Was ist neu

Schmidt empfiehlt sich

Mitglied
Beitritt
02.11.2001
Beiträge
730

Schmidt empfiehlt sich

,Sprechen sie, sage ich ihnen. Sie werden sprechen.
Schmidt, sie müssen es.
Wir haben Methoden und wir haben Räume ohne Sonne.
Die Sonne, Schmidt. Wollen sie die wiedersehen?'
Ein Sessel aus Holz. Der Tisch ebenso. Eine Tür, die aufgeht. Kaffeegeruch dann. Das Geräusch eines Löffels, der auf Keramik trifft.
Pling, pling, pling.
Das Schlürfen dicht am rechten Ohr von Heinrich Schmidt. Der Stoff der Augenbinde schabt am Nasenrücken. Getränkt vom Schweiß.
Blut. Am Boden, überall.
Schmidt's Hemd ist aufgerissen von den Schlägen der Hundepeitsche.
Heinrich Schmidt sitzt hier und wartet. Mit ihm wartet ein Kommissar. Auf Worte von Schmidt.
Das Fenster ist offen, die Luft der Nacht fällt in den Raum. Sterne blinken in der Stratosphäre.
,Wir spielen das Spiel auch Tage, wenn sie es denn so wollen, Schmidt.'
Der Kommissar spricht langsam, hat nichts zu verlieren.
Schmidt hat alles verloren.
Schmidt wartet auf das Zischen der Hundepeitsche während seiner Wachphasen.
,Sagen sie uns Namen. Reden sie, Schmidt.'
Die Geduld eines Folterknechtes. Der Vertreter eines Rechtes, das schon lange außer Kraft gesetzt ist. Von den Mächtigen, die keine Wahl abzuwarten brauchten, die gleich der ganzen Welt den Krieg erklärt haben und sich dafür nicht erklären mussten.
,Gut, Schmidt. Ich erzähle ihnen etwas.
Schienenstränge spannen sich bis Polen. Wir wollen die saubere Lösung, Schmidt. Denken sie an den Zug, der, warten sie, ja, gerade in diesem Moment das Lager erreicht. Mit einer Frau und zwei Kindern, die ihren Namen tragen, Schmidt.
Wir finden eine Lösung, Schmidt, wenn sie uns Namen sagen, Adressen, alles das, was sie wissen.'
Jetzt wieder das Zischen.
Der Schmerz. Schmidt hustet Blut. Das Keuchen des Kommissars. Eine gemeinsame Anstrengung, dem hier ein Ende zu machen.
Schmidt weint. Das also ist der Abschied von allem. Seine beiden Kinder haben blondes Haar und wenn er mit seiner Frau ein Restaurant betrat, hatte sie alle Blicke auf sich gerichtet. Er zwingt sich, nur daran zu denken.
Vor Stunden haben sie ihm die Mittelknochen der Finger gebrochen. Einzeln, zwischen den Schlägen auf die Ohren.
Schmidt ist Arzt und weiß, dass es nicht mehr lange dauern wird.
Der Kommissar war früher Handelsvertreter und sein Patient. Jetzt hat er die Hundepeitsche als sein liebstes Spielzeug entdeckt.
Drei, vier Hiebe noch, bitte, Gott.
Es dauert nicht so lange.
Als der zweite Hieb die Schädeldecke Schmidts zertrümmert, empfiehlt sich dieser.

 

guten morgen aqualung. ich bin zwiegespalten nach dem lesen deiner geschichte. das thema ist uralt und wurde schon tausendmal erzählt. du erzählst es gut und spannend - das gespannte warten auf die peitsche und dann der schon fast erlösende schlag - beides kommt glasklar rüber. aber irgendwie ist diese geschichte keine aqualung-geschichte. thema und brutalität des inhaltes passen nicht zu deinen anderen geschichten.

vielleicht solltest du noch unter einem anderen pseudonym schreiben, um glaubhafter zu bleiben??

eine kleinigkeit:

Ein Sessel aus Holz.
ich denke hier handelt es sich eher um einen sehr einfachen stuhl, sogar einen hocker - jedenfalls nicht um einen sessel (der bequemlichkeit suggeriert).


liebe grüße.
ernst

 

noch was vergessen: der folterknecht war früher handelsvertreter. frage: haben handelsvertreter die phantasie für so einen text:

Schienenstränge spannen sich bis Polen. Wir wollen die saubere Lösung, Schmidt. Denken sie an den Zug, der, warten sie, ja, gerade in diesem Moment das Lager erreicht. Mit einer Frau und zwei Kindern, die ihren Namen tragen, Schmidt
- ich bezweifle es. ernst

 

Danke, Ernst, für deine blitzschnelle Kritik.
Ich hoffe, nicht meine Glaubhaftigkeit zu verlieren, weil dieses Thema und die Brutalität keine "Aqualung - Geschichte" ist. Gerade um das "Typische" nicht Alltag werden zu lassen, bemühe ich mich um Ausgleich. Diese Geschichte birgt ein uraltes Thema. Ausbeuter und Ausgebeutete. Verfolger und Verfolgte. Ich habe konsequent die nochmalige Reduktion versucht. Die Brutalität, die auch in anderen Geschichten steckt (zB.,Ich liebe dich' oder ,Ein Tag im März') reduziert sich hier auf die Person von Schmidt. Doch Schmidt gewinnt schlussendlich und der Tod wird zum Sieger.

Mit der Macht in Händen wird auch das gesprochene Wort geläufiger, sicherer gerichtet. Ein Handelsvertreter muss Waren anpreisen, einen Vertragsabschluss sicherstellen. Nichts anderes macht nun der Kommissar. Er bietet ein Geschäft an.
Nur hier scheitert er, trotz der Peitsche.

Liebe Grüße an dich - Aqualung

 

Morgen Aqualung,

ausgezeichneter Sprachstil und Inhalt, auf der einen Seite Schmidt – der sich keinerlei Illusionen über seine Zukunft macht, auf der anderen Seite der Kommissar, der seine Rolle als Herr über Leben und Tod genießt. Das glaube ich zumindest, weil du ja schreibst, dass die Hundepeitsche sein liebstes Spielzeug ist.

Eines jedoch verstehe ich nicht, der Kommissar wollte doch Namen haben, wieso bringt er Schmidt um, bevor er diese aus ihm herausgefoltert hat? Ist der Kommissar in einen Blutrausch verfallen?

@ Ernst

Das mit dem Pseudonym ist mir nicht klar. Wieso wirkt ein Autor unglaubhafter, wenn er mal von seiner üblichen Schreibe abweicht? Gerade das ist ja ein interessantes Feld. Und wieso sollte ein Handelsvertreter die oben erwähnte Aussage nicht tätigen können? Wie kommst du zu dieser Annahme? :confused:

Grüße!

 

hallo liz und aqualung,
vielleicht habt ihr beide recht. wir sind ja alle auf der suche nach unserem stil und sollten uns nicht festlegen - im umkehrschluß: also alles probieren. war zu engstirnig von mir.

ich habe von einem typischen handelsvertreter einfach ein anderes bild: die sind nicht sehr kreativ. die würden, glaube ich so eine frage viel direkter, viel plumper stellen. beste grüße. ernst

 

Hi Liz,

danke für deine Kritik. Genau das ist es. Macht in den Händen solcher, die die Kontrolle verlieren. Du sagst Blutrausch dazu. Schmidt "entwischt" dem Kommissar, muss nichts mehr sagen.
Vielleicht kennt der Kommissar bereits weitere Namen und er foltert Schmidt aus anderen Gründen bis in den Tod. War Schmidts Arzthonorar zu hoch, damals, für einen kleinen Handelsvertreter?
Es gibt viele Ansätze, alle scheinen richtig.

Liebe Grüße - Aqualung

 

Hi Ernst Clemens,
Stühle heißen in Österreich "Sessel", das ist mir neulich in einem tollen Buch einer Österreicherin aufgefallen. Kann man sich gut daran gewöhnen, ebenso an andere Wörter wie Strotter usw. Im Schweizerdeutsch gibt es auch ein paar Varianten.
Hi Aqualung,
gute Geschichte, obwohl sie, zum Glück, vor langer Zeit passiert ein kann. Der "Sessel" deutet darauf hin, dass du Österreicher bist.
Grüße von Emma

 

Hi Emma,

danke auch dir für das Lesen meiner Geschichte.
Ich lebe und arbeite in Wien, sitze im Moment auf meinem Sessel im Büro und die Arbeit scheint manchmal wie eine Folterung zu sein.

Liebe Grüße - Aqualung

 

@ Emma

Ich denke, dass die Geschichte sehr zeitgemäß ist. Man muss sich nur die Berichte von "Amnesty International" zu Gemüte führen. Weltweit kommen solche Dinge Tag für Tag vor. Es ist ein Jammer.

 

Hi Liz,
ich glaube, ich habe von einem "Lager in Polen" gelesen und deshalb die Geschichte 58-60 Jahre zurückdatiert (1942-1944).
Natürlich, Amnesty International, Nigeria, Afghanistan ...(jibbet allet, weeß ick) Aber Frau und Kinder von Schmidt sind blond, da habe ich gleich die nordische Sowieso assoziiert.

Inzwischen können wir aber auch eine psychologische Interpretation ins Auge fassen. Da sitzt ein Mensch (auf einem Sessel) in Wien am Schreibtisch und fühlt sich gefoltert. Wir können ihn trösten: Kafka war auch so einer. Deshalb müssen wir uns über den "Schmidt" nicht wundern.
Grüße von Emma

 

Danke, Emma, danke,

der Tag heute ist damit schon ein viel besserer. Vielleicht bald die große Verwandlung?
Ich merke, du verstehst mich.
Übrigens gabs nicht ein Lager, sondern deren viele.
Und nicht am, sondern beim Schreibtisch, Emma.

Liebe Grüße - Aqualung

 

Hi Aqualung,
richtig! Sobibor, Maydanek, Treblinka, Auschwitz, das fünfte Vernichtungslager habe ich im Moment nicht parat. Kommen noch tausende Nebenlager, Arbeitslager und Ghettos dazu.
Schmidts Frau und Kinder aber sind wahrscheinlich in ein einziges Lager gekommen. Dass die Nazis sie in verschiedene Lager geschickt haben könnten, habe ich noch nirgends gelesen. Trennung eventuell nach der Ankunft des Zuges.

KG.de bildet!
Österreich: Im Büro, auf dem Sessel, beim Schreibtisch (klingt gemütlich)
Deutschland: Im Büro, auf dem Stuhl, am Schreibtisch
Schweiz? Das kriegen wir auch noch raus.

Hi Ernst Clemens,
die Handelsvertreter, die ich kenne, sind überaus kreativ in ihren Bemühungen, nicht plump und direkt zu wirken. Sie haben ein wenig Psychologie (und Powerpoint) gelernt und würden sich auch als Verhörer adäquat benehmen können, wenn es verlangt wird.
Grüße von Emma

 

hallo emma - bezüglich schweiz kann ich dir gerne helfen (habe so einen komischen roten pass in der tasche). dort heisst es

em büro, uf em stuel, am schriibtesch

das war dialekt aus dem kanton aargau. in anderen kantonen klingt das wieder ganz anders!
gruß
ernst

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Aqualung !

Hier warst du aber wirklich absolut trittfest und ohne jede Irritation unterwegs.

Die harte Sprechweise des Kommissars in Schleimigkeit verpackt, seine Überzeugung am längeren Ast zu sitzen ohne zu bemerken, dass dieser mit gar keinem Baum verwachsen ist, sondern lose in der Gegend herum liegt, sinnlos.

Am Ende des Textes wurde mir ein Satz in der Mitte total bewusst

- Schmidt hat alles verloren -

und genau das hat ihn frei gemacht.
Er floh nicht - er empfahl sich.

Toll, echt stark !

Herzlichsten Gruß an dich - schnee.eule

 

Hallo schne.eule,

mit Bravour hast du Dank deiner Sensibilität alles erkannt. Danke dafür.

Liebe Grüße - Aqualung

 

Schön, daß ich auch mal erfahre, Daß Du eine Geschichte in "Sonstige" hast.

Wenn Du so was noch einmal schreibst, dann lass es mich wissen.

So.

Aqualung, daß ist noch besser als "Ein Tag im März"
Ich kam mir vor, als wäre ich in diesem Zimmer.
Zum erstenmal überhaupt hier, habe ich Textstellen, während des Lesens noch einmal gelesen, obwohl ich sie schon längst verstanden habe.
Ich habe sogar eine physiologische Reaktion bei mir gespürt (Erhöhung der Herzrate)

Aqualung, daß war einsame Klasse. Es ist für mich die Nr. 1, von allem was ich bisher las, nicht nur von Deinen Geschichten.

Und jetzt sage ich Dir warum:

Es ist eine Szenen- eine Situationsbeschreibung in einer Extremsituation, gleichzeitig, rein persönlich, schreibst du eine meiner Urängste, auf.
Totale Hilflosigkeite des Deliquenten, dann die quälenden Gedanken an Familie, gleichzeitig der Wunsch zu sterben.
Dazu der erbarmungslose Komissar. Kurzum: Es kam alles rüber, vielleicht hab auch nur ich den Raum gesehen, andere nicht.
Deswegen zumindest für mich die Nr. 1 von allem was ich las.

und noch was . Es ist eine "Aqualung-Geschichte", denn Aqualung hat sie geschrieben.

Ich erspare mir die Smileys, die ich jetzt vergeben würde, die passen hier echt nicht rein.

meine verehrung Stefan

 

Hei Aqua,
ich bin noch einmal zurückgekommen, ich war grad dabei mein Bett zu reparieren, und frag mich warum ich diese Geschichte so toll finde. Ließ mir keine Ruhe.

Ich habe einen anderen Bewertungsmaßstab.

Warum? Nein, nicht der Schreibstil, nicht die Aussagekraft, oder das Spiel mit Verben und Adjektiven, auch nicht die Originellität des Themas, es ist einzig und allein...

die Stärke meiner Emotion, während des Lesens, die Empfindung, die ich genau in diesem Moment habe, das Versetzen von einem neutralen Gefühlszustand in den positiven Gefühlszustand.

Nach dieser Story denke ich grad, und mal wieder
"Ich scheiß auf alle Kritiker"

Sorry, Stefan

 

Hi Archetyp,

wie soll ich mich für so eine umwerfende Kritik bedanken? Ich mach's einfach: DANKE.
Ich hoffe, du liest weiter die eine oder andere Geschichte von mir, Stefan.

Liebe Grüße - Aqualung

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom