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Schlossstrasse 6

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07.01.2004
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Schlossstrasse 6

Rechts und links neben mir, klaffen tiefe Einschnitte. Bagger und Bauarbeiter haben die Häuser in vielen kleinen Stücken fortgetragen. Der Staub, der dadurch entstand, liegt noch immer überall. Auf den Mülltonnen an der Straße, auf den Blättern der Bäume und auf mir. Vereinzelt liegen Dachziegel im Hinterhof. Schlossstrasse 4 und 8 sind weg.
Erst sind die Leute aus den Häusern gezogen, dann blätterte der Putz und jetzt sind die Häuser weg. Sie waren noch nicht alt, oder störten im Stadtbild. Mir gefielen sie, man konnte keine größeren Schäden sehen und sicher hätte man sie auch entkernen und neu ausbauen können.
Alles was Ihnen fehlte, war ihre Seele. Die Bewohner. Die Menschen mit ihren verschiedenen Charakteren. Ein Haus lebt erst, wenn es von Musik, Stimmen und Geräuschen erfüllt ist. Jedes darin geführte Gespräch, jeder Gedanke nährt es und lässt es leben. All das ist Energie, die, die Seele entstehen lässt.
In einem Glas Wasser ist mehr Leben, als in einem Glas ohne Wasser.
Als die Menschen ausgezogen waren, starb das Haus schnell, wurde grau und matt. Die Dachziegel fielen auf die Strasse und zersprangen und die Fenster verloren ihren Glanz und bekamen Risse.
Mein Herz blutete, als ich sah, wie die Häuser in ihre Einzelteile zerlegt wurden. Mächtige Maschinen zerstörten die Wände, hieben ihre Arme in die Fenster. Zwei Wochen wüteten die Arbeiter.
Doch so, wie es war, war es besser. Die Häuser hatten ihren Zweck, die Bewohner verloren und damit ihre Seele. Ihr Leben.

Letztens ist der Herr Lehmann ausgezogen. Habe es schon vorher gewusst. Seine früh gepackten Kartons drückten gegen meine Wand. Ich hörte, wie er ein Umzugsunternehmen anrief und bekam auch mit, wie er mit einem Bekannten über Wohnungsangebote sprach. Zehn Jahre war er in mir gewesen. Ich sah seine Frau gehen, seine vielen Sofakäufe, die mir die Türen zerschrammten, kommen und nun hatte er mich verlassen.
Zweiter Stock, links, ist heute leer. Lehmannleer.
Es tut weh, ein Teil von mir, ging mit ihm. Fühle mich betrogen und bin neidisch auf das Haus, in dem er jetzt wohnt. Ich habe damit immer noch zu kämpfen. Zweiter Stock, links schmerzt. Da ist keine Energie mehr und so muss ich den Teil gefühlsmäßig abstoßen.
Die Mietinteressenten, die der Vermieter herbeibringt, fühlen die Kälte und sagen, dass sie sich melden werden. Denken tun sie etwas anderes, dass fühle ich genau. Durch die kahlen Räume hallen ihre Schritte und dann wird es wieder ruhig. Totenstille. Die Wohnung Lehmanns bleibt leer.
Meine Versuche, durch ein paar Spinnen wieder Leben in den zweiten Stock zu bringen, misslingen. Die Wohnung ist schon zu lange ohne Energie und nur wenig Spinnen erklärten sich bereit, ihre Netze hier zu legen. Die Spinnen geben mir nun Kraft, den zweiten Stock einigermaßen in Takt zu halten. Niemand würde den schleichenden Zerfall bemerken, aber ich spüre ihn. Der zweite Stock, links zwickt und sticht. Wenn es regnet brennt es ganz fürchterlich. Dann muss ich mich ganz besonders konzentrieren und das Krabbeln der Spinnen einsaugen. Stürmt es, muss ich die Fenster zuhalten. Den Schnee lass ich schnell auftauen, damit der Fenstersims nicht auf die Strasse bricht.
Ich hab immer wieder diese Dachziegel vor Augen. Wie sie, auf der Strasse zerbrechen. Dann kommen ganz schnell die Bagger und Maschinen und tragen die Häuser weg. Das alles hat sich tief in mich hineingebrannt. So etwas vergesse man nicht. Diese Bilder machen mir sehr viel Angst und ich sehe sie jeden Tag.

Die restlichen drei Wohnungen sind bewohnt, dass ist mein Glück.
Ganz unten rechts, wohnt die dicke Bärbel. Wenn sie in den Keller geht, knarren die Treppen und die Ratten verkriechen sich ängstlich. Ich spüre ihre Angst, wie ich alle gefühlten Gefühle spüre. Merke, wie in meinem Körper, die Stufen vibrieren und sie, das Geländer berührt. Ihre warme Hand auf meinem Holz. Das nehme ich gleich auf und verwerte es. Genau wie ihre Vorfreude auf die eingemachten Bohnen, die im Keller ruhen.
Sie wird nicht ausziehen. Eher stirbt sie in diesem Haus. Ihre Mutter wohnte und starb hier und hier verbrachte sie bisher ihr gesamtes Leben. Ihren ersten Freund küsste sie auf dem Dachboden zwischen ausrangierten Möbeln, warf als Kind Spielsachen aus den Fenstern und gebar ein neues Leben im Flur. Ganz unten rechts, ist die meiste Energie zu holen.
Viermal im Jahr feiert sie Feste, was mir extra Energie bringt. Dafür mache ich ihr Heim im Winter besonders warm und im Sommer kühl.
Was mir bei ihr nur dazwischen kommen könnte, wäre ein drittes Kind. Sie hat mal gesagt, dass vergesse ich auch nicht mehr so schnell, dass sie ausziehen würde, wenn sie noch eins bekommt. Das wäre entsetzlich, denn das wäre mein sicheres Todesurteil. Doch sie hat im Moment keinen Freund und so steht die Gefahr aus. Für diesen Moment.
Die zwei Kinder, die sie schon hat, sind richtige Wirbelwinde. Sie sausen durch die Gänge, spielen im Keller verstecken und tuscheln die ganze Nacht. Das eine oder andere Mal beschädigen sie die Klingelknöpfe, oder ritzen Zeichen in die Kellertüren. Doch das sind nur kleine Stiche für mich, die ich mit ihrem jugendlichen Elan wieder ausgleiche.

Neben Bärbel und ihren Kindern, wohnt Jürgen Seeboldt. Das Blöde an ihm, ist, dass er ständig in den Urlaub fliegt. Er kommt zwar mit vielen Eindrücken zurück, die ich gerne in mich fließen lasse, aber die Zeit, in der er nicht da ist, geht an mir nicht unbeschadet vorbei. Im Jahr kann man damit rechnen, dass er zwei Monate verreist. Diese Zeit muss ich einplanen und mit der Bärbelfeierenergie ausgleichen. Das klappt nicht immer und manchmal wird es so knapp, dass er sein Heim kalt und öde vorfindet und dann steht das Mietverhältnis auf der Kippe. Gott sei Dank habe ich es bis jetzt immer noch hinbekommen, dass er bleibt. Habe dann auf bestimmte Dinge sehr viel Energie gegeben. Zum Beispiel auf sein Bett oder seine Couch. Das hat bisher immer geklappt.
Nicht auszudenken, was wäre, wenn er gehen würde. Dann wäre ich zur Hälfte tot. Die Bagger würden an mir vorbeifahren und mir in Gedanken noch zwei Jahre geben und vielleicht hätten sie dann sogar Recht.

Ich will nicht sterben. Miterleben, wie ich zur Hälfte verfaule. Ich bin im Jahre 1915 erbaut worden. Das ist noch nicht viel. Manche Häuser stehen Jahrhunderte. Das will ich auch. Mein Dach ist gedeckt. Kein Regen dringt hindurch und die Blitze leite ich unbeschadet in die Erde. Die Fenster sind dicht, jedenfalls in den drei bewohnten Wohnungen und kein Pilz hat sich in die Tapeten genistet. Da passe ich auf. Das einzige, was mich dahinraffen kann, ist ein Auszug. Besonders von Bärbel.
Mit einem Einzug kann ich leider nicht rechnen. Wer zieht schon in ein Haus, dass so allein steht? Wer zieht in eine kalte Wohnung? Die Menschen werden auch nicht die Spinnen verstehen und es als Verwahrlosung sehen. Dabei ist es alles andere, als das. Es ist Raumpflege, die mich und somit die Wohnung ernährt.

Der Mieter im zweiten Stock, rechts, hat sehr viele Pflanzen. Die geben nicht sehr viel ab, aber ihr Dasein wärmt die Wohnung und ich brauche nicht soviel Wärme geben. Dafür nehmen sie sich aber auch einen Teil der Energie des Mieters. Sie saugen die Empfindungen des Menschen auf. Genau wie ich.
Gut, für mich fällt immer noch etwas ab. Ich hab keine Probleme, diese Wohnung instand zu halten, aber wären die Pflanzen nicht, könnte ich die überschüssige Energie jetzt gut in die leere Lehmannwohnung stecken. Der Mieter ist arbeitslos und seine einzige Aktivität ist fernsehen. Er denkt nicht viel, fühlt noch weniger und manchmal tut er mir richtig leid. Das ist komisch, denn eigentlich ist es so, dass ich nur das fühle, was der Mensch fühlt, aber vielleicht tut er sich selber leid und ich fühle deswegen so.

Gegenüber steht ein dolles Haus. Es glänzt, hat bunte, saubere Schilder am Eingang und die Fenster sind immer blitzblank. Neben den dort wohnenden Familien, hat ein Psychiater seine Praxis hier eingerichtet. Das gibt natürlich sehr viel Emotionen, Gefühle und somit Energie.
Auf mich schaut dieses Haus von oben herab. Wahrscheinlich weiß es nicht einmal, dass es mich gibt.
Uns trennt nicht nur eine Strasse, auf der eine Straßenbahn fährt. Für mich ist es ein Traum, einmal so groß zu sein. Einmal nicht abschätzen müssen, was ich nächsten Monat mit der Energie, den Empfindungen mache. Wo ich sie einsetze. Da drüben gibt es keine einzige Spinne. Nicht einmal leere Wohnungen.

Da kann ich nicht mithalten.

Ich kann nur jeden Tag neu hoffen. Hoffen das die vierte Wohnung besetzt wird. Hoffentlich von einer Großfamilie, denn dann wäre ich fein raus.
Hoffen, dass die Laster, Bagger und Schuttfahrzeuge weiterhin an mir vorbeifahren und hoffen, dass Bärbel keinen Freund bekommt. Wobei die Liebe viel mehr Energie gibt, als die Sehnsucht danach, aber was nutzt das, wenn dann ein Auszug das Resultat ist? Vielleicht kann ich noch ein paar Spinnen überreden, dass sie in den zweiten Stock, links, ziehen. Ich habe ausgerechnet, dass ich 150 Spinnen benötige, um einigermaßen über die Runden zu kommen.
Hoffentlich stehe ich hier nicht falsch. Ganz allein. Und hoffentlich werde auch ich ein Haus, dass die Jahrhunderte überdauert. Wenigstens eines.

Hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich.

 

Hallo Robert,
eine interessante Idee, die Geschichte aus der Sicht des Hauses zu schreiben. Obwohl es ist ja keine Geschichte in dem Sinne, das hier etwas passiert.
Die Stimmung hast du, meiner Meinung nach, gut rübergebracht.
Weiter so. ;)
Gruß Shinji

 

Danke, mich freut es sehr, wenn es dir gefällt.
Dir auch viel weitere Schaffenskraft.

Robert

 

Hallo Robert,
mit der Geschichte hast du gezeigt, dass du poetisch und wortgewandt erzählen kannst. Am Anfang stellt man sich den Ich-Erzähler als Person vor, die auf der Schlosstraße steht. Irgendwann in der Mitte des Textes kommt man dann auf die wahre Identität. Dann wäre es allerdings schön, wenn etwas passieren würde, denn das Rätselraten um den Erzähler, das den Leser bis dahin fesselt, ist vorbei. Vielleicht kommt ja ein potenzieller Mieter und zieht ein. Oder es verlieben sich zwei Personen und ziehen zusammen.

Mit den besten Wünschen für ein produktives neues Jahr
knagorny

 

Hi Robert,

heute ist der Vita-hat-Mitleid-mit-Dingen-Tag ;)
Erst das Regal, und jetzt dein Haus
Wo steht es? Ich will einziehen!

Die Geschichte ist wunderbar geschrieben, aber ich wusste schon, dass es ein Haus ist, als beschrieben wurde, dass die Kartons von Herrn Lehmann gegen die Wand drückten, ätschibätsch ;)

Ach ja, zur Überschrift, wolltest du ausprobieren, wie viele "s" man in ein Wort bekommt? *G*

LG, Vita

 

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