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Schreie
„Du musst etwas essen“, sagte Sara besorgt und strich ihrer Schwester über die Haare, wie Mama es immer getan hatte.
„Hab keinen Hunger“, murmelte Alyssa abwesend und ließ den Löffel fallen.
Ihre Schwester seufzte bloß und widmete sich wieder ihrem eigenen Essen. „Ich muss nachher noch zum Handball, okay? Und danach gehe ich noch zu einer Freundin, da komme ich erst morgen wieder. Aber ihr zwei kommt ja klar.“
Während Alyssa nicht reagierte, nickte Simon brav. Die beiden waren es gewohnt, mal einen Nachmittag allein zu sein. Immerhin waren sie beide ja schon fünf.
Nach dem Essen putzte Sara noch die Küche, stellte ihrem Vater eine Schüssel Suppe hin und ging nach oben in ihr Zimmer, um ihre Sachen zu packen. Danach verschwand sie ohne ein Wort und ließ ihre Geschwister allein zurück.
Simon sah ihr vom Wohnzimmer aus nach. Jetzt war sie weg. Immer wenn sie weg war, wurde Papa böse. Und dann weinte Alyssa, und er selbst verstand nicht einmal warum. Zu ihm war Papa immer lieb. Darum hatte er Papa mal gefragt, warum er immer böse zu seiner Schwester war und nicht zu ihm, ob sie vielleicht etwas Unanständiges gemacht hätte. Doch Papa strich ihm dann immer nur über den Kopf und meinte, er wäre auch lieb zu Alyssa. Er hätte sie auch lieb, genau wie ihn. Nur anders, weil sie ein Mädchen war und er ein Junge. Aber er wäre noch zu klein, um das zu verstehen.
Als Simon die Treppe nach oben ging und ins Kinderzimmer, fand er seine kleine Schwester auf dem Bett liegend vor. Er nannte sie gerne kleine Schwester, denn immerhin war er einige Minuten eher auf die Welt gekommen. Und darum sah er sich auch als ihr Beschützer – so wie es sich für einen großen Bruder gehörte.
„Alles okay?“, fragte er besorgt und kletterte die Leiter des Stockbetts nach oben.
„Ich habe Angst, Simon“, sagte sie und ihre Unterlippe zitterte.
Simon kniete sich neben sie und nahm ihre Hand. „Das musst du nicht.“
„Aber Sara ist nicht da. Ich will dass Sara zurückkommt, ruf sie ganz schnell an, bitte, bitte!“
„Sie ist beim Handball. Aber du brauchst keine Angst zu haben.“
„Er wird mir wieder wehtun“, wimmerte sie leise und vergrub den Kopf im Kissen.
„Das wird er nicht“, verspricht er. „Heute wird er dir nicht wehtun. Ich beschütze dich, versprochen. Nicht weinen!“
Und Alyssa weinte nicht. Sie hatte ja einen großen Bruder, der sie beschützte.
Es dämmerte, und sie hörten den Schlüssel in der Haustür.
„Er ist da“, flüsterte Alyssa tonlos.
„Ja“, sagte Simon.
Sie umfasste seine Hand fester. „Bleib bitte bei mir.“
„Hab ich doch versprochen. Es passiert dir nichts.“
Beide warteten angespannt. Sie hörten ihren Papa in der Küche hantieren, hörten das Rauschen des Wasserhahns und wie er die Spülmaschine anschaltete. Dann seine Schritte auf der Treppe. Er pfiff vergnügt, und das konnte er sehr gut. Simon bewunderte ihn immer dafür, aber zugleich machte ihm das Pfeifen Angst. Denn dann dauerte es nicht mehr lange, bis seine Schwester weinte.
Die Tür zum Kinderzimmer öffnete sich langsam. Da stand er, Papa war da.
„Hallo, meine kleinen Schätze!“, begrüßte er sie lächelnd. Alyssa sah ihn nicht an, sondern blieb steif liegen. Vielleicht sah Papa sie dann nicht und Simon musste sie gar nicht beschützen.
„Hallo Papa“, sagte Simon leise. Seine Hand tat ihm weh, so fest umklammerte Alyssa sie. Doch er beklagte sich nicht. Er war ja der große Bruder, und Alyssa durfte das.
„Wie war denn euer Tag so?“, wollte Papa wissen und kam näher, um sich auf das Geländer das Stockbetts zu stützen.
„Schön“, sagte Simon, doch Alyssa drehte den Kopf weg.
„Hey, mein Schatz!“, meinte Papa fürsorglich und strich ihr über die Wange. Am liebsten hätte sie bei dieser Berührung geschrieen, aber sie wimmerte nur.
„Du musst doch keine Angst haben“, tröstete sie Papa.
Nein, musste sie nicht. Er hatte sie ja lieb. Er war ja ihr Papa und sie seine Tochter. Und ein Papa hat seine Tochter immer lieb. Und sie hatte Simon.
„Komm, Schatz“, forderte Papa sie auf und streckte die Arme nach ihr aus. „Komm, wir gehen nach drüben. Nur wir zwei.“
Doch als seine Hände sie berührten, um sie vom Bett zu heben, schrie sie panisch auf. Hysterisch weinend versuchte sie, wegzukriechen, hielt Simons Hand umklammert.
„Ich will nicht!“, rief sie. „Bitte, Papa, heute nicht! Ich möchte das nicht!“
„Na komm, du musst doch keine Angst haben. Ich war doch immer lieb zu dir. Jetzt musst du lieb zu Papa sein.“, meinte er und lächelte sie an.
„Nein, ich mag nicht!“, rief sie und versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen.
Papa sah seinen Sohn an. "Sag du es ihr, Simon, sie soll jetzt lieb sein."
Simon zögerte, dann bat er Alyssa: "Sei lieb zu Papa."
Doch Alyssa schrie, als dieser sie an sich zog, sie strampelte, Tränen rannen ihr über die Wangen. Ihr Bruder hatte etwas versprochen.
„Sie mag nicht, Papa.“, rief Simon, doch der hörte nicht. „Sie mag nicht!“, schrie er wütend und begann, auf ihn einzuschlagen, während er seine weinende Schwester noch immer ganz fest hielt.
Doch Papa stieß ihn grob von sich weg, sodass er mit dem Rücken aufs Bett fiel, und Simon konnte die Hand seiner schreienden Schwester nicht mehr festhalten.
„Simon!“, kreischte Alyssa, strampelte auf Papas Arm, fasste nochmals die Hand ihres großen Bruders. Er würde sie beschützen. Papa würde ihr nicht wehtun. Ihr Papa hatte sie lieb!
Es waren zwei Kinderhände, die sich in dem Moment panisch umklammert hielten. Kein Hindernis für einen vierzigjährigen Mann.
„Lass sie bei mir!“, schrie Simon seinen Papa an und kletterte schnell vom Bett, „Lass sie los!“
Doch Papa trug seine kleine Tochter hastig hinaus und schlug die Tür knallend vor dem Jungen zu. Der Junge rüttelte mit all seiner Kraft an der Klinke.
„Simon!“, schrie Alyssa immer zu weinend durch die versperrte Tür. „Simon!“
Aber Simon antwortete nicht mehr. Er rüttelte auch nicht mehr an der Klinke, sodern ließ sich kraftlos zu Boden sinken.
Er hatte sein Versprechen gebrochen. Er hatte sie nicht beschützt.
„Na komm.“, hörte er Papa wieder flüstern, dann, wie er die Tür zum Schlafzimmer öffnete.
Es war das letzte, was er ihn sagen hörte. Danach folgten nur noch die verzweifelten Schreie seiner Schwester, die immer lauter wurden und am Ende nur noch als flehendes Schluchzen zu hören waren.
Er tat ihr weh.