für Erlösung. Der Stift in meiner Hand bewegt sich unruhig, ungeduldig: Schwarze Schlange mit Druckknopf. Vormals züngelte ihre gespaltene Zunge auf Knopfdruck, bereit, furchtlose Worte kratzend aufmarschieren zu lassen. Subjekt, Objekt, Prädikat. Eine Schlachtordnung verstärkt durch Adjektive. Bis jetzt immer überzeugend formuliert, verführerisch, ein unerkannter Angriff auf hoffendes Vertrauen. Begehrt ist die Tinte der Illusion, unauslöschlich und schwarz.
Die Holzmaserung des Tisches umwebt das schlichte, weiße Blatt Papier. Dort stehen wirkliche, aber nicht dechiffrierten Botschaften, verdichtete Geheimnisse, eine ganze Welt von Lebenslinien. Ich sehe, doch erkenne sie nicht. Bin verhaftet in verantwortungslosen Theorien, welche mir persönliche Wichtigkeit vorgaukeln. Diese Lebensspuren sind oft gewunden, wie rankende Kalligraphien, an bedeutungsvoller Breite zunehmend oder sich verjüngend - auch manchmal durch einen Kratzer abrupt abbrechend, dann wieder sanft im Nichts eines Universums aus Mustergespinst vergehend.
Wundersam geschwungenen Linien zeigen Lichtreflexe, manchmal spiegelt sich mein Gesicht verschwommen in den Bildern des Holzes.
Vor mir das leere, weiße Blatt Papier. Keine Erlösung. Nur ein weiterer Tag, das Ticken einer mit sich selbst beschäftigten Uhr. Die schwarze Schlange umgibt meinen gesamten Körper mit ihren Windungen, presst selbsterkennende Wahrheit aus meinen Gedanken, die allen trügerischen Schein langsam erblinden lässt, weil ich mir immer mehr Einsicht über mich zugestehe. Ich bin Geisel meiner als vorbildlich erachteten Vergangenheit. Alle Wahrheiten, die ich aussprach, waren Zeugen von Lebenslügen, weil ich nicht die Person bin, der sie lebte. Meine Jünger, gestorben in den Klauen der Macht, rütteln an den Gitterstäben meines weggesperrten Gewissens. Warum ließen sich diese Leute auf Wortmächtige wie mich ein? Ich brauchte sie jedenfalls für den verursachten Missbrauch, diesem mich mächtig machenden Drachen.
Nun das Ende meines Selbstbetrugs, das Öffnen des Kerkers, unser Zeitalter der Illusionen ist schon lange im Mahlwerk trister Realität verendet.
Vor mir, das leere, weiße Blatt Papier.
Weiß ist die Unschuld,
endlich.