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Schnee

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02.01.2011
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Schnee

Nachmittags fiel wieder Schnee. Ich stand an der Balkontür und sah gegenüber die Baustelle, den Aushub des Fundaments, den Rohbau, die Bagger und Betonmischer unter einer weißen Schicht versinken. Aus den anderen Wohnhäusern links und rechts der Siedlung sah ich Fenster leuchten, ihre Umrisse vage hinter all dem fallenden Weiß verschwinden. Der Himmel war wie aus einem einzigen Stück dicker, nasser Watte. Kurz dachte ich nach, dann wurde mir klar, dass es diese unglaubliche Stille war, die dort draußen herrschte und die der Schnee immer mit sich brachte, die eine solche Faszination auf mich ausübte; und ich dachte, dass Schneefall das einzige Unwetter ist, das vollkommen geräuschlos daherkommen und eine ganze Stadt lahmlegen und ersticken kann.
Ich ging in die Küche und setzte Kaffee auf. Ich war acht Wochen krankgeschrieben, und ein Austauschdoktorand aus der Elfenbeinküste übernahm meine beiden quellenkundlichen Seminare montags und mittwochs. Drüben im Schlafzimmer hörte ich Maya atmen, leise und gleichmäßig, und als ich etwas Milch im Topf erhitzt hatte und mit der fertigen Tasse Kaffee im Gang stand, hörte ich, wie sie sich drehte, im Bett, wie sie etwas murmelte, und dann wieder leise ein- und ausatmete, ganz gleichmäßig und still. Im Wohnzimmer setzte ich mich in meinen Sessel, nahm mein Buch in die Hand und sah einen Moment lang wieder aus dem Fenster, auf all den herabfallenden Schnee, auf all die Masse, die sich dort oben, im Himmel, angesammelt hatte. Ich trank vom Kaffee und schlug mein Buch auf. Ich las Willkommen in Wellville von T.C. Boyle, ich war ungefähr in der Mitte. Der Roman handelte von Dr. Kellogg, der mit seinem Bruder die berühmten Cornflakes erfand, allerdings mit der Intention, sie würden sämtliche Verstopfung und somit auch jegliche sexuelle Impulse im menschlichen Körper beseitigen; Sexualität hielt Dr. Kellogg für die Ursache aller geistigen und leiblichen Übel. Ich trank wieder vom Kaffee, als mir plötzlich dieser Fleck rechts oben auf der Buchseite auffiel. Erst schenkte ich ihm keine Beachtung, wollte schon umblättern, aber er kam mir seltsam vor, dieser Fleck; ich kratzte an ihm herum, aber er ließ sich weder entfernen noch verwischen. Das Papier fühlte sich glatt an. Es war ein schwarzer, kleiner, punktförmiger Fleck, wie Tinte, aber doch anders, obwohl ich mir nicht erklären konnte, wieso.

Maya streckte sich, als sie in die Küche kam. »Ah«, stöhnte sie und fuhr sich durch die Haare. Ich saß am kleinen Küchentisch, gegenüber der Spüle, und aß eine Scheibe Brot, mit dem Buch aufgeschlagen vor mir. Sie trug meinen grauen Oxford-Pulli, der ihr fast bis zu den Knien ging, ansonsten nichts. »Ich liebe Sonntage«, sagte sie, mit dem Blick an mir vorbei, in Richtung Fenster.
»Mhm«, machte ich, lächelte sie an und sah wieder in mein Buch. Sie ging an mir vorbei, fuhr mir durch die Haare, und als ich mich umdrehte, stand sie schon am Fenster; ich sah ihre nackten Beine, ihre nackten Füße. Ihre kastanienbraunen, welligen Haare waren zerzaust. »Was für ein Schnee«, sagte sie und stand am Fenster. Sie sagte: »Sowas hab ich ja noch nie gesehen.«
Ich legte mein Brot auf den Teller und ging auch zum Fenster. »Geht schon die ganze Zeit so«, sagte ich und kaute. Wir schauten hinaus, auf das Viertel und die Baustelle, und dann sagte sie: »Ich liebe Schnee«, und aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie sich zu mir drehte. Ich blickte noch einen Moment aus dem Fenster, und kurz hatte ich das Gefühl, all den Schnee, all die Masse dort draußen auf eine seltsame Art spüren zu können; als sei das ich dort draußen, der sich auf das Viertel legte. Ich drehte mich um zu ihr, fuhr ihr über die Wange. Ich sah die kleine Zahnlücke zwischen ihren Schneidezähnen. Wir lächelten uns an, und dann küsste ich sie.

Später saßen wir wieder am Küchentisch und aßen Fleischspieße mit Pellkartoffeln. Sie hatte sich die Haare zum Zopf gebunden, trug noch immer meinen Pulli, und mein Buch lag geschlossen neben der Wasserkaraffe.
»Du hast da was«, sagte ich, sah sie an und tippte mir leicht an die Stirn, an einer Stelle über meinem rechten Auge.
»Hier?«
»Weiter links«, sagte ich.
Sie kratzte sich und sah auf ihre Fingerspitze. »Ich spür nichts«, sagte sie. Ich kniff die Augen zusammen und beugte mich über den Tisch. Ich fuhr ihr mit dem Daumen über die Stelle: ein schwarzer, kreisrunder Fleck; – größer als der in meinem Buch, aber immer noch winzig.
»Jetzt mach mir keine Angst«, sagte sie, setzte sich steif zurück in den Stuhl, warf mir einen Blick zu, stand auf und lief hinaus. Ich hörte sie ins Bad gehen, das Licht über dem Spiegel einschalten. Als sie wieder in die Küche kam, fuhr sie sich über die Stelle an der Stirn und schaute dabei nachdenklich auf den Linoleumboden. Schließlich hob sie ihren Blick zu mir und sagte: »Also ich seh da nichts.« Sie setzte sich wieder und schaute mich an, und ich blickte auf ihre Stirn und dann in ihre Augen.

Nachts hörte ich sie wieder atmen. Das Fenster war gekippt und die Heizung aufgedreht. Sie lag mit der Decke umschlungen neben mir, und draußen sah ich den Schnee fallen. In den Nachrichten kursierte der Begriff »Sibirische Kältefront«. Ich dachte an mein Buch und an Dr. Kellogg, dann an das Fenster in der Küche, und wie wir dort gestanden waren und uns geküsst hatten. Wir waren seit drei Jahren ein Paar. Vor acht Monaten zog sie bei mir ein. Ich war nie woanders gewesen; ich zog mit Anfang zwanzig in diese Stadt. Ich hatte das Studium beendet, und dann die Doktoranden-Stelle angeboten bekommen. Man empfahl mir, die Doktoranden-Stelle anzunehmen, und wir waren erst seit kurzem zusammengezogen. Ich interessierte mich für mittelalterliche Geschichte, und ich liebte meine Freundin. Man hatte mich acht Wochen krankgeschrieben. Es war mir unangenehm gewesen, acht Wochen krankgeschrieben worden zu sein; ich wollte es nicht, aber die Universitäts-Leitung ließ nicht mit sich reden. Sie sagten, ich solle jemanden aufsuchen. Meine Freundin sagte, ich solle jemanden aufsuchen. Ich fuhr mir übers Gesicht und wälzte mich hin und her, legte mich auf den Rücken und schaute hinaus aus dem Fenster, auf einzelne, dicke Schneeflocken, die unter dem Licht der Straßenlaterne vorbeizogen. Ein Auto fuhr vorbei, langsam und knarzend wälzte es sich durch den Schnee. Ich schaltete die kleine Lampe auf meinem Nachttisch an, und dann drehte ich mich rüber zu ihr. Sie lag mit dem Gesicht zu mir, mit der Decke eingerollt in ihren Armen. Ich beugte mich näher zu ihr, sah auf den Fleck und versuchte mich daran zu erinnern, wie groß er am Nachmittag gewesen war. Ich schob mein Gesicht ganz nah an ihres, und es war komisch: Ich hatte das Gefühl, dass sich dort etwas bewegen würde, in dem Fleck auf ihrer Stirn; ich hatte das Gefühl, dass er außen dunkler wäre als innen, und dass im Zentrum irgendeine Art von Bewegung stattfinden würde.

Als ich aufwachte, war sie schon aus der Wohnung. Sie war gerade fünfundzwanzig geworden und in den letzten Zügen ihres Studiums. Sie studierte Innenarchitektur, und manchmal erzählte sie mir, was sie taten, aber immer war mir, als könne ich ihr nicht ganz folgen, als fehlten wichtige Wortgruppen in ihren Sätzen, die erst den Sinn ihrer Aussagen vervollständigt hätten. Den Winter über arbeitete sie halbtags in einem Büro, und sie planten Ausstellungen, Messen und die Innenräume von Krankenstationen. Manchmal erzählte sie mir davon und schickte mir Fotos, aber selten erzählte ich ihr von meiner Dissertation. Ich erzählte allgemein selten Leuten von meiner Dissertation, und oft legte ich in meinem kleinen Büro die Füße auf den Tisch, lehnte mich in meinen Drehstuhl zurück und schloss die Augen. Ich hatte sie auf einer WG-Feier kennengelernt, weil ich als einziger abseits auf einer Couch gesessen war und die Leute beobachtete hatte. Als sie mich ansprach, war mein erster Gedanke, dass sie ein viel zu hübsches Mädchen sei, und mein zweiter, dass ich nicht wüsste, was ich mit einem solchen Mädchen reden könnte. Sie nannte mich »mein Träumer«, und oft bemerkte ich, wie sie mich beobachtete, wenn ich in meinem Sessel saß, las oder aus dem Fenster schaute. In solchen Momenten lag da etwas in ihrem Blick; als ob sie etwas in mir erkennen könnte, das nur sie in mir erkannte, und das womöglich nicht einmal ich selbst in mir sah. Ich liebte sie, und außer ein paar kleinen Streitereien konnte ich mich an nichts Negatives erinnern, was wir durchgemacht hätten; aber ich musste auch an das Fenster denken, und wie wir beide dort gestanden waren und auf den Schnee geblickt hatten.

Ich duschte lange und heiß. Ich zog mir meinen Bademantel über und kochte wieder Kaffee und Milch auf. Als ich mein Buch neben der Wasserkaraffe liegen sah, nahm ich es in die Hand und blätterte darin herum, bis ich den Fleck wieder rechts oben auf der Seite entdeckte. Ich hielt das Buch mit der aufgeschlagenen Seite in verschiedenen Winkeln, drückte ein Auge zu und besah es von der Diagonalen. Er war größer geworden, der Fleck, nur um Haaresbreite, aber dennoch war er von einem kleinen Punkt zu einem winzigen Kreis angewachsen; ich hatte das Gefühl, dass der Rand dunkler wäre als der Rest, und dass sich in der Mitte irgendetwas bewegte. Ich besah das Blatt von der Rückseite. Ich fuhr mit dem Finger über den Fleck, ließ ihn einen Moment darauf liegen. Er war etwas wärmer als der Rest des Blattes, und ich hatte das Gefühl, eine leichte Bewegung unter meiner Fingerkuppe zu spüren.

Ich setzte mich im Bademantel in meinen Sessel, trank von meinem Kaffee und schlug mein Buch auf. Ich las ein paar Sätze, konnte mich aber nicht auf den Text konzentrieren. Ich blätterte zurück zu dem Fleck, die Seite hatte ich oben rechts mit einem kleinen Eselsohr markiert. Aus dem Augenwinkel sah ich draußen wieder Schnee fallen, in dicken Flocken, ganz gleichmäßig und träge, unter einer grau-weißen, nässlich wirkenden Wolkendecke. Ich hielt ein Auge so nah an den schwarzen Fleck oder Kreis, dass meine Wimpern das Papier berührten, das andere drückte ich zu. Im Inneren des Kreises sah ich – wie in einem kleinen TV – weißen Schnee fallen, und ich sah das Küchenfenster, und wie wir davor standen und nach draußen blickten. Ich zog mein Auge weg von dem Buch, klappte es zu und atmete tief ein und aus. Ich spürte mein Herz stark in meiner Brust schlagen, aber auf einer seltsamen Art war ich innerlich ganz ruhig.

Ich ging ins Schlafzimmer, immer noch mit dem starken Schlag meines Herzens in der Brust, und zog die Schubladen unseres Kleiderschrankes auf. Ich nahm mir Socken, Unterwäsche und ein T-Shirt aus meinem Fach. Ich hängte den Bademantel über den Wäscheständer, zog mich an und sah dann auf unser ungemachtes Bett. Ich hatte so ein Gefühl; – aber was war hier schon ein Gefühl? Ich zog die Bettdecke von ihrer Seite der Matratze. Ich sah den schwarzen Fleck auf dem Laken, wie ein öliger, geometrisch korrekter Kreis, auf der Höhe, auf der sie mit ihrer Stirn geschlafen hatte. War er auch schon da gewesen, als ich aufgewacht war? Ich kniete mich auf die Matratze und sah in den Kreis; er hatte ungefähr den Durchmesser des kleinen Topfes, mit dem ich mir immer meine Milch aufkochte. Der äußere Rand des Kreises war schwarz, die Mitte war heller, mit orangenen und weißen Farbtupfen, die sich bewegten. Ich spürte mein Herz schlagen, aber ansonsten war ich seltsam ruhig. Ich ging mit dem Gesicht näher an den Kreis. Ich erkannte unser Schlafzimmer in dem Kreis, und wie wir nachts im Bett lagen, und wie der Schnee am Fenster vorbeizog, das Orange der Straßenlaterne leicht hereinbrach. Ich sah mich in dem Kreis, wie ich mich hin und her wälzte, im Bett, und wie sie neben mir lag und schlief.

Ich sprang vom Bett und lief den Gang entlang. Ich fuhr mir durch die Haare. Ich ging in die Küche, nahm mir ein Glas, hielt es unter den Wasserhahn und trank ein paar kräftige Schlücke. Ich fragte mich, was nicht mit mir stimmte, aber ich fühlte mich seltsam ruhig. Draußen fiel der Schnee. Der Kühlschrank brummte. Meine Füße waren kalt auf dem Linoleumboden. Ich ging ins Schlafzimmer, sah noch einen Augenblick in den Kreis, sah Maya und mich dort in der Dunkelheit im Bett liegen, dann zog ich das Bettlaken von der Matratze, zerknüllte es und warf es auf den Boden. Ich sah die dunkle Stelle im Stoff wie in das Laken eingezogene, schwarze Tinte, aber nichts bewegte sich mehr dort.

Sie pfiff zweimal, als sie durch die Wohnungstür eintrat, so wie sie es immer tat. Ich stand in der Küche am Herd und briet tiefgefrorene Seelachsfilets. Sie kratzte noch einmal mit den Fingernägeln an die Küchentür, bevor sie hereinkam. Die Dunstabzugshaube war auf Stufe 4 und hatte den Geräuschpegel eines Staubsaugers.
»Hey«, sagte sie, und ich sah sie kurz an und dann sofort wieder weg. Ich stocherte mit dem Holzlöffel in der Pfanne herum, dann schaute ich wieder zu ihr. Sie lächelte mich unsicher an und ich sah den kreisrunden Fleck groß wie ein Zwei-Euro-Stück auf ihrer Stirn wie ein seltsames, drittes Auge. Ich sah, dass sich dort irgendetwas Helles bewegte, in dem Kreis, als ob man in einen winzig kleinen TV sehen würde.

»Du bist komisch«, sagte sie. Sie hatte sich einen weiten, weinroten Pulli übergezogen und saß mit einem Fuß unter dem Oberschenkel mir gegenüber am Küchentisch. Ich tröpfelte eine halbierte Zitrone über meinen Fisch, dann schüttelte ich den Kopf, sah sie an und sagte: »Wieso?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie, mit Gabel und Messer in der Hand und schaute mich an. »Du bist so still«, sagte sie. Ich versuchte nicht auf ihre Stirn zu sehen. Ich war mir nicht sicher, was sich dort in dem Kreis bewegte, was man dort sehen konnte, aber ich wollte sie nicht unnötig beunruhigen.

Abends schlief sie ein, lange bevor der Film endete. Ich hatte den Film ausgewählt, und er war ein Cop-Film aus den Neunzigern, ähnlich wie Lethal Weapon, aber ich konnte mir den Titel nicht merken. Sie lag mit dem Rücken zu mir, und das Fernsehbild flackerte auf ihr, und ich sah ihre kastanienbraunen, welligen Haare, ihren Hinterkopf, das Heben und Senken ihres Körpers. Kurz vor Ende des Films stand ich vorsichtig auf. Ich lief um das Bett. Als ich vor ihr stand, sah ich den Kreis oder Fleck wieder, und beinahe ihre komplette Gesichtshälfte war mit ihm bedeckt. Sie schlief und sie atmete ein und aus, mit der Decke wieder in ihren Armen, und aus dem Fernseher schallten Pistolenschüsse und quietschende Reifen. Ich schaute nur kurz in ihr Gesicht. Mein Herz begann wieder stark zu schlagen. Der Kreis leuchtete hell und ich wollte nicht sehen, was ich darin erkennen würde.

Ich lief ins Bad, schloss ab und schaltete das kleine Licht über dem Spiegel an. Ich schaufelte mir ein paar Handvoll Wasser ins Gesicht, streifte es mir in die Haare. Ich blickte mich im Spiegel an, dann drehte ich mich zur Waschmaschine und zog das Bettlaken aus der Trommel. Ich breitete das Bettlaken auf dem Fußboden aus und sah den riesigen, schwarz umrandeten Kreis, der jetzt beinahe das komplette Tuch überspannte. In dem Kreis sah ich mich, wie ich in einer meiner quellenkundlichen Seminare am Dozenten-Pult lehnte, die Arme verschränkt hielt und redete. Ich sah den Seminarraum, die Tische, die vereinzelten Studenten auf ihren Smartphones herumdrücken oder mich anblicken. Ich sah, dass ich dort am Pult stand und redete, aber ich hörte nichts davon, als ob jemand den Ton abgeschaltet hätte. Ich stand da und sah hinunter in den riesigen Kreis auf dem ausgebreiteten Bettlaken auf dem Bad-Boden. Ich weiß nicht, wieso, aber plötzlich versuchte ich, mich mit dem Fuß in den Kreis zu stellen, und erschrak, als ich dort keinen Boden mehr fühlte, sondern hinabzusteigen schien. Die Studenten und ich in dem Kreis starrten jetzt regungslos in meine Richtung, als ob sie etwas aus der Ecke des Raumes, aus der ich sie zu beobachten schien, gehört oder gesehen hätten. Ich hob das Bettlaken auf und hängte es so über den Schrank, dass ich mich und die Klasse direkt vor mir sah. Ich dachte kurz nach, und dann schob ich meine Hand in den Kreis, und wieder starrten meine Studenten und ich in meine Richtung. Ich zog meine Hand zurück und begutachtete meine Finger und Handfläche. Ich wartete einen kurzen Moment und sah, wie ich mich in dem Kreis wieder meinen Studenten zuwendete, wie ich weitererzählte und mich umdrehte und nach einem Blatt auf dem Pult griff.
Dann bückte ich mich und stieg vom Bad durch den Kreis. Mein Herz schlug wieder stark, aber innerlich war ich seltsam ruhig. Ich kam im Seminarraum an, und als ich mich umdrehte, sah ich den großen Kreis hinter mir, und auf der anderen Seite des Loches die Badewanne und den Duschvorhang und das Waschbecken. Als ich mich zurück in den Seminarraum drehte, starrten mich die Studenten und mein anderes, am Dozenten-Pult gelehntes Ich, wieder an; nicht aufgeregt oder erschrocken, sondern wie man jemanden anstarrt, dessen Handy im Kurs klingelt oder dessen Wasserflasche ungünstig umkippt.
Ich sah meinem anderen Ich dort am Pult in die Augen, und das andere Ich sah mir in die Augen. Dann begann mein anderes Ich wieder zu referieren, und ich erinnerte mich an die Sitzung, es ging um christliche Mohammed-Viten im zwölften Jahrhundert, und wie die Übersetzerschule von Toledo diese prägte. Es musste ein paar Wochen vor dem gewesen sein, was die Universitäts-Leitung »meinen Anfall« nannte. Ich sah mich dort stehen und den Kurs halten. Ich sah das große Mädchen mit der Brille und dem Kopftuch in der ersten Reihe sitzen, und den verschlafenen Jungen mit dem Kapuzen-Pulli in der letzten Reihe auf sein Smartphone tippen. Niemand schien sich für mich zu interessieren. Ich hörte immer noch nichts, als ob man mir die Ohren mit Wachs versiegelt hätte. Mein anderes Ich ging jetzt um das Pult herum, klickte im Stehen an seinem Laptop und eine Landkarte des Königreichs von Kastilien erschien auf der Leinwand hinter ihm.

Ich sah, wie mein anderes Ich die Sitzung beendete, und ich stand automatisch mit den Studenten von meinem Platz auf. Mein anderes Ich sah kurz fragend zu mir. Die Sonne brach seltsam orange durch die Fenster herein. Alles schien in einem seltsamen, orangenen Licht. Draußen lag kein Schnee, ich hörte keinen Ton.
Mein anderes Ich winkte mich zu sich ans Pult, er saß dort noch auf dem Stuhl und packte den Laptop und seine Unterlagen in seinen Koffer. Er sagte etwas zu mir, lächelte kurz und stand schließlich mir zunickend auf, mit dem Koffer in der Hand.
Wir nahmen den Weg zu dem kleinen Café schräg gegenüber meiner Fakultät, in dem ich nach den Kursen immer Milchkaffee trank, die Stille genoss und aus dem Fenster dem Treiben auf der Straße folgte. Das andere Ich ging zügig neben mir, redete währenddessen ein paar Sätze, sah mich lächelnd und abwägend dabei an, mit dem Koffer in der Hand. Ich ging in Socken, aber niemand schien sich daran zu stören. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals jemanden mit in mein Café genommen zu haben. Nirgends lag Schnee.
Die Kellnerin kam und nahm unsere Bestellung auf, dann saßen wir schweigend ganz hinten an meinem Tisch. Mein anderes Ich blickte aus dem Fenster, so wie ich es immer tat, mit den Ellbogen abstützend auf dem Tisch und den Händen gefaltet. Ich sah die Müdigkeit und das Bedürfnis zu schweigen im Gesicht des anderen Ichs. Das Lächeln und das Reden von vorhin kam mir wie etwas vor, das nicht zu ihm gehörte. Da war ein seltsam komischer Blick in seinen Augen, aber es war nicht die Müdigkeit.
Plötzlich sah mir das andere Ich prüfend in die Augen.
»Du hast da was«, sagte er und beugte sich skeptisch ein klein wenig über den Tisch zu mir, den Blick noch auf mein rechtes Auge fokussiert. Natürlich erschrak ich, seine Stimme zu hören. Ich hörte jetzt auch das Klappern von Tassen hinter dem Tresen und die Autos und Menschenstimmen dort draußen auf der Straße.
»Was?«, sagte ich und spürte meine Hände feucht werden.

Orange bricht das Licht der Straßenlaterne durch das Fenster ins Schlafzimmer, und ich fahre mir übers Gesicht, wälze mich hin und her. Einzelne, dicke Schneeflocken ziehen dort draußen vorbei. Ein Auto wälzt sich langsam und knarzend durch den Schnee. Ich drehe mich rüber zu ihr. Maya liegt mit dem Gesicht zu mir, die Decke eingerollt zwischen ihren Armen, ihr Geist in einer anderen Welt; vielleicht eine Welt, die nur sie ist, die nur aus ihr besteht. Ihr Gesicht vom Kinn bis zum Haaransatz von einem einzigen, großen Kreis überzogen. In dem Kreis, wie in einem TV, sehe ich sie, wie sie mit ihren dicken Stiefeln und dem Wintermantel durch den schienbeinhohen Schnee vor unserem Haus stapft. Sie lächelt und zieht sich kopfschüttelnd die Mütze gerade. All der dicke, tiefhängende Wolkenhimmel über ihr in einem seltsamen Gelb. All der Schnee dort draußen, vor meinem Fenster, und ich fahre mir übers Gesicht, wälze mich von einer Seite auf die andere.

 
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Aaaargh :sicko:, was bin ich denn für ein Dussel?! :D Nein, das Problem kommt daher, dass ich - weil ich so drin war - deinen Text komplett wie im Präsens gelesen hatte, also hatte die Vergangenheit ignoriert und daher am Ende einfach in einem Rutsch weitergelesen. Das Präteritum ist mir erst aufgefallen, als ich Teile für den Komm rauskopiert habe.

Klar, die Frage, was mit dem Prot passiert und wie viel Zeit vergangen ist (das können nur max. wenige Tage sein), entfällt damit natürlich komplett.

Die Sache mit den Ebenen und die Frage mit der Sinnhaftigkeit des Prät bleibt aber bestehen - warum wird die Erzählzeit unterbrochen? (Das musst du jetzt nicht beantworten, ich will dich nicht zwingen, den Text zu erklären - das sollte ich allein rausfinden.)
Momentan sieht es für mich aus wie dramatisches Präsens, aber möglicherweise stehe ich ja nur ganz massiv auf dem Schlauch, und erkenne einfach nicht den Dreh, der den Wechsel nötig machen würde ... Falls es da aber nichts zu erkennen gibt, sondern es ist mehr eine spontane Bauchentscheidung gewesen, würde ich immer noch zu einer einheitlichen Erzählung im Präsens raten. Fazit: Ich lese das nochmal alles mit einem neuen Blick durch.

Mal sehen, wie andere Leser das sehen, ich wär echt neugierig.

Jetzt stehe ich hier einfach als Beispiel dafür, was passiert, wenn der Leser quasi mit dem Text abhaut - nimm es bitte nicht als Nachlässigkeit, sondern als Kompliment, dass mich die story mitgerissen hat und mit mir durchgegangen ist.

EDIT: Ich hab den Text noch 2x gelesen und spontan erkenne ich keinen Grund für den Zeitenwechsel, da mag ich ja noch hintersteigen. :shy: Allerdings, schlag mich ...

»Was?«, sagte ich und spürte meine Hände feucht werden. Ich musste an den Anfall denken, er war ohne Vorwarnung gekommen. Ich war vor dem Pult gestanden, als ich plötzlich stockte und in die Knie ging. Da war mit einem Mal all die Schwere in mir. Ich sagte einige Sekunden lang nichts, starrte auf meine Schuhe und hörte die Stimmen der Studenten. Ich legte mein Gesicht in meine Hände und spürte mein Kinn beben. Stühlerücken, aber als hätte ich Watte in den Ohren. Ich wusste nicht, wie lange ich so dort saß. Ich hatte noch nie so geheult. Nach einiger Zeit sagte ich: »Herrgott, warum hilfst du mir nicht?«
Ist das Kursive hier nicht Vorvergangenheit - ein Rückblick im Rückblick? Müsste das nicht im Plusquamperfekt? Oder soll das auf gleicher Zeitebene sein, wie das Gespräch? Ich will beim besten Willen nicht überpenibel werden, sondern will einfach nur hinter die Erzählzeiten kommen - also, ich will den Text auch in deinem Sinne, und nicht nur in meinem verstehen können.

Zerknirschte Grüße,
:kaffee: Katla

 

Liebe @Katla,

Aaaargh :sicko:, was bin ich denn für ein Dussel?! :D Nein, das Problem kommt daher, dass ich - weil ich so drin war - deinen Text komplett wie im Präsens gelesen hatte, also hatte die Vergangenheit ignoriert und daher am Ende einfach in einem Rutsch weitergelesen. Das Präteritum ist mir erst aufgefallen, als ich Teile für den Komm rauskopiert habe.
Kein Problem! :D

Die Sache mit den Ebenen und die Frage mit der Sinnhaftigkeit des Prät bleibt aber bestehen - warum wird die Erzählzeit unterbrochen? (Das musst du jetzt nicht beantworten, ich will dich nicht zwingen, den Text zu erklären - das sollte ich allein rausfinden.)
Momentan sieht es für mich aus wie dramatisches Präsens, aber möglicherweise stehe ich ja nur ganz massiv auf dem Schlauch, und erkenne einfach nicht den Dreh, der den Wechsel nötig machen würde ... Falls es da aber nichts zu erkennen gibt, sondern es ist mehr eine spontane Bauchentscheidung gewesen, würde ich immer noch zu einer einheitlichen Erzählung im Präsens raten. Fazit: Ich lese das nochmal alles mit einem neuen Blick durch.
Das sind auf jeden Fall alles sehr interessante und gute Fragen, die du stellst, Katla. Schwierig auch für mich natürlich, sie zu beantworten (das hast du ja schon selbst gemerkt! :D) ... ich werde auf jeden Fall mal einen Versuch starten, das Teil im Präsens zu schreiben und schauen, wie es wirkt, ob dann im Bezug auf Erzählzeit usw. eventuell ein anderes, besseres Feeling aufkommt. Merci!

Jetzt stehe ich hier einfach als Beispiel dafür, was passiert, wenn der Leser quasi mit dem Text abhaut - nimm es bitte nicht als Nachlässigkeit, sondern als Kompliment, dass mich die story mitgerissen hat und mit mir durchgegangen ist.
Danke - das freut mich natürlich sehr!

Ist das Kursive hier nicht Vorvergangenheit - ein Rückblick im Rückblick? Müsste das nicht im Plusquamperfekt? Oder soll das auf gleicher Zeitebene sein, wie das Gespräch? Ich will beim besten Willen nicht überpenibel werden, sondern will einfach nur hinter die Erzählzeiten kommen - also, ich will den Text auch in deinem Sinne, und nicht nur in meinem verstehen können.
Ähm - ja eigentlich Vorvergangenheit! Allerdings - und da ist mir wohl der Gaul durchgegangen :D - ist der Prot ja schon sehr wirr; und ich fand das beim Lesen cool, auch keinen Absatz reinzuschieben, sondern diesen "Rückblick" unsauber bzw. schwammig mit in die Geschichte, in die Szene zu schieben. Ich dachte, das würde evtl. einen geilen Effekt haben, auf den Leser, dass man diese Wirrheit ein wenig spürt - ja :D Keine Ahnung, ob ich das too much war!

Ich danke dir jedenfalls für deine erneute Antwort und für das zig-malige Lesen + Kompliment!

Gruß in den Norden!
zigga

 

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