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Schneeflöckchen, Wießrüschen
Es war unser erstes Treffen. Wir kannten uns einige Zeit, fanden uns sympathisch. Dann eine Verabredung, wie es so kommt. Eine Kneipe am Freitagabend. In der Vorweihnachtszeit. Alle Tische sind besetzt. Wir drängen uns stehend in die Ecke und finden das ganz gemütlich, man redet dieses und jenes: Was machst du so, kennst du den? Ah, interessant. Ja, die Musik höre ich auch gern. Obwohl das nicht stimmt. Aber man will ja Wege offen lassen, sich nichts verbauen am Anfang. Lieber vorsichtig sein. Ich finde sein Lachen schön. Er wirft dabei den Kopf weit in den Nacken und beugt sich dann nach vorn und schüttelt ihn, als wollte er etwas aus den Haaren herausbeuteln. Ich krame dafür meine lustigsten Geschichten aus dem Gedächtnis.
Dann aus dem Lautsprecher dieses Lied: „Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du …“, und das schnürt mir sofort die Kehle zu, und die witzigen Storys, die Pointen, die ich geplant habe, lösen sich auf und ich sehe sie wieder vor mir, die verschmierten Wände und ich will nur noch raus. „Können wir gehen?“ Ich warte die Antwort nicht ab, ziehe meine Jacke an und dränge mich durch die Leute zum Ausgang. An irgendetwas bleibe ich hängen, vielleicht eine Weihnachtsdeko, ich schaue mich nicht um und reiße mich los. Nur an die frische Luft. Wie kommt das, dieses Lied in der Kneipe? Wahrscheinlich ein Weihnachtsscherz, wahrscheinlich ein sentimentaler Anfall des Wirts. Egal. Möglichst das nicht in den Ohren haben.
Er kommt aus der Kneipe und stellt sich neben mich. Dann fragt er: „Und was war das, bitte?“ Er klingt ernst, aber nicht beleidigt.
„Dieses Weihnachtszeug, das Geplüsche und Gesülze, die Rührseligkeit. Ich kann das nicht mehr hören.“
„Sieh das doch nicht so eng“, sagt er ruhig. „Das ist doch auch mal schön, sich reinhängen in den Christmas-Kitsch. Ich mag das. Lichterketten, Plätzchenduft, Zimt und Anis, hm, Stille Nacht.“ Und er argumentiert weiter und ist ein wirklich eloquenter Advokat für den Weihnachtscheiß, dass ich mich beruhige und ihm am liebsten beipflichten möchte: Ja, sprechen wir Weihnachten frei von aller Schuld, euer Ehren! Der Anwalt hat in sämtlichen Belangen Recht. Und jetzt schmücken wir gemeinsam den Baum! Ja, das würde ich gerne tun.
„Können wir ein wenig gehen?“, schlage ich vor, und er willigt ein und biegt seine Schulter kurz zu mir herüber, dass wir uns leicht berühren.
Wir schlendern durch die mittelalterlichen Straßenzüge der Innenstadt. An einer Fassade bleibe ich stehen. Der Sockelbereich ist frisch gestrichen. Die Weihnachtsbeleuchtung taucht den Hauptplatz, auf den wir zugehen, in ein fahles, gelbliches Licht.
„Schau“, meint er, „ist das nicht schön?“, und zeigt mit einer ausladenden Geste auf die Häuser am Platz, die ein Ensemble bilden, das man sich nicht weihnachtlicher vorstellen kann, wie aus einem Werbeprospekt. Er macht eine kurze Pause und sagt dann fast beiläufig: „Aber, das ist nicht alles, oder?“
„Ja. Also, nein. Das ist nicht alles“, fange ich an zu erzählen. „Ich habe letztes Jahr Syrer unterrichtet. Die aus der Traglufthalle. Es war in der Stunde vor Weihachten. Und da haben wir ‚Schneeflöckchen, Weißröckchen‘ gelesen.“
„Okay“, sagt er wieder ganz ruhig. „Interessant. Syrern hast du Schneeflöckchen gelehrt? Gute Pädagogik. Altdeutsches Liedgut. Intakte Gesinnung.“
„Ja, total bescheuert. Idiotisch“, sage ich peinlich berührt. „Ich weiß. Kein passendes Material für Leute, die nur zweieinhalb deutsche Wörter kennen: Deutschland, gut Land. Aber es war die Vorweihnachtsstunde und ich dachte mir: Machen wir traditionelle Weihnachten. Ich hab Stollen mitgebracht, und es war eine schöne Runde.“
„Wo habt ihr euch getroffen?“
„In der Stadtbücherei. Da gab es einen großen Rundtisch. Im Hintergrund Romane und Hörspiele in den Regalen, und wir daneben mit ersten Schritten in der deutschen Sprache. Im Neonlicht.“
„Hm, sehr romantisch“, sagt er.
„Ja, das war es wirklich“, sage ich. Und die Erinnerung an die letztjährigen Ereignisse wühlt mich auf: „Es war so eine Aufbruchsstimmung. Als hätten so viele darauf gewartet, endlich dieses hohle Gerede von Empathie, Großmut und Sozialdenken mit etwas Konkretem füllen zu können. Spenden für den örtlichen Kindergarten. Ja. Für Kinder im fernen Afrika. Dafür schon. Aber sonst alles sauber und quadratisch.“
Während wir langsam den Kirchberg hinter dem Stadtgraben hinaufgehen, erzähle ich von meinem Helferdienst. Dass viele redeten und wenige etwas taten. Und ich mich in der Pflicht fühlte. Dass ich mit den Flüchtlingen vertraut wurde im Lauf der Stunden. Mit Harun, Hilal und Zafer und den anderen, die zu den Stunden aus dem Camp in die Stadt kamen, um der tristen Atmosphäre dort zu entfliehen. Zafer, der als Schiffbauingenieur an die Ostsee wollte. Lang und schlaksig und immer zu Späßen aufgelegt. Oder Harun, der Wirtschaftsstudent, der so bescheiden und doch standesbewusst auftrat und mit seiner noblen Blässe fast zerbrechlich wirkte. Wenn er sich konzentrierte, neigte er den Kopf leicht zur Seite, kniff die Augen zusammen und spitze den Mund, als würde er lächeln. Als würde er alles Neue und Unbekannte ohne Angst in sich aufnehmen wollen.
Ich seufze kurz auf. Ihn habe ich vorhin deutlich gesehen. In der Bar. Im Schneegestöber hob er die Hand, vielleicht zum Abschied, vielleicht zum Gruß. Das Lied dudelte dazu. Im Hintergrund rote Parolen. Harun.
Er merkt es nicht.
Ich erzähle weiter von der Weihnachtsstunde, wie ich das Diminutiv an „Schneeflöckchen“ erklärte. Kompletter Unsinn. Viel zu kompliziert. Aber unterhaltsam. Am Ende sollte jeder als Ausspracheübung den Anfang lesen, was allen schwer fiel. So, wie Arabisch für uns kaum auszusprechen ist.
„Lakhma arabb hackma“, imitiert er den Tonfall mit kehliger Stimme. Und wir lachen kurz.
Dann erzähle ich weiter: „Und etliche haben dann das Gesicht so verzogen beim Sprechen: ‚Schnieflüchen, Weichruchen‘. Andere zwickten den Kopf in den Nacken und schoben die Kieferlade vor, so: ‚Schnüflüschen, Wießrüschen‘. Sie machten sich über die Schwierigkeit der Aussprache lustig und verarschten sich gegenseitig. Es war so heiter und unbeschwert.“
Er wirft wieder lachend seinen Kopf zurück und dann stößt er mit der Stirn gegen meinen Arm und hält ganz kurz inne, dass ich seine Haare ganz dicht vor Augen habe und seinen Duft wahrnehme. Ein guter Duft, den ich einatme. Während er den Kopf wieder hebt, sagt er mit einem milden, versöhnlichen Ton: „Ich finde das schön. Du hast sie jetzt nicht gerade unterfordert. Aber ihr hattet Spaß. Und du hast ihnen in der traurigen Situation Freude gegeben.“
„Ja“, bestätige ich. „Das war gut. Stimmt. Wir haben uns dann herzlich verabschiedet. Und dann war Weihnachtspause über Silvester.“
Wir sind auf dem Kirchberg angelangt. Von oben sieht man auf die Autobahn, die nahe am Stadtrand vorbeiführt. Hier ist es nie still. Das beständige Rauschen und Dröhnen wird wellenartig lauter und leiser, aber es verschwindet nicht. Ein heiliger Lärm. Ein kosmisches Rauschen. Es gibt hier keine Laternen und am Himmel kann man jetzt unzählige Sterne sehen.
„Irgendwie sieht sie aus, wie ein Ufo.“ Er deutet auf die Traglufthalle, die neben der Autobahn steht und die man im Halbdunkel erkennen kann.
Ich sage: „Ja, irgendwie waren sie auch von einem anderen Stern. Aber nach Neujahr war alles anders.“
„Wegen Köln.“
„Ja.“ Und jetzt habe ich die Schmierereien an den Wänden in der Innenstadt wieder ganz deutlich vor Augen: „Nein zum Asylantenheim“. „Haut ab“. “Verpisst euch, Assis“. „Hier keine Asylaten“.
Dazwischen die Weihnachtsseligkeit in den aufgetakelten Schaufenstern und duftender Glühwein.
„Ich kann mich gut erinnern“, sagt er. „Die Berichte über Köln. Dann ging es bei uns mit dem Parolengeschmiere los. War nicht das Fernsehen da?“
„Ja, stimmt. Wir haben damit eine traurige Berühmtheit erlangt. Aber die Polizei konnte nichts aufdecken. Man weiß nicht, wer das war.“
Wir lehnen uns an die Brüstung und unser Blick wechselt zwischen Autobahn und Sternenhimmel hin und her.
„Im Ort“, sage ich „haben die Leute die Köpfe zusammengesteckt, wenn Flüchtlinge vorbeigingen. Manche haben sie auch ganz offen attackiert. Und dann ganze Häuserzeilen voll mit den Sprüchen. Harun und die anderen kamen noch einmal in der Stunde nach Silvester. In ihren Augen konnte man lesen, dass etwas passiert war. Von den Ereignissen in Köln wussten sie nichts Genaues. Aber das veränderte Klima spürten sie. Sie waren ernst und eingeschüchtert. Von unserem Weihnachtsspaß war nichts mehr übrig.“
Ich sage nicht, dass ich im Unterricht das Bild von den antanzenden Männern auf der Domplatte in Köln nicht aus dem Kopf bekomme, die ihre Finger triumphierend in die Höhe halten, wie Trophäen, weil sie eben diese Finger gerade erfolgreich einer Passantin zwischen die Beine gesteckt haben, dicht an der Möse vorbei, und sie berauschen sich an dem Mösengeruch, der wahrscheinlich gar nicht da ist, aber sie riechen es trotzdem und halten sich eben diese Finger unter die Nase und saugen den Dunst wie ein Narkotikum ein. Dieses Bild habe ich im Kopf.
Ich sage: „Das war es dann irgendwie. Die Euphorie des Anfangs war dann vorbei.“
„Verstehe.“
„Ja, aber bei mir nicht. Ich habe es immer für richtig gehalten und tue das immer noch. Aber es gab so viele Stimmen, so viele Meinungen. Es war so konfus alles. Ich wurde als ‚Gutmensch‘ beschimpft. Als naiv und weltfremd.“
Er klopft mit seiner Hand aufmunternd auf meinen Rücken. Und ich stehe da und denke an meine Mutter, wie sie nach Neujahr die leicht verstaubten Christbaumkugeln vom Baum nimmt und in Schachteln packt. Und ich als Kind daneben und kann es nicht fassen, dass der Weihnachtszauber vorüber ist. Der Weihnachtszauber an Heiligabend, an dem ich mir immer wünschte, dass alles eins wäre und ich wünschte es so fest, dass es vielleicht sogar eins war. Aber jetzt war nichts mehr eins. Jetzt war da ein Riss, und die Teile, die der Riss trennte, passten nicht mehr zusammen.
Wir stehen noch eine Weile, hören dem Rauschen der Autobahn zu und gehen dann langsam und schweigend den Berg hinunter. Hinter den Fenstern blinken kitschige Lichterketten in allen möglichen Farben. Die Straßen sind menschenleer. Unter der Weihnachtsbeleuchtung verschwinden die Sterne am Himmel. An der Kreuzung vor dem Hauptplatz bleiben wir stehen.
„Sehen wir uns?“, fragt er und nimmt meine Hand und streicht mit der anderen darüber.
„Auf jeden Fall“, sage ich. „Und dann erzählst du.“
Im Gehen wendet er sich kurz um und ruft mir hinterher: “Ich hoffe, es schneit nicht.“