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Schnee

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26.08.2002
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Schnee

SIEBEN
Maria überlegte, den Brief, den sie in der Hand hielt, schon hier zurückzulassen.
Brief? Eine halbe Seite, drei Sätze, das war ihre letzte Mitteilung. Drei Sätze, an niemanden gerichtet.
Niemand ist mir eingefallen.
VIERZEHN
So endet es. Von Anfang bis Ende. Von hier nach dort.
Hatte sie einmal versucht, sich das vorzustellen?
EINUNDZWANZIG
Niemand sieht mich, weil es niemanden gibt. Auch das hab ich nicht für möglich gehalten.
VIERUNDZWANZIG
Der Fahrstuhl öffnete sich, sie ging die wenigen Schritte zur Tür, die aufs Dach hinausführte. Sie ging nicht gleich hinaus, sondern blickte kurz zurück, da stand er noch.
Mein letzter Begleiter; einer, der nichts hört und sieht. Der meinen blauen Lieblingsmantel nicht sieht, den ich als letzten trage, shocking blue.
Die Kälte traf ihr Gesicht. Sie zog den Reißverschluss hoch.
Dann schritt sie zur Brüstung; sie sah die beleuchteten Fenster im Gebäude gegenüber, Lichterketten.
So ist das, hier stehe ich. Und es ist schon vorbei.
Zweiundsiebzig Weihnachten.
Und ich bin der einzige Gast. Das dritte Mal ohne dich.
Sie dachte an ihn; an seine am Ende gebeugte Gestalt, an die tiefen Furchen um seine Augen. Jetzt war es eine Welt ohne ihn. Ganz, ganz ohne ihn, denn Erinnerungen zählten nicht.
Es ist nicht schwer, es ist leicht.
Sie erinnerte sich. An die Orte, die Tage.
Ich denk zurück an viele Gesichter.
Sie weinte.
Dann zerriss sie den Brief. Die Papierfetzen zerstreuten sich auf dem Boden.
Am Himmel seh ich tausend Lichter.
Sie machte sich daran, auf die Brüstung zu klettern.
Und eins nach dem anderen wird gelöscht.
Zögerte.
Nur noch ein Meter. Ein langer Weg hierher, aber jetzt nur noch ein Meter.

Sie hörte hinter sich ein Geräusch; sie erschrak, nahm das rechte Knie von der Mauer, langsam, wandte sich um. Eine Gestalt stand hinter ihr, nicht weit entfernt, groß, still. Als ob sie sich eben noch bewegt hätte. Wie bei diesem Spiel, Ochs am Berg.
Maria zitterte. “Wolfgang?”, fragte sie.
Schweigen.
“Bist du es?”
Der Mann trat einen Schritt auf sie zu und schüttelte den Kopf. “Nein. Nein – ich heiße nicht Wolfgang.”
Er trug einen langen schwarzen Lodenmantel, graues, schütteres Haar. Sein Gesicht erinnerte trotz der Falten an ein Kindergesicht, große Augen.
Er deutete auf die Brüstung.
“Du willst springen?”, fragte er.
“Nein”, sagte sie. “Ich … will allein sein.”
“In Ordnung”, sagte er.
Maria schwieg. Sie zwang sich zu einem Lächeln, als sie bemerkte, dass er nicht ging. “Ich schaue mir hier nur … die Stadt … von oben an.”
“In Ordnung”, sagte er. “Aber ich … glaube das nicht.”
“Und wenn ich es wollte? Was dann? Wenn ich einen Grund habe, wenn …”
Er hob die Hände. “Nein, ich …”
Sie fragte laut: “Warum nicht? Warum nicht?”
Er zögerte.
“Vielleicht”, sagte er schließlich. “Weil … es auch morgen noch geht?”
“Sind Sie mir gefolgt?”, fragte sie.
Er zögerte erneut. “Ja. Ja, das bin ich.”
“Wozu?”
Das schien er nicht zu wissen. Überlegte, bis er sagte: “Es … ist kalt und ich friere. Könnten wir nicht … irgendwo einen Kaffee zusammen trinken … in der Nähe? Ich laufe schon lang herum und schau mir die Häuser an und … die Bäume … die Leute ...”
Er schwieg, betrachtete seine Stiefel.
Sie steckte die Hände in die Taschen des Mantels.
Weil es auch morgen geht.
Was macht das schon, ein Tag.

Beide stehen ohne Bewegung, den Atem wie Nebel im Gesicht.
“Gut”, sagt sie schließlich.
Sie setzen sich in Bewegung, gehen hinein. Fahren schweigend nach unten, betreten schweigend den Gehweg; festgetretener Schnee unter ihren Schritten.
Ein Café, nur drei Blocks entfernt.
Sie nickt.
Bei einem Metallkorb bleibt er stehen, greift in die Seitentasche seines Mantels, zieht ein Stück Papier heraus, das er, ohne es anzuschauen, zerknüllt und hineinwirft.
Sie bemerkt die Schneeflocken, blickt nach oben in den Nachthimmel, es hat wieder begonnen zu schneien.

 

Hallo @FlicFlac,

mal ein paar Kleinigkeiten vorweg:

Maria überlegte, den Brief, den sie in der Hand hielt, schon hier zurückzulassen.
Brief? Eine halbe Seite, drei Sätze, das war ihre letzte Mitteilung. Drei Sätze, an niemanden gerichtet.
Niemand ist mir eingefallen.
Vielleicht muss der Einstiegssatz nicht so ohne Lesefluss daherkommen? Die Kommas zerstückeln ihn. Z.B.: M. überlegte, ob sie den Brief in ihrer Hand schon hier zurücklassen sollte.

Maria zitterte. “Wolfgang?”, fragte sie.
Schweigen.
“Bist du es?”
Kommt mir seltsam vor, dass sie in Erwägung zieht, ein Toter wäre aufgetaucht. Na gut ... die menschliche Psyche.


“Vielleicht”, sagte er schließlich. “Weil … es auch morgen noch geht?”
"Weil … es auch morgen noch geht?” Das klingt so pauschal wie 'Morgen ist auch noch ein Tag'. Weiß nicht, ob man in einer depressiven Stimmung so etwas motivierend empfindet. Ein Sozialarbeiter sagte einmal zu mir: 'Du glaubst nicht, wie schwer es ist, solche Leute vom Fenster wegzubringen."

Fahren schweigendnach unten, betreten
+

Sie ging nicht gleich hinaus, sondern blickte kurz zurück, da stand er noch.
Mein letzter Begleiter; einer, der nichts hört und sieht.
Ein starkes Bild! Die Einsame, mit einem ignoranten Begleiter auf ihrem letzten Weg.

Zweiundsiebzig Weihnachten.
Und ich bin der einzige Gast.
Die Altersangabe wird dem Leser geschickt vermittelt, gleichzeitig steht die Zahl für einen Verlauf, dessen Endpunkt nun erreicht wurde. :thumbsup:
Stärker finde ich: Heute (oder jetzt) bin ich der einzige Gast (im Gegensatz zu früher).

“Du willst springen?”, fragte er.
“Nein”, sagte sie. “Ich … will allein sein.”
Welch Paradox! Die die Einsamkeit beklagende baut den Schutzschirm des Alleinseinwollens um sich auf.

Er zögerte erneut. “Ja. Ja, das bin ich.”
“Wozu?”
Das schien er nicht zu wissen.
Eine gute Vorbereitung auf den Schluss ... (Der Mann war wohl auch nicht so ganz entschlossen ...).

Bei einem Metallkorb bleibt er stehen, greift in die Seitentasche seines Mantels, zieht ein Stück Papier heraus, das er, ohne es anzuschauen, zerknüllt und hineinwirft.
Der Mann wollte (wahrscheinlich) auch springen - ein interessanter Einfall. Das rettet auch etwas die Geschichte, da sie ansonsten ziemlich viele typische Suizid-Geschichten-Elemente enthält. ("Niemand", 'zerissener Brief', kalte Nacht, verlöschende Lichter ...).

Dem Titel "Schnee" könnte man noch etwas mehr Bedeutung zumessen. So muss man mutmaßen, ob er für das Bedecken der Vergangenheit steht, einen Neuanfang symbolisiert oder für eine Art 'alle Jahre wieder' oder ...

Hätte ich beinahe vergessen: Diese Stockwerksangaben - ein reverser Countdown, guter Einfall.

Ja, soweit meine Eindrücke, danke für diesen routiniert erzählten Text.

LG,

Woltochinon

 

Lieber @FlicFlac ,

eine traurige Wintergeschichte zweier alter Menschen. Die Stimmung in deiner Geschichte ist durchgängig getragen von Hoffnungslosigkeit, trotz des guten Endes.
Man spürt, dass das gemeinsame Gehen in ein Café nichts bedeuten muss.
Es ist vielleicht nur ein Hinausschieben des Vorsatzes, sich umzubringen. Das genau gefällt mir an deiner Geschichte sehr, dass sie stimmig bleibt und nicht mit einem HappyEnd um die Gunst des happyendsüchtigen Lesers buhlt.

Hatte sie einmal versucht, sich das vorzustellen?
Ich würde anstelle von "einmal", "jemals" verwenden.
Der meinen blauen Lieblingsmantel nicht sieht, den ich als letzten trage, shocking blue.
Dieses shocking blue gefällt mir, es ist ein winziger Lichtblick in dieser Trostlosigkeit. Ich weiß zwar nicht, wie dieses Blau genau aussieht, aber das ist gut so, denn ich kann mein ureigenes Lieblingsblau hineininterpretieren. Erstaunlich, wie viel Wirkung zwei Worte haben können.
Sie zog den Reißverschluss hoch.
Ich überlege, ob ich Mantel nicht eher mit Knöpfen in Verbindung bringe. Vielleicht schließt sie die letzten beiden Mantelknöpfe am Hals? Übrigens ist dies für mich wieder so ein winziger, versteckter Hinweis darauf, dass ihr Leben ihr doch nicht völlig egal ist. Du zeichnest mit feiner Feder, deutest leise an.
Dann schritt sie zur Brüstung; sie sah die beleuchteten Fenster im Gebäude gegenüber, Lichterketten.
Für mein Gefühl würde ich es anders formulieren: Dann schritt sie zur Brüstung, sah die beleuchteten Fenster im Gebäude gegenüber, die Lichterketten.
Zweiundsiebzig Weihnachten.
Und ich bin der einzige Gast. Das dritte Mal ohne dich.
Elegant gelöst mit ihrem Alter und ihrer Witwenschaft.
“Vielleicht”, sagte er schließlich. “Weil … es auch morgen noch geht?”
Für mich der wichtigste Hoffnungssatz in diesem Text. Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, beinhaltet auch die Freiheit, es morgen zu tun. Für mich hat es mit der Frage zu tun, wie lange man bereit ist, Hoffnungslosigkeit zu ertragen.
Beide stehen ohne Bewegung, den Atem wie Nebel im Gesicht.
Stimmiges Bild.
betreten schweigend den Gehweg; festgetretener Schnee unter ihren Schritten.
Ich würde auch hier es etwas anders formulieren: ...betreten schweigend den Gehweg, den festgetretenen Schnee unter ihren Schritten.
Sie bemerkt die Schneeflocken, blickt nach oben in den Nachthimmel, es hat wieder begonnen zu schneien.
Mir würde es so besser gefallen:
Sie blickt nach oben, aus dem Nachthimmel fallen dicke Schneeflocken auf ihr Gesicht.

Meine Formulierungsvorschläge sind, aber das weißt du ja, nur Vorschläge und entspringen nicht dem Gedanken, dass du es falsch formuliert hast, sondern der Idee, den Text noch mehr zu optimieren. Aber es ist auch sehr viel reinste Geschmackssache dabei.

Traurigschöner Text.

Lieben Gruß

lakita

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Woltochinon, herzlichen Dank fürs Kommentieren!


Maria überlegte, den Brief, den sie in der Hand hielt, schon hier zurückzulassen.
Brief? Eine halbe Seite, drei Sätze, das war ihre letzte Mitteilung. Drei Sätze, an niemanden gerichtet.
Niemand ist mir eingefallen.
Vielleicht muss der Einstiegssatz nicht so ohne Lesefluss daherkommen? Die Kommas zerstückeln ihn. Z.B.: M. überlegte, ob sie den Brief in ihrer Hand schon hier zurücklassen sollte.
Werde ich überlegen. Eigentlich wollte ich dieses 'Stockende' im Rhythmus schon haben, aber du hast natürlich recht, als erster Satz gleich einer mit 3 Beistrichen; das schreckt womöglich ab. Vielleicht mache ich zwei kurze Sätze daraus. Setz mich da noch mal hin zum Tüfteln.

Zweiundsiebzig Weihnachten.
Und ich bin der einzige Gast.
Die Altersangabe wird dem Leser geschickt vermittelt, gleichzeitig steht die Zahl für einen Verlauf, dessen Endpunkt nun erreicht wurde. :thumbsup:
Stärker finde ich: Heute (oder jetzt) bin ich der einzige Gast (im Gegensatz zu früher).
Ja, genau :)

Der zweite Satz braucht eine 'Ergänzung im Geiste', das ist in dieser Geschichte mehrmals so gedacht:
Und ich bin (inzwischen) der einzige Gast.

Das meint also das, was auch du vorschlägst. Nur ist es in deinem Vorschlag explizit. Damit erzeugt es nicht den Eindruck eines Fragments, den ich wollte -- mit 'Nachhall'. 'Richtig' wäre es allerdings.

Das mit den Ergänzungen ist auch hier der Fall:

Zögerte.
Nur noch ein Meter. Ein langer Weg hierher, aber jetzt nur noch ein Meter.
(Es ist) nur noch ein Meter. (Es war) ein langer Weg hierher, aber jetzt (ist es) nur noch ein Meter.
Auch hier wählte ich die nicht-explizite Form wegen des Halls; das sind die Fragmente in der Frau (in ihren Gedanken), die da 'hallen', Fetzen von Sätzen sozusagen.


“Vielleicht”, sagte er schließlich. “Weil … es auch morgen noch geht?”
"Weil … es auch morgen noch geht?” Das klingt so pauschal wie 'Morgen ist auch noch ein Tag'.
Da brachtest du mich zum Nachdenken. Ist das gleich? Wenn das so ist, wäre es platt.
Aber ich dachte, er sagt ja nicht, morgen ist auch noch ein Tag und dann sieht alles anders aus ... die Idee ist ja schon anders: Du musst es nicht heute machen, du kannst es auch morgen tun (oder jederzeit). Das ist eine spontane Idee von ihm, kein Spruch, den er auswendig kennt wie den anderen. Bin da gespannt auf weitere Anmerkungen, ob das so pauschal banal ist wie der andere Satz (ich dachte, nein).
Aber klar ist auch, dass auch dieser Satz nichts änderte, wenn es in ihr nichts gäbe, was ihr Leben bewahren will, es ist also nur eine Ausflucht, die dem Kopf geboten wird, ähnlich einer Ausrede, die einem einfällt, damit man das nicht tun muss, was man eigentlich ohnehin nicht will.

+
Sie ging nicht gleich hinaus, sondern blickte kurz zurück, da stand er noch.
Mein letzter Begleiter; einer, der nichts hört und sieht.
Ein starkes Bild! Die Einsame, mit einem ignoranten Begleiter auf ihrem letzten Weg.
Ja, genau, da geht es um Anteilnahme; der Einzige, der es könnte, weil er existiert und anwesend ist, ist ein Aufzug, der es selbstverständlich nicht kann.

Er zögerte erneut. “Ja. Ja, das bin ich.”
“Wozu?”
Das schien er nicht zu wissen.
Eine gute Vorbereitung auf den Schluss ... (Der Mann war wohl auch nicht so ganz entschlossen ...).
Richtig.
Hätte ich beinahe vergessen: Diese Stockwerksangaben - ein reverser Countdown, guter Einfall.
Danke! So war es gedacht :)

Ja, soweit meine Eindrücke, danke für diesen routiniert erzählten Text.
Danke dir, aber offen gestanden, kam ich mir beim Erstellen überhaupt nicht 'routiniert' vor. Weil ich meist ganz auf andere Art schreibe; nicht diese 'konnotativen Bildgeschichten'; und thematisch ist es bis auf den Demenztext auch ungewöhnlich.
Hab da ziemlich viel rumprobiert und bin auch jetzt noch gar nicht sicher, ob das so wirkt wie ich es möchte. Erwarte mir deshalb Einiges von den Inputs.
Vor allem die Gefahr der Kitsch-Nähe und die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Geschehens setzen mir ein Stück weit zu.
Aber ich deute mal deine Aussage als positiv für die Story.

Ja, auch der 'Schnee' heißt hier was, allerdings hatte ich nicht die Absicht, diese Sachen festen Bedeutungen zuzuordnen, das wollte ich dem Lesenden lassen.

Gruß von Flac

 

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