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Schuld ist stumm
Es ist leise, zu leise, eben noch hat sie ihren Sohn in der Legokiste wühlen gehört. Was ist denn jetzt schon wieder, denkt Nora und drückt die Klospülung. Sie wäscht sich eilig die Hände und fährt zusammen; der Schrei ist aus der Küche gekommen.
Vor dem Spülbecken steht Aron mit dem Filetiermesser. Blut rinnt über seine Hand, tropft auf die Küchenfliesen. Nora öffnet den Mund und schließt ihn wieder. Ruhig bleiben, ermahnt sie sich.
„Auh! Aua!, Wegmachen!“, seine Stimme klingt panisch, ohne zu blinzeln starrt er auf das Blut, während er mit dem Messer durch die Luft fuchtelt.
Nora deutet auf das Spülbecken. „Du musst das schmutzige Messer zurück ins Wasser legen, wir machen es wieder sauber.“
Zögernd nähert sie sich, ihre Augen finden seine.
Das Messer trifft sie, schneidet in den Arm. Nora schreit auf. Hält sich die Hand auf den Mund.
Erschrocken von ihrem Schrei beginnt ihr Sechsjähriger, durch die Küche zu rennen. Seine Lippen zittern und die dunklen Augen glänzen wie im Fieber. Nora beginnt zu schwitzen. Es ist Sonntag, sie kann den Kinderarzt nicht anrufen.
„ADHS“, hatte er ihr erklärt. „Sie werden viel Geduld benötigen!“
Langsam bewegt sie sich zum Spülbecken, lässt Wasser laufen.
Er bleibt stehen, lauscht, blickt auf das Wasser.
„Komm, leg das Messer ins Becken!“ Sie deutet auf das Filetiermesser, versucht ihrer Stimme einen gleichgültigen Ton zu geben. „Du darfst Abtrocknen.“
Zögernd kommt er näher. Blickt von ihr auf das Spülwasser. Lässt das Messer ins Becken fallen.
Schnell greift sie nach seiner Hand. „Du hast dich doll geschnitten, da müssen wir ins Krankenhaus fahren.“
„Abtrocknen“, beharrt ihr Sohn und stampft mit dem Fuß auf.
„Später!“ Sie zieht ihn ins Badezimmer. Nimmt aus der Hausapotheke Pflaster und Verbandszeug.
Aron weint, als sie sich auf den Badewannenrand setzt, ihn zwischen ihren Knien festhält und einen Druckverband um seine Hand legt. Anschließend hält sie ihren Arm unter den Wasserhahn und klebt ein Pflaster über den Schnitt.
Es war ein Kampf, ihn auf dem Sitz anzuschnallen. Im Rückspiegel sieht sie, wie er versucht, den Gurt zu öffnen. „Hör mal, Musik“, ruft Nora nach hinten und drückt eine CD von Zuckowski in den Player. Augenblicklich summt er mit. Erleichtert fährt sie los.
Nora hält die Luft an, als der Arzt in der Notaufnahme ihren Sohn bittet, ihm seine Hand zu zeigen. Doch bereitwillig streckt er sie ihm entgegen. Kurz schaut Aron zu, wie der Doktor den Verband entfernt. Dann zappelt er von einem Bein auf das andere.
Die buschigen Augenbrauen des Arztes ziehen sich zusammen, als er den Schnitt sieht. „Wie ist denn das passiert?“
„Aron hat …“
„Nein, bitte nicht Sie,“ unterbricht sie der Arzt. „Ihr Sohn soll mir erzählen, was vorgefallen ist.“
„Na, Sportsfreund“, beginnt er noch einmal. „Wie ist das denn passiert?“
Aron zuckt mit den Schultern.
„Das hast du doch mit einem Messer gemacht?“
Erneutes Schulterzucken.
Der Arzt blickt Nora an.
„Er hat aus dem Spülbecken ein scharfes Messer genommen und wollte es wahrscheinlich spülen. Ich war auf der Toilette.“ Schuldbewusst senkt sie den Kopf.
„Es ist ein sauberer Schnitt den kann ich kleben.“ Er streicht eine durchsichtige Flüssigkeit über die Wunde.
Aron zuckt zweimal zusammen, ohne einen Laut von sich zu geben. „Passiert das öfter?“
„Ständig!“, platzt es aus Nora heraus. „Er hat sich schon so oft in die Hand geschnitten, obwohl ich ihm immer wieder erkläre: du darfst keine Messer nehmen. Mit der Herdplatte ist es das gleiche. Ich weiß nicht, wie viele Brandblasen er schon hatte. Vom Kindergarten kommt er ständig mit einer Beule nach Hause. Eigentlich müsste das Wartezimmer unseres Hausarztes nach Aron benannt werden, so oft wie wir dort sitzen.“
„Ihr Arm“, der Arzt deutet auf das Pflaster. „War das Aron?“
Sie schluckt, ohne etwas im Mund zu haben. Eine abwartende Stille entsteht.
„Es ist so, dass ihn Kleinigkeiten aus der Fassung bringen. Er wollte das nicht!“
Die graublauen Augen des Arztes mustern ihren Sohn, der mit dem abgenommenen Verband spielt.
Stumm geht er zum Schreibtisch und setzt sich. „Bitte“, er deutet auf den Stuhl gegenüber, „nehmen Sie doch einen Augenblick Platz.“
Besorgt folgt sie seiner Aufforderung.
„Ich denke nicht, dass Ihr Sohn ADHS hat. Darf ich Sie etwas fragen?“
Nora versucht, das unangenehme Gefühl in ihrer Brust zu ignorieren.
„Haben Sie in Ihrer Schwangerschaft Alkohol getrunken?“
Entsetzt schüttelt sie den Kopf. „Sieht mein Sohn etwa wie das Kind einer Alkoholikerin aus?“
„Nein, die äußeren Anzeichen wie eine schmale Oberlippe, ein zu kleiner Kopf und auch andere fehlen.“
„Will nach Hause!“ Aron zieht an ihrem Arm.
Der Arzt greift in seine Schreibtischschublade und zieht ein Minipäckchen Gummibären heraus. „Darf ich?“
Nora nickt.
„Hier hast du etwas zum Naschen.“
Aron drückt das Päckchen an die Brust.
Nora bedankt sich, hebt ihn auf den Behandlungsstuhl und öffnet die Tüte.
Erst als sie dem Arzt wieder gegenübersitzt, fährt er fort. „Es ist so, dass sein Verhalten ganz auf eine Alkoholspektrumstörung hindeutet; ein Kind mit ADHS ist lernfähig. Meiner Meinung nach hat er nicht erkannt, dass er sich selbst mit dem Messer verletzt hat. Ursache und Wirkung sind ihm nicht klar.
„Aron. Bitte zähle mal von eins bis zehn.“ Der Arzt lächelt ihn an.
„Ein, zwei, drei, vier“, zählt er und schweigt.
„Gestern konnte er noch bis zehn zählen.“ Am liebsten wäre Nora aufgestanden und gegangen.
„Ein Kind mit ADHS kann zählen.“ hört sie seine Stimme.
„Bitte denken Sie noch einmal nach, ob sie nicht doch in Ihrer Schwangerschaft mal ein Gläschen getrunken haben?“
Sie will dem Blick des Arztes standhalten. Doch als ihr Onkel Karls und Tante Emmas sechzigster Geburtstag einfallen, starrt sie auf den Boden.
„Du wirst doch mit deinem Onkel Karl auf seinen Sechziger anstoßen? So ein Gläschen Sekt macht doch nichts.“ Alle hatten sie bedrängt.
„Zu mir hat der Arzt in der Schwangerschaft gesagt, ein Gläschen Sekt am Morgen regt den Kreislauf an.“ Tante Emma drückte ihr ein Sektglas in die Hand. „Prost, Nora.“
Und zwei Wochen später hatte Tante Emma selbst Geburtstag. „Mit Onkel Karl hast du doch auch angestoßen!“ Sie hatte sich wieder überreden lassen.
„Nur zu Beginn meiner Schwangerschaft habe ich zwei Gläschen Sekt getrunken“, gesteht sie und spürt die Röte auf ihren Wangen.
Keine Mutter, schadet ihrem Kind absichtlich“, beginnt der Arzt vorsichtig. „Das unbedenkliche ‚Gläschen in Ehren‘, trinkt das Baby zwangsläufig mit.
Nora sieht die Ultraschallbilder vor sich, das winzige Geschöpf in ihrem Bauch. Ihr wird übel.
„Was glauben Sie, hat mein Sohn?“
„FAS, eine fetale Alkoholspektrumstörung. Eins von 100 Kindern kommt mit dieser Störung auf die Welt, weil acht von zehn schwangeren Frauen Alkohol trinken.“
Er irrt sich, denkt Nora und springt auf.
„Ich kann Ihnen nur dringend raten, sich an eine Kinderneurologische Fachklinik zu wenden. Denn ihr Sohn wird ein Leben lang Hilfe benötigen.“
Nora greift nach Arons unverletzter Hand und zieht ihn aus dem Zimmer.
Sie will schreien, ihre Trauer in die hellen Krankenhausgänge schreien.