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Schlaf, Kindlein, schlaf nur ein

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19.05.2015
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Schlaf, Kindlein, schlaf nur ein

Der Schlaf verließ mich und ich verbrachte meine Nächte mit Büchern und fremden Gedanken. Die Tage versanken in Ödnis. Selbst eine neue Frisur half nichts. Dann tauchte er aus dem Nebel auf. Alles war anders an Paul, ich konnte ihn nicht berechnen, er antwortete, bevor ich etwas fragte, erstaunte mich, zog mich an und brachte die Träume zurück. Er erzählte begeistert von einem Schmetterlingsschwarm, den er in Südamerika gesehen hatte, und im nächsten Moment von der Verbindung zu Gott, die er in jeder Faser seines Körpers und Geistes spüre. Die Lebendigkeit, sein unmittelbares Da-Sein machte ihn zu einem unerwarteten Glück. Vielleicht hätte ich Angst haben müssen. Stattdessen entstand Hoffnung, als hätte ich ein zufällig gefundenes Samenkorn eingepflanzt und daraus wüchse ein Stiel empor, Blätter bildeten sich und ich sehnte mich nach der Blüte. Die Zeit, acht Wochen, seit ich ihn kannte, verrauschte in einem Dauerlächeln.

Der Sommer war längst vorbei und die nebligen Tage angebrochen, die Straßen, Plätze, Häuser und Gärten in das schemenhafte Licht eines undeutlichen Traums getaucht, als ich die Zeichen zum ersten Mal bemerkte. Ein Dämmerzustand, ein Nicht-Wirklich-Wach-Werden umfasste mich.

Auf dem Weg zu meiner Wohnung hallten die Worte des Professors nach, der wie ein runzliger Tom Cruise aussah. Ich versuchte mir zu merken, was er über die Preisbildung im Rahmen der Spieltheorie gesagt hatte, erinnerte mich aber nur daran, dass jeder Preis der Vorstellungskraft des Käufers schmeicheln müsse. Feuchtigkeit kroch mir in die Nase, breitete sich im Mund und auf der Haut aus. Ich fröstelte und schloss den Reißverschluss meiner Windjacke bis obenhin.

Paul wollte vorbeikommen. Ich freute mich auf seine Lippen, wollte ihn spüren, mich an ihn lehnen, seinen Ledergeruch aufsaugen, die Augen schließen und eins mit ihm sein. Er zog mich an, ich konnte mich gegen ihn nicht wehren, wollte es auch nicht und musste mich beherrschen, ihn nicht bei jeder Gelegenheit anzufassen. Obwohl er nicht muskelbepackt war wie andere Kerle, aber er fühlte sich fest an und ich liebte die harten Wölbungen des Bauches, der Hüften und des Hinterns. Wenn ich den Kopf an seinen Bizeps lehnte, wenn er sich zu mir beugte, mich mit seinen dunklen Augen anschaute und ich der tiefen Stimme zuhörte, die mich kitzelte und mich innerlich aufschreien und schaudern ließ, als jagte ein zuckender Orgasmus über mich hinweg. Etwas schmolz in mir, ich machte mich ganz klein und fühlte mich geborgen. Zum Glück bemerkte er das nicht. Zumindest sprach er nie davon.

Von der Bahnstation bis zu meinem Apartment begegnete ich kaum Menschen und alle, die ich sah, eilten in sich versunken an mir vorbei. Ich hörte die brüllenden Geräusche der Fahrzeuge mit den Lichtern, die wie Fühler die Umgebung abtasten, fragte mich, warum wir uns selbst und unsere Sehnsüchte in den Dingen, die wir benutzen und mit denen wir uns umgeben, spiegeln. Einige Wohnblocks waren besprayt, Buchstaben, rundlich ausgeformte Initialen in bunten Farben, rot, grün, gelb. Der Anblick war vertraut, wie die Hundehäufchen auf dem Asphalt, die Bierdosen und Flaschen, die vor den Häusern abgestellt werden. Anfangs nahm ich es gar nicht wahr, wie so vieles, das sich unter die Oberfläche unseres Bewusstseins legt, ohne jemals zum Vorschein zu kommen. Dennoch sah ich etwas Neues. Kreuze, Kreise, Runen, wie Chiffren einer Geheimsprache, mit Kreide auf die Mauern und Wände gleich neben den Eingängen gekritzelt, angebracht gerade an den Häusern, die bisher nackt, in makellosem Grau, Weiß oder Beige erstrahlten.

An der Bushaltestelle vibrierte das iPhone. Eine Nachricht von Paul.
„Kann leider heute nicht. Muss nem Freund helfen. Alles klar bei dir, Süße?“ Smiley mit Grinsebacke. Küsschen. Rose.

Ich war wütend, wollte ihm das Gesicht zerkratzen, blieb stehen. Das Display starrte mich an. Dann sog ich mit offenem Fischmund gleichmäßig feuchte Luft ein und der Zorn legte sich. Die Wut, die aus dem Nichts auftaucht und mich hilflos macht, ich hasse sie, weil sie mich an früher erinnert, an Vater, der mit einem Ruckeln und Zischen, das sich stets anhörte, als entferne er den Kronkorken einer seiner Bierflaschen, die Schnalle öffnete, den Gürtel aus den Schlaufen zog, und mich zu sich zwang, ohne auf meine Tränen zu achten.
„Okay. Meld dich einfach“, schrieb ich zurück. Ohne Smiley. Ohne Küsschen.

Vor mir auf der Wand bemerkte ich ein weiteres Zeichen. Ein schiefes Kreuz, von einem Kreis umgeben, hingeschmiert, ungleichmäßige Linien, an der Spitze ein Pfeil, der nach oben zeigte, ein Finger zum Himmel gereckt. Der Auslöser der Kamera klackte.

Zu Hause roch ich schale Luft, vermischt mit dem Schweiß der Nacht und der Suppe, die ich am Tag zuvor gegessen hatte. Ich riss alle Fenster auf. Wind zischte über Möbel und verstreute Kleider. Die Blätter der Palme bewegten sich, winkten mir, verspotteten mich. Der Wasserkocher blubberte und ich brühte mir den grünen Tee auf, den mir Xin aus China mitgebracht hatte. Die Blätter sind zu einem Ring gepresst und ich muss sie mit aller Kraft abreißen, um aus ein paar Krümeln einen starken, nach Heu duftenden Tee zu brauen. Nachdem ich die Fenster wieder geschlossen hatte, ließ ich den Duft durch den Raum ziehen, entspannte mich und kramte das iPhone aus der Tasche. Keine Nachrichten. Ich drehte die Musik lauter. Coldplay. ‘A Head full of Dreams’. Mein Herz wurde leichter. Ich tanzte durch die Wohnung und grinste dabei, versank in mir selbst, jeder Gedanke verschwand, versickerte, bis nichts mehr übrig war, außer der puren Seele, einer saftigen Frucht, deren Kern sich im Fruchtfleisch versteckt, hart, bissfest und wenn man ihn zertrümmert, findet sich darin eine Nuss, die von einer zarten Haut umgeben ist, eine Babuschka, ein Rätsel.

Die Stimme von Chris Martin verstummte, ein Reporter erzählte etwas von einem Sturm, der über die Stadt brausen sollte, von Starkregen und heftigem Wind. Mein Blick blieb auf dem Foto von Leonie hängen, das ich gerahmt auf die Kommode gestellt habe. Das Lächeln meiner Tochter beruhigte mich endgültig, ich hoffte, ich hoffte so sehr, dass ich sie eines Tages zu mir zurück holen könnte, stellte mir ihren Geruch vor, die feine Haut, die Augen, die ein Spiegel von mir selbst waren, die Verbindung zwischen uns. Mit diesem Bild im Kopf schlief ich ein.

*****

Ein paar Tage später holte Paul mich nachts aus dem Schlaf. Es dauerte, bis ich die Klingel hörte, weil ich von einem Sommerspaziergang träumte, dem Regen, der aufkam, Blitze sah, den Donner im Unterleib spürte und Unterschlupf in einem lichten Birkenhain fand, bis die Sonne wieder strahlte.

Er roch nach Zigaretten, Knoblauch und Wodka, als er mich in die Arme nahm, meine Augen, meinen Mund küsste, zitterte und schwieg. Im Bett schmiegte er sich an mich, mit einer Inbrunst und Sehnsucht, dass ich die Knochen spürte, die Muskeln, die Wärme. Ich liebte den Haarflaum auf seinem Bauch, der sich gegen meinen Rücken drückte und den Schwanz, der sich zwischen die Pobacken schob. Dennoch bewegte ich mich nicht. Statt mich an ihm zu reiben, die Gier zu steigern, ihn verrückt zu machen, führte ich Pauls Hände zu meinen Brüsten und strich über die Konturen seiner Finger, wollte eine Feder sein. Er saugte und schleckte über meinen Hals und nickte ein. Ich dachte wieder an den Sommertraum, aus dem ich aufgeschreckt war.

Er war früh wach. Ich hörte das Wasser der Dusche plätschern, ein Rascheln, als er sich die Hose anzog, die Vibration, das Kitzeln an den Ohren, als er mir zuflüsterte, dass er Brötchen hole und bereitete Espresso mit geschäumter Milch für ihn vor. Das mochte er und lächelte mir entgegen, als er die dampfende Tasse bemerkte. Neben den Augen bildeten sich Grübchen. Sein Nachtgeruch war verflogen, ich schnupperte an ihm wie ein Hund, der sich ein persönliches Aroma merken wollte.

„Wollte bei dir sein heute Nacht“, sagte er.
„Warum?“
„Weiß nicht genau, ein Gefühl.“
„Ist gut, so ein Gefühl.“
„Ja, vielleicht Bestimmung mit uns.“
„Mm, ja, vielleicht. Und wohin führt das?“
„Das weiß keiner. Ich muss sesshaft werden, weißt du. Ah, da fällt mir ein: Du hast gesagt, dass deine Tochter dich besucht. Wann kommt sie?“
„Nächsten Samstag. Ist was her. Vier Wochen. Sie war letztes Mal erkältet. Ich hasse den Scheiß mit dem vierzehntägigen Besuchsrecht.“
„Bin gespannt.“
„Magst du Kinder?“
„Ja, hab viele kennengelernt. Afrika ist ein Land voller Kinder.“
„Gut. Wir müssen was mit ihr unternehmen.“
„In die Stadt?“
„Ja, Kleider kaufen.“
„Wir könnten mit ihr in den Zoo gehn.“
„Super Idee, wird ihr gefallen. He, warum hast du selbst keine Kinder?“
„Mm, keine Ahnung, kann ja noch kommen.“
„Du, Paul?“
„Ja?“
„Ich glaube, du würdest gut aufpassen auf deine Kinder.“
„Klar, man muss gut aufpassen auf das, was man liebt. Du hast mir nie erzählt, warum Leonie nicht bei dir wohnt.“
„Siehst du doch. Ich bin eine arme Studentin.“
„Trotzdem, ein Kind muss bei der Mutter sein.“

Ich küsste ihn, steckte ihm die Zunge so tief es ging in den Mund. Dann zog ich ihn zu mir, aß ihn auf, zerfloss und spürte Paul tief in mir. Wir lagen nackt und schweigend nebeneinander, Millimeter trennten uns, die Haut mit einem Film bedeckt.

Die Zeichen auf der Mauer fielen mir wieder ein und ich zeigte ihm das Foto. Er richtete sich auf, die Beine baumelten über dem Boden, er beugte sich tief zum Display herab und löste die Haltung nicht, während er mit mir sprach.
„Sag mal, kennst du diese Zeichen?“
„Glaub schon.“
„Was bedeuten sie?“
„Habe ich in Afrika oft gesehen. In den markierten Häusern wohnen Hexen.“
„Hexen?“
„Ja, so werden Häuser von Hexen oder Hexenkindern gekennzeichnet.“
„Glaubst du daran?“
„Kein Scheiß. Hexen sind gefährlich. Ich hab welche gesehen im Kongo. Die bringen Unglück, Krankheiten, so Zeug.“
„Blödsinn!“
„Ist es nicht! Wo hast du die Zeichen gesehen?“
„Hier in der Straße.“
„Schau ich mir an.“

*****

Leonie mochte ihn. Es sah vertraut aus, wie er mit ihr lachte und plauderte. Sie nahm unsere Hände, wir warfen sie in die Höhe, bis sie vor Vergnügen jauchzte. Die Flamingos flogen auf der Wiese vor dem Raubtierhaus auf, als wir an ihnen vorbei lachten. Ein intensiver Geruch aus Kot, Futter und Heu schlug uns drinnen entgegen. Leonie ließ mich los, tänzelte mit Paul im Gleichschritt zu den Barrieren und Gittern, thronte auf seinen Schultern. Ein Leopard lag, die Beine weit von sich gestreckt, in einer Ecke und riss gähnend sein Maul so weit auf, dass die Reißzähne, gelbliche Hauer wie Pfeilspitzen, deutlich sichtbar wurden. Leonie gestikulierte, als wolle sie das Tier begrüßen und zu einer Bewegung veranlassen. Ohne auf sie zu achten, als ertrüge er den Anblick des Tieres nicht, ging Paul weiter, während meine Tochter einen letzten Blick auf den Leoparden warf. Weiter zum Exotarium mit den Pinguinen, zu den Menschenaffen, die ernst glotzten, wie Greise, die im Altersheim sitzen und sabbern. Zu den Bären, die sich um Futter balgten.

Ich stand abseits, dachte über Paul nach und es wurde mir warm ums Herz. Er war viel älter als ich, zehn Jahre Unterschied, war klug, hatte die Welt gesehen, Afrika, Amerika, und einen richtig guten Job als Anthropologe am Max-Planck-Institut. Mir schwirrte der Kopf beim ersten Date und im Bauch türmten sich Sterne. Dabei wollte ich nie einen Kerl über ein Dating-Portal kennenlernen.

Leonie und Paul befanden sich in einer Vakuumglocke und ich davor. Mit Paul könnte es klappen, Leonie zu mir zu holen. Peter, mein Ex, wäre wahrscheinlich froh. Er ist Staatsanwalt und lebt mit einer anderen Frau, die selbst Kinder hat. Das ist der Unterschied. Ich bin nichts, eine Studentin, eine Frau auf der Suche, die dreimal in der Woche nachts im Club arbeitet, betrunkenen Typen Bier und Shots bringt, lächelt und die Leute bei Laune hält. Das mag ich. Bis zu Leonies Geburt habe ich im Käfig getanzt. Peter hat mich im Club gesehen und angesprochen. Meine Moves wären was Besonderes, sagte er. Titten und Arsch meinte er. Paul habe ich bisher nichts vom Go-Go-Dancing erzählt. Weil er gläubig ist und in die Kirche geht. Ich wollte es unbedingt richtig machen, lieben.

Als ich bei ihnen war, brauchten sie eine Weile, bis sie mich überhaupt bemerkten. Ich musste Paul erst am Arm berühren und mich bemerkbar machen. Er sah mich an, als wäre er aus einem Traum erwacht, hob Leonie von seinen Schultern, stellte sie auf den Boden.

„Genug jetzt.“ Paul veränderte sich im selben Augenblick, als Leonie wieder die Erde berührte, er verhärtete, wie ich ihn nicht kannte. Schweigend lief er neben uns her. Leonie löste sich von ihm. Auf dem Weg zum Aquarium begegneten wir Familien, die ihren Kindern Getränke und Sandwiches reichten. Leonie schielte nach ihnen und erklärte, dass sie Durst habe. Wortlos zog Paul los, um Wasser und Saft zu kaufen. Wir stießen mit Plastikflaschen an und saugten an dem Wassereis, das er uns in die Hand drückte.
„Ich will die bunten Fische sehen!“
„Wie bunt sind die?“, fragte Leonie.
„Ganz bunt. Alle möglichen Farben“, antwortete Paul.
„Auch pink?“
„Mm. Vielleicht finden wir welche, die pink sind. Suchen wir sie zusammen?“
„Oh ja!“
„Wenn du einen pinken Fisch siehst, bekommst du eine Überraschung.“
„Ein Riesen-Eis?“
„Verrate ich nicht.“
In der dritten Halle erstrahlten die Farben der Fische. Leonies Augen weiteten sich. Sie raste zwischen den Glasfronten hin und her.
„Die da sehen pink aus.“
„Nein, die sind rot. Siehst du, was für lustige Flossen die haben? Gezackt, wie Kronen. Und sie flattern im Wind.“
„Gibt es im Wasser Wind?“, fragte sie Paul.
„Na ja, Wellen sind ein bisschen wie Wind.“
„Schau mal, die sind aber pink.“
„Na ja, hellrot.“
„Fast pink.“
„Und die?“
„Sind gelb. Guck mal, wie sie leuchten.“
Sie einigten sich darauf, dass die hellroten Fische pink wären.
Danach standen wir vor den Becken mit den Haien. Leonie rannte hin.
„Wie schön die sind!“, murmelte sie.
Sie glitten ohne erkennbare Mühe elegant durch das Wasser und lachten fratzenhaft. Leonie war fasziniert.
„Du darfst ihnen nicht in die Augen schauen. Haie sind die Teufel der Meere“, sagte Paul.
„Was ist ein Teufel?“
„Etwas ganz Böses.“
„Lass sie mit sowas in Ruhe, Paul. Sie ist ein Kind.“
„Sie muss kapieren, was gut und böse ist. Wer Gott und wer Teufel ist. Wegen der Dämonen. Die entern dich, wenn du dich nicht wehrst. Deswegen schaut der Hai deine Tochter an.“ Danach schwieg Paul.
„Was denkst du, Leonie? Lust auf shoppen?“
„Klar, Mama.“
„Was dagegen, wenn ihr alleine in die Stadt geht?“, fragte Paul.
„Wann krieg ich die Überraschung?“, wollte Leonie wissen.
„Wart mal kurz.“
Er kaufte ihr einen Teddybär mit dem Logo des Zoos, drückte ihr das Plüschtier in die Arme, lachte nach innen und verschwand.

Das komplette Trinkgeld der letzten Woche gab ich für ein gelbes Kleidchen, Lackschuhe, Tops, Strumpfhosen, einen breiten Gürtel mit Glitzersteinen, ein Trägerkleid und eine mintgrüne Hose aus. Ich ärgerte mich, dass wir aufhören mussten, weil mein Portemonnaie leer war und dachte mir, dass ich mit Table-Dance anfangen sollte. Mich vor den Kerlen ausziehen und ihnen dabei auf den Schwanz starren, damit sie die Scheine aus der Tasche ziehen, machte mir nichts aus, gefiel mir sogar. Paul dürfte ich niemals davon erzählen. Unmöglich.

*****

Das Klingeln an der Haustür ließ mich aufschrecken. Paul war nicht allein, brachte einen Mann mit, über dessen Gesicht sich ein Streifen Bewuchs zog, der mich an englischen Rasen erinnerte. Sie blickten mich an, als kämen sie aus der Kirche.
„Das ist Pater Christopher. Er ist der Pfarrer unserer Gemeinde. Hab ihn zum Abendessen mitgebracht. Ist okay, oder?“
Anfangs war ich sauer und dann fühlte es sich gut an. Er vertraute mir. Ein Geistlicher, bestimmt ein Freund, als ob ich bei seinen Eltern eingeladen wäre, um mich einer Prüfung zu unterziehen. Meine Frisur fiel mir ein, ich musste unbedingt vor den Spiegel, die Jeans loswerden und vor dem Essen in ein Kleid schlüpfen.
„Freut mich, dich kennenzulernen, Anna! Und das ist deine liebe Tochter. Sie heißt Leonie, nicht?“, sagte er.
Zum Glück hatte ich das Essen vorbereitet, ein Hühnchen im Ofen geschmort und mit Käse überbacken, mein Spezial-Gericht, gelingt mir immer. Es reichte für alle. Pater Christopher stopfte sich erst den Mund und begann danach zu kauen. Nach den freundlichen Worten zur Begrüßung, kümmerten sie sich nicht mehr um mich. Im Gegenteil. Ich spielte eine Dienerin, die dafür sorgen musste, ihre Mägen zu sättigen, Gläser zu befüllen. Die klassische Frauenrolle, die ich hasse und dennoch ausfüllte. Wegen Paul, weil es für ihn wichtig war, ihm das Gefühl gab, eine richtige Frau zu haben. Ich wollte die Idylle, ich wollte sie unbedingt.

Die Männer beschäftigten sich mit Leonie, sie zeigten ihr, wie man das Essen segnet und lasen ihr aus einer Mini-Bibel vor, die Christopher aus der Jackentasche zog. Ein Gleichnis aus dem Neuen Testament: ‚Vom Unkraut unter dem Weizen‘. Den Titel hörte ich, während ich in der Küche beschäftigt war, mehr nicht. Zum Nachtisch servierte ich Eis mit Himbeeren. Die heißen Beeren flossen wie Lava über Gestein und bildeten eine Haut, die das Darunterliegende versteckte. Über und über beschmierte sich Leonie das Gesicht, schlang das Eis in sich, ohne darauf zu achten, wie viel sie auf den Löffel häufte. Ihre Lippen waren so rot, als hätte sie sich meinen Dior-Lippenstift genommen und sich damit geschminkt. Die Männer starrten sie an, die Unterhaltung verstummte und ich riss hastig ein Küchentuch von der Rolle, um ihr Gesicht zu säubern. Sie blickte mich enttäuscht an, weil sie vergeblich auf die Küsse wartete, mit denen ich ihr die süßen Reste sonst vom Gesicht schlecke.
„Wird Zeit fürs Bettchen, Prinzessin!“
„Jetzt schon?“
Den Mokka, den ich den Männern zubereitete, füllte ich in die Wedgwood-Tässchen mit dem Goldrand, die mich an die Großmutter erinnerten, an ihre Seidenkleider, an ihre Flüsterstimme. Sie stammten aus ihrem Nachlass und Oma Sabina strömte aus ihnen zu mir. Die Tassen dampften und an der Oberfläche schwammen Schlieren. Danach brachte ich Leonie in ihr Zimmer und sang ein Gute-Nacht-Lied mit ihr.
‚Schlaf, Kindlein, schlaf nur ein.‘
Leonie drückte die Lider fest zusammen, aber ich spürte, dass sie wach bliebe, bis draußen die Stimmen erloschen.
Den restlichen Abend nahm ich durch einen Schleier wahr und genoss den Grünen Veltliner, der nach Heu roch. Immerhin beachteten sie mich. Sie sprachen über Erziehung und Gott. Genau erinnere ich mich nicht. Paul brachte den Freund bis zur Straße. Ich hörte sie über die Treppenstufen poltern. Wir räumten danach auf. Über das benutzte Geschirr ließ ich kaltes Wasser laufen, bevor ich es in die Spülmaschine steckte. Unsere Körper berührten sich und zuckten zurück, als wäre die Müdigkeit zu groß, als gäbe es eine unbekannte Barriere. Im Bett drehte ich mich zur Seite und schloss die Augen. Er nahm meine Hand, streichelte sie, küsste meine Haare, ließ die Hand wieder los.

Mitten in der Nacht wachte ich auf. Paul lag nicht neben mir und ich hörte ein leises Murmeln aus der Ferne. Benommen stand ich auf und überlegte, woher es kam. Meine nackten Füße glitten über das Parkett. Ich schwebte, weil ich in Wirklichkeit im Bett lag und auf den Sonnenaufgang wartete, die orangerote Kugel suchte, die morgens am Horizont erschien.

Die Tür war angelehnt. Leonies Zimmer, das ich für ihre Besuche eingerichtet hatte und sonst niemals benutzte, füllte sich mit Grauschattierungen und Konturen. Ohne Sonne gibt es keine Farben. Was ich sah, schlich sich langsam in mein Bewusstsein, fügte sich nach und nach zu einem Bild. Ich saugte die Luft tief ein, um die Wirrnis zu ordnen. Leonie lag tief versunken auf dem Rücken, die Beine angewinkelt, einen Arm zwischen Rücken und Matratze versteckt. Die Bienen auf dem Stoff ihres Schlafanzugs surrten mir entgegen. Sie war aufgedeckt. Paul kniete vor dem Bett. Er bemerkte mich nicht. Seine Schultern schimmerten, als wären sie eingeölt. Er murmelte etwas, das ich nicht verstand, ein Sing-Sang in einer Sprache, die ich nicht kannte. Silben, die wie Vogelgezwitscher klangen. Währenddessen wippte er mit dem Oberkörper, um eine Trance aufrechterhalten, die ich nicht verstand. Ich wollte schreien und konnte nicht. Ein kalter Stein verschloss meinen Mund. Ein Gegenstand löste sich aus dem Nebel, den er mit der rechten Hand umklammerte, der sich nach und nach aus dem Nebel löste, die Wirklichkeit sichtbar machte, den Traum versinken ließ, während er selbst reglos blieb.Leonies Mund war offen. Ich sah, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte, wollte zu ihr, um sie zu bedecken. Pauls Mund hörte auf, sich zu bewegen und er richtete den Oberkörper gerade. Die Konturen des Armes, die Muskeln, kamen zum Vorschein. Wenn er jetzt aufgestanden und zu mir gekommen wäre, hätte ich ihn verschlungen. Aber das geschah nicht. Stattdessen näherte sich der Bohrer, das pralle, grüne Gehäuse des Akkugeräts, Leonies Kopf. Er streifte ihre Haare zur Seite und setzte an. Ich schrie mit einer Stimme, die ich nicht kannte und Paul schreckte auf, drehte sich um, kein Erstaunen in den leeren Augen.
„Es muss sein, Anna. Sie ist ein Hexenkind. Ich muss die Dämonen verjagen.“
„Geh weg von ihr!“
Es schauderte mich, ich zitterte vor dem Fremden und bemerkte den Blutstropfen auf der Kopfhaut meiner Tochter. Sie fing an, sich zu bewegen und suchte nach der Bettdecke. Ich wollte zu ihr.
„Hast du es nicht bemerkt, Anna?“
Mit einem Eisengriff umfasste er meinen Arm und schleuderte mich weg.
„Was soll ich bemerkt haben?“
„Sie ist besessen, ein Hexenkind!“
Ich brachte keinen Ton raus, sank auf den Boden, während der Bohrer vor meinen Augen hin und her schwang wie ein Taktstock, mit dem er die Rede unterstützen wollte.
„Ich habe den Pfarrer geholt, um sicher zu gehen. Gibt keinen Zweifel. Christopher hat das Zeichen am Haus angebracht. Er ist sich sicher. Das Haus ist markiert, lässt sich nicht ändern. Geh jetzt raus! Wenn ich fertig bin, ist alles gut. Glaub mir, Anna.“
Es heißt ja, dass eine Mutter ungeheure Kräfte freisetzt, wenn ihr Kind in Gefahr ist. Nichts dergleichen habe ich empfunden. Ich erstarrte und mein Kopf war leer, alles war leer in mir.
„Paul, Liebster, bitte!“, heulte ich.
Stille. Keine Reaktion. Danach geschah ein Wunder. Leonie hatte sich aufgerichtet, aus ihren Augen schoss Feuer. Im Zimmer regte sich etwas, das wir nicht sahen. Daran erinnere ich mich. Paul sank in sich zusammen, als ertrage er nicht, was jetzt den ganzen Raum füllte, jede Faser, jedes Staubkörnchen, jedes Atom ergriff. Er zögerte, schnaufte, schwitzte und streckte ihr mit letzter Kraft den Bohrer entgegen. Leonie lachte lauthals, ihre Stimme dröhnte, jagte wie ein Gummiball durch den Raum. Während er einen weiteren Schritt auf sie zu machte, beschleunigte sich die Zeit.

Am Ende einer Kette von Ereignissen, die mich verwirrte, keinen Anfang, kein Ende kannte, lag Paul auf dem Teppich mit den bunten viereckigen Rastern, die den Hintergrund für Schmetterlinge und Blumen bildeten. Der Bohrer steckte im Auge, Blut sickerte über das Gesicht. Er wimmerte und verlor das Bewusstsein. Ich konnte mich ihm nicht nähern.

Leonie hielt ihre Lieblingspuppe Penny im Arm, die in einem rotkarierten Kleidchen steckte, schmiegte sich an mich und sagte nichts. Wir flüchteten aus dem Zimmer und legten uns in mein Bett, ganz eng beieinander, suchten mit geschlossenen Augen die Sterne am Himmel und warteten. Die Tränen verdampften, ich fühlte mich leicht und stark, weil ich plötzlich wusste, dass ich nicht einmal die Augen öffnen brauchte, um zu sehen, dass alles, alles in mir war. Die Zeichen in meinem Herzen verschwanden. Das Gepolter der Schritte im Treppenhaus, das zitternde Licht des Krankenwagens änderte nichts an der Sicherheit, die ich bis heute empfinde.

 
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Lieber Peeperkorn,

ach, es ist wunderbar, wie du den Text analysiert hast. Ich danke dir, das schätze ich sehr. Du schaust drauf, als wäre es die Idee zu einem eigenen Text und gibst mir dadurch eine Menge Anregungen. Bevor ich zum Kommentar etwas sage: ich bin absolut erstaunt darüber, dass wir zur selben Zeit an einem ähnlichen Text arbeiten, an einem Traumgespinst mit fantastischen Elementen, an einer gebrochenen, sich selbst zerstörenden Wirklichkeit. Deinen Text bewahre ich für eine besondere Stunde und werde mich ganz bestimmt dazu melden. (Bisher habe ich die Kommentare überflogen und ein paar Absätze gelesen, um mich anzunähern).

Du interpretierst die Geschichte nach Fakten- oder Indizienlage. Missbrauch. Das steckt da bestimmt drin, aber ich habe bewusst den Hinweis so gesetzt, dass ihr Vater den Gürtel nimmt, nicht einfach die Hose öffnet. Ich glaube Anna erlebte zuallererst seelischen Missbrauch, durch Männer, durch ein Leben als Objekt. Das brachte sie dazu, sich zu beschützen, indem sie die Wirklichkeit verzerrt. Deshalb habe ich auch die Ich-Perspektive, das Höchstmaß an Subjektivität gewählt. Du schreibst, die Geschichte enthielte eine Spur zu viel Tell und eine zu poetische Sprache. Wenn ich so drüber nachdenke, glaube ich, dass die Sprache exakt zu der Luftigkeit Annas passt und auch, dass die Tell-Phasen letztlich Teil ihrer Gedankenwelt sind. Wenn wir zurückdenken, erinnern wir uns eben auch an Geschehnisse aus der Vergangenheit, oder?

Im Ernst, finde ich einen starken Text. Ich konnte mich nicht mit allen Formulierungen anfreunden
:Pfeif:

Der Schlaf verließ mich und ich verbrachte meine Nächte mit Büchern und fremden Gedanken. Die Tage versanken in Ödnis. Selbst eine neue Frisur half nichts. Dann tauchte er aus dem Nebel auf.
Der Satz hat da m.E. nichts zu suchen. Wie sollte eine neue Frisur gegen Schlaflosigkeit helfen?, habe ich mir da gedacht. Wenn es um Einsamkeit geht, musst du das vorher ansprechen.
ich habe das drin gelassen, die Frisur gibt ihr mehr Selbstwertgefühl, darum geht es in diesem Satz

Ich hörte die brüllenden Geräusche der Fahrzeuge mit den Lichtern, die wie Fühler die Umgebung abtasten, fragte mich, warum wir uns selbst und unsere Sehnsüchte in den Dingen, die wir benutzen und mit denen wir uns umgeben, spiegeln.
Also, ich finde das gefährlich, eine Figur "fragte mich" denken zu lassen und dann mit einer allgemeinen Erkenntnis / Frage / Tiefsinnigkeit aufzuwarten. Klingt zu sehr nach Autor. Ich finde diese Erkenntnis auch wenig relevant für die Geschichte. Ist aber ein schöner Satz / Gedanke. Heb dir den doch für eine andere Geschichte auf.
kill your darlings, ich nehme an du hast recht, muss aber noch ein paar Momente warten, bis ich ihn lösche, schade, schade :hmm:

Die Wut, die aus dem Nichts auftaucht und mich hilflos macht, ich hasse sie, weil sie mich an früher erinnert, an Vater,
Den Satz habe ich Anna nicht abgekauft. Sie wird versetzt, d.h. die Person ist weiter weg als gewünscht und dabei denkt sie an den Missbrauch, wo die Person näher ist als gewünscht.
Anna erinnert sich an die Wut, die sie assoziativ mit ihrem Vater verbindet

Trotz dieser Einwände: Bezüglich Plot, Stimmung, Figurenzeichnung (die fragile - gemäss Novak bipolare - Erzählerin finde ich sehr sehr gelungen), meiner Meinung nach eine deiner besten Geschichten.
:Pfeif:

viele Grüße in die Schweizer Nebelwelt
Isegrims

Hi @Gefrierpuinkt

danke dir für den zweiten Besucht :thumbsup:

Deine Geschichte ist verdammt gut, und wenn du das Ende so erzählen wolltest, dann ist das wunderbar.
Wäre ein harmonischeres Ende mir wirklich lieber gewesen, als noch Tage später deinem Text nachzuhängen?
Auch das kann ich mit einem klaren 'Nein' beantworten.
ich empfinde das Ende gerade in seiner Rätselhaftigkeit, auch richtig, da mache ich nichts dran.

Ich glaube, du hättest noch ein Quäntchen mehr aus dem Ende rausholen können.
Mit Betonung auf noch mehr.
Erwähnte ich schon, dass ich den Text verdammt gut finde?
ja, das habe ich verstanden :Pfeif: Arbeit an solch einem Text ist bisschen wie ein Soße, die stundenlang kocht, ich werde weiter nach der Essenz suchen und am Feinschliff arbeiten; btw: wann lesen wir deine Texte?

Der springende Punkt ist die Hilflosigkeit. Die empfundene Machtlosigkeit. Anna leidet, aber ihr Leid hat keinen Einfluss auf Pauls Handeln. So wie es keinen Einfluss auf das Handeln ihres Vaters hatte.
Der sie, meiner Interpretation nach, geschlagen hat - wozu sonst den Gürtel komplett aus den Schlaufen ziehen. Er war außerdem wohl Trinker, sicherlich unbeherrscht. Ich stelle mir jähzornige Ausbrüche vor, unkontrollierte Wut, die sich auf Anna entladen hat, Wut, in der er sich verloren hat, und in der jetzt Anna befürchtet, sich zu verlieren. Zu einem Zerrbild von sich selbst zu werden. Kein Wunder, dass sie zurückschreckt, wenn sie Aggression in sich aufsteigen fühlt.
Kein Wunder, dass sie nicht auf Paul losgehen kann, als er an Leonies Bett steht und ihr in den Kopf bohren will.
auf den Punkt gebracht; so interpretiere ich ihr Handelns auch und das wollte ich transportieren

Liebe Grüße, Gefrierpunkt und einen perfekten Start ins Wochenende
Isegrims

Hallo Berniee

und ein herzliches Willkommen hier.

ich wage mich jetzt auch mal ans kommentieren von Texten.
:thumbsup:

Die Szenen, die du beschreibst, finde ich sehr schön und anschaulich. Vor allem der Anfang der Geschichte hat mich neugierig gemacht und mich zum weiterlesen animiert.
vielen Dank :Pfeif:

ich finde es klasse eine Rückmeldung von dir zu bekommen, weil ich weiß, wie wichtig und hilfreich es für das eigene Schreiben ist, sich durch Kommentieren mit anderen Texten auseinanderzusetzen.

viele Grüße und bis bald
Isegrims

Peeperkorn

Mit diesem Nenner liesse sich auch z.B. die Schläge durch einen Klassenkameraden mit der Erinnerung an den Wegzug des besten Freundes verknüpfen ("Ich konnte nichts dagegen tun"). Aber es handelt sich dabei m.E. um psychologisch doch sehr verschiedene Ereignisse - ähnlich wie hier im Text. Auf alle Fälle bin ich als Leser an dieser Stelle ins Leere gelaufen.
na ja, wie assoziativ ist dein eigenes Denken? Mir geht es so, dass ich Erinnerungen an die Vergangenheit nicht unbedingt steuern kann. Wenn dich die Erinnerung an den Vater an der Stelle stört, okay, du bist der Leser :thumbsup:, wenn gleich du natürlich auch als Autor drauf schaust und sich das manchmal (zumindest bei mir) schwer trennen lässt, wenn ich hier etwas kommentiere.

Liebe Grüße
Isegrims

geht bald weiter

 

Liebe Isegrims

ich geh mal direkt rein in die Geschichte und schreib dann noch ein paar abschließende Zeilen..

Der Schlaf verließ mich und ich verbrachte meine Nächte mit Büchern und fremden Gedanken. Die Tage versanken in Ödnis. Selbst eine neue Frisur half nichts.

das war ein schöner Einstieg. Hat mir vom Rhythmus gefallen und auch von der subtilen Ironie (Frisur und so). Was man so macht, um sich aus so einem Loch zu befreien :)

Stattdessen entstand Hoffnung, als hätte ich ein zufällig gefundenes Samenkorn eingepflanzt und daraus wüchse ein Stiel empor, Blätter bildeten sich und ich sehnte mich nach der Blüte.

ich weiß nicht, ob hier meine Stumpfheit einsetzt, aber das mit der Blüte, war mir etwas zu viel.

Die Zeit, acht Wochen, seit ich ihn kannte, verrauschte in einem Dauerlächeln.

die Verbindung von Rauschen und Lächeln finde ich schön.

und ich liebte die harten Wölbungen des Bauches

vielleicht lieber "seinen Waschbrettbauch" oder so ähnlich. Harte Wölbungen im Bauchbereich rufen bei mir, sorry, eher so Bilder von Säuferbäuchen hervor, hahh

Kreuze, Kreise, Runen, wie Chiffren einer Geheimsprache, mit Kreide auf die Mauern und Wände gleich neben den Eingängen gekritzelt, angebracht gerade an den Häusern, die bisher nackt, in makellosem Grau, Weiß oder Beige erstrahlten.

schöner Sprachfluss

Ich war wütend, wollte ihm das Gesicht zerkratzen,

ziemliche Wendung. Ein bisschen arg vielleicht? Hätte es nicht so ein bedrückendes Gefühl auch getan?

Dann sog ich mit offenem Fischmund gleichmäßig feuchte Luft

merkwürdiges Bild

Die Wut, die aus dem Nichts auftaucht und mich hilflos macht, ich hasse sie, weil sie mich an früher erinnert,

schwer vorstellbar, dass sie die Wut hasst in dem Moment, wo sie wütend ist, ihre (negativen, aggressiven) Emotionen also auf etwas anderes gerichtet sind.

an Vater, der mit einem Ruckeln und Zischen, das sich stets anhörte, als entferne er den Kronkorken einer seiner Bierflaschen, die Schnalle öffnete, den Gürtel aus den Schlaufen zog, und mich zu sich zwang, ohne auf meine Tränen zu achten.

das ist eine sehr heftige Sache auf jeden Fall. Löst in mir Mitleid und Ekel aus.

Vor mir auf der Wand bemerkte ich ein weiteres Zeichen. Ein schiefes Kreuz, von einem Kreis umgeben, hingeschmiert, ungleichmäßige Linien, an der Spitze ein Pfeil, der nach oben zeigte, ein Finger zum Himmel gereckt. Der Auslöser der Kamera klackte.

wieder ein guter Wortfluss finde ich. - ... Wortfluss, was für ein Wort :p

schale Luft

abgestandene Luft, oder saure Luft oder säuerliche. Ich weiß nicht genau, aber mein Gefühl sagt mir, dass "schal" sich entweder auf Getränke bezieht oder ein Synonym für langeweile ist.

Mein Blick blieb auf dem Foto von Leonie hängen, das ich gerahmt auf die Kommode gestellt habe.

bist du dir hier sicher mit der Zeitform?

„Was bedeuten sie?“
„Habe ich in Afrika oft gesehen. In den markierten Häusern wohnen Hexen.“
„Hexen?“
„Ja, so werden Häuser von Hexen oder Hexenkindern gekennzeichnet.“

coole Idee, das einzubringen

Titten und Arsch meinte er. Paul habe ich bisher nichts vom Go-Go-Dancing erzählt. Weil er gläubig ist und in die Kirche geht.

Komma vor "weil", würde ich sagen. Ansonsten bin ich mir nicht sicher, ob das mit der Kirche zu dem weltoffenen, viel bereisten Paul passt. Also es stellt keinen Widerspruch dar, aber es fügt sich für mich nicht ganz.

„Gibt es im Wasser Wind?“, fragte sie Paul.

coole Frage. Exemplarisch für die Kreativität von Kindern. Gut gemacht :)

„Du darfst ihnen nicht in die Augen schauen. Haie sind die Teufel der Meere“, sagte Paul.
„Was ist ein Teufel?“
„Etwas ganz Böses.“

hier macht es dann natürlich wieder Sinn, dass er vom Teufel spricht.

weil mein Portemonnaie leer war und dachte mir, dass ich mit Table-Dance anfangen sollte. Mich vor den Kerlen ausziehen und ihnen dabei auf den Schwanz starren, damit sie die Scheine aus der Tasche ziehen, machte mir nichts aus, gefiel mir sogar. Paul dürfte ich niemals davon erzählen. Unmöglich.

guter Konflikt. Schafft so eine gewisse Dringlichkeit. Als Leser bekomme ich ein plastisches Gefühl der Situation und fange auch an, mich zu fragen, wie sie mit dieser irgendwie doch komplizierten Situation umgehen wird.

Das Klingeln der Haustür schreckte mich auf.

sie wird/fühlt sich davon aufschreckt. Vielleicht eher: "Das Klingeln an der Haustür ließ mich aufschrecken."

über dessen Gesicht sich ein Streifen Bewuchs zog, der mich an einen englischen Rasen erinnerte.

das "einen" kann man, glaube ich, streichen. Bin mir auch nicht ganz sicher bei der Beschreibung. Die hört sich ein bisschen sehr origniell an^^


Den Mokka, den ich den Männern braute

wolltest du hier mit "braute" übertreiben? Würde es ganz locker in "machte", "zubereitete" oder "kochte" umändern.

Die Tür war angelehnt. Leonies Zimmer, das ich für ihre Besuche eingerichtet hatte und sonst niemals benutzte, füllte sich mit Grauschattierungen und Konturen. Ohne Sonne gibt es keine Farben. Was ich sah, schlich sich langsam in mein Bewusstsein, fügte sich nach und nach zu einem Bild. Ich saugte die Luft tief ein, um die Wirrnis zu ordnen. Leonie lag tief versunken auf dem Rücken, die Beine angewinkelt, einen Arm zwischen Rücken und Matratze versteckt. Die Bienen auf dem Stoff ihres Schlafanzugs surrten mir entgegen. Sie war aufgedeckt. Paul kniete vor dem Bett. Er bemerkte mich nicht. Seine Schultern schimmerten, als wären sie eingeölt. Er murmelte etwas, das ich nicht verstand, ein Sing-Sang in einer Sprache, die ich nicht kannte. Silben, die wie Vogelgezwitscher klangen. Währenddessen wippte er mit dem Oberkörper, um eine Trance aufrechterhalten, die ich nicht verstand. Ich wollte schreien und konnte nicht. Ein kalter Stein verschloss meinen Mund. Ein Gegenstand löste sich aus dem Nebel, den er mit der rechten Hand umklammerte, der sich nach und nach aus dem Nebel löste, die Wirklichkeit sichtbar machte, den Traum versinken ließ, während er selbst reglos blieb.Leonies Mund war offen. Ich sah, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte, wollte zu ihr, um sie zu bedecken. Pauls Mund hörte auf, sich zu bewegen und er richtete den Oberkörper gerade. Die Konturen des Armes, die Muskeln, kamen zum Vorschein. Wenn er jetzt aufgestanden und zu mir gekommen wäre, hätte ich ihn verschlungen. Aber das geschah nicht. Stattdessen näherte sich der Bohrer, das pralle, grüne Gehäuse des Akkugeräts, Leonies Kopf. Er streifte ihre Haare zur Seite und setzte an. Ich schrie mit einer Stimme, die ich nicht kannte und Paul schreckte auf, drehte sich um, kein Erstaunen in den leeren Augen.
„Es muss sein, Anna. Sie ist ein Hexenkind. Ich muss die Dämonen verjagen.“

ziemlich krank und ich fühle mich etwas verstört beim Lesen. Erzeugt unangenehme Gefühle bei mir.

Ich habe den Pfarrer geholt, um sicher zu gehen. Gibt keinen Zweifel.

hier dachte ich mir, dass da was nicht stimmt. Solche Praktiken sind mir zumindest aus dem letzten Jahrhundert in diesen Gefilden unbekannt.

Stille. Keine Reaktion. Danach geschah ein Wunder. Leonie hatte sich aufgerichtet, aus ihren Augen schoss Feuer. Im Zimmer regte sich etwas, das wir nicht sahen. Daran erinnere ich mich. Paul sank in sich zusammen, als ertrage er nicht, was jetzt den ganzen Raum füllte, jede Faser, jedes Staubkörnchen, jedes Atom ergriff. Er zögerte, schnaufte, schwitzte und streckte ihr mit letzter Kraft den Bohrer entgegen. Leonie lachte lauthals, ihre Stimme dröhnte, jagte wie ein Gummiball durch den Raum. Während er einen weiteren Schritt auf sie zu machte, beschleunigte sich die Zeit.

wow, das kam unerwartet. Fand ich gut, weil es deinem Text, finde ich, eine starke Schlusswirkung gibt und dadurch nochmal den ganzen Text auf einer anderen Ebene widerspiegelt.

Liebe Isegrims, viele Stellen in deinem Text haben mir gefallen, vor allem die ganz dichten Sprachgebilde. Etwas fragend stehe ich vor der Handlung, obwohl ich da auch super Ideen drin sehe, wie die psychologischen Verarbeitungsprozesse einer Mutter, die in ihrer Kindheit Opfer von Missbrauch wurde. Ziemlich heftiges Thema, puh!

LG
Carlo

 

Hallo wieselmaus,

dauert ein wenig, bis ich über alle Kommentare nachgedacht habe, bitte verzeih bzw, verzeiht alle meine Langsamkeit, das darf bitte keiner missverstehen.
Lieben Dank für deinen Kommentar und für das Wort "beeindruckend". :Pfeif:

Ich finde ihn beeindruckend, und zwar in wörtlichem Sinn. Damit meine ich Folgendes:
Viele Formulierungen sind bildstark auf sehr eigenwillige Art und Weise. Beispiel:
ich glaube eben, dass viele Wendungen und Wörter verbraucht sind, Hülsen, die man ungestalten muss, um eine gewisse Wirkung zu erzielen.

Solche Formulierungen lassen mich für einen Augenblick innehalten, weil ich nachdenken muss. Finde ich sie gelungen, nachvollziehbar, oder sind sie kitschig oder zu gewollt?
mitsamt dem nachdenken war das gewollt und ich bin froh, dein Innehalten zeigt mir, dass es gelungen ist.

Ich denke daher, einige Kürzungen könnte dein Text aushalten. Für mich wären es Passagen, in denen du ein (unnötiges) Ritardando einbaust. Da gibt es einige. Beispiel:

... die mich an die Großmutter erinnerten, an ihre Seidenkleider, an ihre Flüsterstimme. Sie stammten aus ihrem Nachlass und Oma Sabina strömte aus ihnen zu mir. Die Tassen dampften und an der Oberfläche schwammen Schlieren.

ich habe das nicht gestrichen, obwogl ich drau und dran war. Ich wollte mit der Stelle und ähnlichen, ihr assoziatives Denken aufzeigen.

Noch ein kleiner Einwand. Muss Paul unbedingt Neurologe sein? Anthropologe würde besser zu ihm passen, wegen seiner Afrika-Reisen usw.
gekauft: er ist jetzt Anthropologe am Max-Planck-Institut ;)

viele Grüße in den Süden
Isegrims


Hallo RinaWu

schön, dass du meiner Geschichte einen Besuch abgestattet hast und sie so genau analysierst. Als ich hier mein ersten Geschichten gepostet habe, war ich so unsicher, dass ich beinahe jeden Änderungsvorschlag übernommen habe. Haute fühle ich mehr Sicherheit und überlege mir bereits beim Schreiben, was ich warum mache. Deine kritischen Anmerkungen verstehe ich, werde sie aber größtenteils nicht umsetzen. Ich möchte den Text nicht in eine Richtung verändern, die nicht zu dem passt, was ich beschreibe.


Der erste Satz, irgendwas stört mich da. Ich glaube, es ist dieses "Der Schlaf verließ mich". Das ist mir irgendwie zu umständlich, da habe ich gleich am Anfang irgendwie abweisend reagiert. Aber das ist nur mein persönlicher Geschmack. Mir wäre hier etwas Klareres lieber. "Nächtelang lag ich schon wach und verbrachte ..." oder sogar ganz weglassen und anfangen mit "Ich verbrachte meine Nächte mit Büchern und fremden Gedanken. Die Tage versanken in Ödnis." Das wäre klar und der Gegensatz Nacht-Tag wäre schön deutlich. Der dritte Satz "Selbst eine neue Frisur half nichts" stört mich in der Tat so richtig. Das passt so gar nicht da rein und macht auch, finde ich, keinen Sinn. Was hat denn eine neue Frisur mit Schlafproblemen oder der Ödnis der Tage zu tun?
sie möchte so sehr, dass sich in ihrem Leben etwas verändert, raus aus ihrer Vakuumglocke, deshalb die neue Frisur, deshalb die Bücher und deshalb Paul. Das soll der Leser erkennen.

Ich hörte die brüllenden Geräusche der Fahrzeuge mit den Lichtern, die wie Fühler die Umgebung abtasten, fragte mich, warum wir uns selbst und unsere Sehnsüchte in den Dingen, die wir benutzen und mit denen wir uns umgeben, spiegeln.
Das verstehe ich nicht. Wie kommt sie plötzlich auf so einen Gedanken? Was ist der Auslöser
es gibt überhaupt keinen Auslöser für solche Gedanken. sie sind rein assoziativ. Sie sieht die Autos, das reicht. Ist das bei dir anders?

Der Anblick war vertraut, wie die Hundehäufchen auf dem Asphalt, die Bierdosen und Flaschen, die vor den Häusern abgestellt werden.
Zeitenwechsel. Ich würde ein "jeden Tag" oder "immer" vor "vor den Häusern abgestellt werden" setzen, oder aber insgesamt beim Präteritum bleiben, sonst klingt das holprig, finde ich.
den Wechsel der zeiten sehen manche kritisch, kann ich verstehen, aber bei ihr vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart und das kann der Leser ruhig bemerken.

Dann sog ich mit offenem Fischmund gleichmäßig feuchte Luft ein und der Zorn legte sich.
Den Fischmund pack ich hier gar nicht. Wer saugt den mit einem Fischmund die Luft ein? Da entstehen ganz komische Bilder in meinem Kopf ...
nichts als ein Bild, der Fischmund

Der Auslöser der Kamera klackte.
Sorry, vielleicht bin ich zu doof. Wer macht denn da ein Foto?
sie, wer sonst, auch das zu erkennen, kann ich vom Leser erwarten.

Er saugte und schleckte über meinen Hals und nickte ein.
Das soll so klingen, oder? Da wurde mir gleich komisch, klingt irgendwie eklig. Aufdringlich, viel zu nass, schmatzend.
:schiel:ja

Ich küsste ihn, steckte ihm die Zunge so tief es ging in den Mund.
Ja, pfui, mit Erotik hat es die Dame aber nicht. Aber okay, das ist schon gut so, auch die Sätze danach beschreiben gut, wie sie ihn am liebsten mit Haut und Haaren verschlingen will.
sie will ihn verschlingen, sicher

Die Protagonisitin ist für mich nicht zuverlässig, wer weiß schon, was real ist, und was nicht? Ist Paul überhaupt real?
das ist so eine Frage :Pfeif:

Ist es vielleicht die Protagonisitin, die krank ist, und Leonie deshalb vielleicht selbst als Hexenkind betrachtet?
da spricht einiges dafür

diesen Tonfall habe ich bisher in noch keiner deiner Geschichten gehört, das ist echt was Neues und das ist super.

vielen Dank und liebe Grüße
Isegrims

geht weiter

 

Hallo Isegrims,

noch einmal kurz zurückgemeldet :)

sie möchte so sehr, dass sich in ihrem Leben etwas verändert, raus aus ihrer Vakuumglocke, deshalb die neue Frisur, deshalb die Bücher und deshalb Paul. Das soll der Leser erkennen.
Okay, verstehe. Dann lese ich das hier einfach anders. Die Bücher standen für mich eher dafür, dass sie gegen die schlaflosen Stunden ankämpft, nicht für Veränderung. Aber so liest eben jeder eine Geschichte anders.

es gibt überhaupt keinen Auslöser für solche Gedanken. sie sind rein assoziativ. Sie sieht die Autos, das reicht. Ist das bei dir anders?
Tut mir leid, aber da sehe ich den Zusammenhang einfach nicht. Aber auch das kann durchaus nur mein Problem sein. Wenn ich an etwas denke, gibt es eigentlich schon immer irgendeinen Auslöser, und sei er noch so klein. So empfinde ich das zumindest.

sie, wer sonst, auch das zu erkennen, kann ich vom Leser erwarten
Ich schreibe ja später, dass es sich aufklärt. Sorry, aber im ersten Moment hat sich das mir in dieser ersten Szene eben nicht erschlossen, deswegen habe ich dir meinen Leseeindruck mitgeteilt. Für mich klang es eher so, als würde jemand hinter ihr ein Bild davon schießen. Aber wie gesagt, das klärt sich ja dann später auf.

Liebe Grüße
RinaWu

 

Hallo Isegrims,

eigentlich wollte ich Dir einen längeren Kommentar schreiben, komme aber weder dazu, Deine Geschichte eingehend zu lesen, noch dazu, mehr zu schreiben.

Aber einen kleinen Eindruck möchte ich Dir trotz des Zeitmangels geben.

Ja, sprachlich ist Dein Text kreativ, auch stark (soweit ich gekommen bin), es ist auch nicht so, dass mir das nicht gefällt, aber ich fühle mich beim Lesen wie ein Orang-Utan, der ein Buch über Quantenmechanik liest.

Ich versuche Dir das anhand der ersten Sätze zu erklären:

Der Schlaf verließ mich und ich verbrachte meine Nächte mit Büchern und fremden Gedanken. Die Tage versanken in Ödnis. Selbst eine neue Frisur half nichts. Dann tauchte er aus dem Nebel auf.

Der Schlaf verließ mich: Natürlich weiß ich, was Du damit vordergründig meinst. Aber, ich fange bei so einer Formulierung sofort an nachzugrübeln. Was bedeutet dieses Verlassen? Geht er für immer? Oder nur vorübergehend? Und wenn der Schlaf jemanden verlassen kann, wo geht er hin? Ist der Schlaf etwas, das einen eigenen Willen besitzt? Schließlich ist "verlassen" eine aktive, willentliche Handlung. Also müsste der Schlaf einen Willen besitzen. Wenn er diesen Willen besitzt, warum verlässt er dann den Protagonisten? Was hat der angestellt? Warum verlässt er ihn? Hat das Handeln des Protagonisten einen Einfluss auf den Willen des Schlafes?

und ich verbrachte meine Nächte mit Büchern und fremden Gedanken: Was ist der Unterschied zwischen Büchern und fremden Gedanken? Wenn ich zwei Begriffe in einer Aufzählung nebeneinander stelle, dann erwarte ich, dass diese Begriffe auf einer gleichen oder wenigstens ähnlichen Abstraktionsebene sind. Jetzt sind Bücher erst einmal Gegenstände, Gedanken aber nicht. Also was soll diese Aufzählung symbolisieren? Was steckt dahinter? Wahrscheinlich nichts weiter, aber ich bleibe bei so etwas hängen, gehe alle Möglichkeiten durch und lese erst dann weiter, wenn ich das Rätsel gelöst habe oder zum Schluss gekommen bin, dass es keine weitere Bedeutung gibt.

Die Tage versanken in Ödnis. Auch hier. Natürlich verstehe ich, was Du meinst. Aber ich fange dann eben trotzdem an zu denken. Wieso versinken? Bei "versinken" denke ich an etwas Flüssiges, also Wasser, Schlamm, Morast, Moor, was auch immer. Wie kann der Tag in Ödnis versinken? Ich bekomme da kein Bild in meinem Kopf, aber das Wort "versinken" provoziert in meinem Gehirn ein Bild, also ich denke ich weiter nach.

Selbst eine neue Frisur half nichts. Das war wenigstens einmal eindeutig für mich, auch wenn es ein Klischee ist, dass Frauen versuchen, Abwechslung/Ablenkung in ihr Leben mit einer neuen Frisur zu bringen oder sogar damit einen neuen Lebensabschnitt sichtbar machen.

Dann tauchte er aus dem Nebel auf. Auch hier verstehe ich natürlich was Du vordergründig sagen möchtest, aber dann geht das Gerattere wieder los. Auftauchen impliziert eine vertikale Bewegung, die aber nicht zum Nebel passt, außer Paul kommt einen Berg hoch und der Nebel hängt im Tal. Also warum auftauchen? Für was steht der Nebel? Für die graue Alltagssuppe? Usw.

Das nur so nebenbei. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass Dir das irgendwie weiterhilft, sondern Dir bestenfalls einen Einblick in meine etwas verkorkste Lesart gibt.

Aber das ist der Grund, weswegen ich Deine Geschichte nicht einfach mal eben schnell lesen und kommentieren kann.

Aber ich gebe (noch) nicht auf.

Beim nächsten Versuch, werde ich einfach mal über all diese Fragen hinweglesen. Vielleicht bekommst Du dann noch einen etwas hilfreicheren Kommentar von mir.

Gruß
Geschichtenwerker

 

Lieber Friedrichard,

ich danke dir für den zweiten Besuch. ;)

also das von dir genannte Lied ist nicht gemeint, sondern folgendes:

Schlaflied für Anne

Schlaf, Anne, schlaf nur ein, bald kommt die Nacht.
Hat sich aus Wolken Pantoffeln gemacht
Kommt von den Bergen, kommt von ganz weit.
Schlaf, Anne, schlaf nur ein, es ist Schlafenszeit.


Schlaf, Anne, schlaf nur ein, bald kommt der Mond,
der draußen hinter den Birnbäumen wohnt,
einer davon kitzelt ihn sanft am Kinn.
Lächelt der Mond und zieht leise dahin.


Schlaf, Anne, schlaf nur ein, bald kommt ein Traum.
Schlüpft dir zum Ohr hinein, merkst ihn erst kaum,
fährst auf dem Traumschiff ans Ende der Nacht,
bis dir der Morgen die Augen aufmacht.

von Fredrik Vahle


Das richtet sich sogar an Anna. :Pfeif:

übernimmt und in dem „schwarzen Hündelein“ schwingt dann die Angst vorm schwarzen Mann gleich mit. Aus der Erfahrung mit einigen Hunderudeln kann ich nur bestätigen, dass schwarze Hunde von Fremden oft als gefährlicher angesehen werden als helle, wobei die Fellfarbe überhaupt keinen Einfluss auf den Charakter des Tieres hat.
sehr interessant, das wusste ich nicht:hmm:


Der Schlaf verließ mich
in eineer eher ungewöhnliche Formulierung bedeuten.

Es klingt, als erhöbe sich der (zu personifizierende) Schlaf als vielgestaltiger Morpheus vom Beilager, statt dass die Erzählerin wie gewöhnlich auch bei andern Leuten üblich schlicht und einfach aus dem Schlaf aufzuwachen, also die Augen zu öffnen und das Bewusstsein einzuschalten, auf ein Tun, auf den der zwote Satz zu verweisen scheint
ich verbrachte meine Nächte mit Büchern und fremden Gedanken
, denn was ist das Bewusstsein anderes, als sich selbst zu ent-äußern und Äußerungen von anderen wahrzunehmen, wobei Anna eher von schlaflosen Nächten zeugt, die bei fehlendem Schlaf (wegen des Kindes schließ ich aus, dass mal eben ein Mittagsschlaf gehalten werden kann) zu „Ödnis“ des Bewusstseins führt, die Welt in Nebel verhüllt, aus dem dann das Licht der Hoffnung, „Paul“ (= der Kleine) =

der Schlaf ist ein Freund, der die Träume bringt und wenn man ihn nicht hat, wenn er einen verlässt, braucht man andere Träume, oder nicht?

dem grundsätzlichen Feind, von der Trennung des Spreus vom Weizen) abendländisches Kulturgut gerettet, dass nach acht Wochen wieder auf den Anfang der Erzählung zurückweist. Doch schon der Täufer führt das Abendland im Munde: "Schon hält er die Schaufel in der Hand; er wird die Spreu vom Weizen trennen und den Weizen in seine Scheune bringen; die Spreu aber wird er in nie erlöschendem Feuer verbrennen." (Matth. 3,12)
:Pfeif: in der Bibel findet sich so vieles

viele Grüße und einen schönen Wochenstart
Isegrims

wird bald fortgesetzt

 

... der Schlaf ist ein Freund, der die Träume bringt und wenn man ihn nicht hat, wenn er einen verlässt, braucht man andere Träume, oder nicht?
So weit, so richtig, aber ach,

liebe Isegrims,

wenn der Bruder des Schlafes vorbeischaut und weder eine Unterwelt noch ein Paradies oder -das warten?

Tschüss

Friedel

Ach so, genau das Lied meinte ich als das neuere ...

 

Hallo Bas

toller Kommentar, wirklich. Wenn meine Geschichte dich zum Nachdenken bringt und die Rätselhaftigkeit von Anna aufzeigt, ihre Verletzlichkeit, die Sehnsucht nach Liebe und die Schwäche, die sie in sich trägt, wenn sie zu einer realen Person wird, dann kann ich gar nicht mehr wollen mit diesem Text.

ich würde gerne von dir geliebt werden. Denn wie du (bzw. die Protagonistin) ihr Verliebtsein zu Paul am Anfang beschreibt, finde ich sehr schön und glaubwürdig.
:shy:was für ein Kompliment, o my god

Der Dialog ab
Zitat Zitat von Isegrims
„Wollte bei dir sein heute Nacht“, sagte er.
sagt mir irgendwie nicht so zu. Warum?
Zitat Zitat von Isegrims
„Weiß nicht genau, ein Gefühl.“
Irgendwie kommt der mir nicht echt vor. Eher wie eine Person, die Selbstgespräche führt. Aber wie gesagt - nur ein Gefühl.
sie gibt wieder, an was sie sich erinnert

Aber dann passiert etwas Komisches: Deine Protagonistin wird unglaubwürdig. Wenn irgendein Psychopath mit Bohrmaschine vor meinem Kind stehen würde, würde ich als Mutter mit Sicherheit nicht ruhig fragen
Zitat Zitat von Isegrims
„Was soll ich bemerkt haben?“
sondern hysterisch werden, panisch auf den Kerl eindreschen oder irgendwas anderes Unüberlegtes tun.
was wissen wir über unsere Reaktionen? Das läuft nicht so wie in Hollywood.Filmen.

Hier erklärst du diesen Umstand ja sogar, aber für mich hat es mein tolles Bild von der taffen Gogo-Mutti mit ihren Ängsten und Sehnsüchten stark angekratzt, wenn nicht sogar zerstört.
Anna ist nicht taff

Bis auf diese letzte Sequenz aber eine tolle Geschichte von dir, die mich mitgenommen hat, danke dafür.
dankeschön :Pfeif:

Die von dir angemerkten Formulierungen, das Poetische, wie es andere genannt haben, ich finde, dass das zu dem Text passt und ändere da im Augenblick nichts.

Zitat von Isegrims
Ein Gegenstand löste sich aus dem Nebel, den er mit der rechten Hand umklammerte, der sich nach und nach aus dem Nebel löste, die Wirklichkeit sichtbar machte, den Traum versinken ließ, während er selbst reglos blieb.Leonies Mund war offen.
Zwei mal die Nebellösung, Leerzeichen nach blieb
super, die Dopplung habe ich entfernt.

Vielleicht wäre es noch unglaubwürdiger, wenn sie genau das getan hätte, was ich erwartet habe. Das Unvorhersehbare im Handeln eines Menschen macht ihn doch erst menschlich. So oder so ähnlich.
was wirklich passiert ist, wiher wissen wir das?

lieben Gruß
Isegrims´

wird fortgesetzt

 

Hallo Carlo Zwei

ach, das ist ein toller Kommentar. Ich spüre wie genau du dich mit dem Tonfall und der Sprache auseinander gesetzt hast. Mir war es wichtig, der Geschichte einen Sound zu unterlegen, der zu der verwirrten Anna passt, zu ihrer verstörten Seele und den Grausamkeiten, die sie umgeben.

Einige deiner Anmerkungen habe ich übernommen, siper, vielen Dank. :thumbsup:

und ich liebte die harten Wölbungen des Bauches
vielleicht lieber "seinen Waschbrettbauch" oder so ähnlich. Harte Wölbungen im Bauchbereich rufen bei mir, sorry, eher so Bilder von Säuferbäuchen hervor, hahh
deb Einwand verstehe ich, andererseits klingt Waschbrettbauch nicht gut, kein schönes Wort und ich denke, dass die Schwabbelbacuh-Assoziation zwar möglich ist, aber der Leser eher nicht daran denkt, so, wie ich es beschreibe.

Dann sog ich mit offenem Fischmund gleichmäßig feuchte Luft
merkwürdiges Bild
haben schon ein paar Keute gesagt, aber mir gefällt das Bild, denk mal zum Beispiel an Trump, der spricht auch mit nem Fischmund, vielleicht sollte ich "mit Trumpmund" schreiben:D

Die Wut, die aus dem Nichts auftaucht und mich hilflos macht, ich hasse sie, weil sie mich an früher erinnert,
schwer vorstellbar, dass sie die Wut hasst in dem Moment, wo sie wütend ist, ihre (negativen, aggressiven) Emotionen also auf etwas anderes gerichtet sind.
immer wenn die Wut aufkommt, denkt sie daran, wollte ich ausdrücken

wieder ein guter Wortfluss finde ich. - ... Wortfluss, was für ein Wort
:Pfeif:

Mein Blick blieb auf dem Foto von Leonie hängen, das ich gerahmt auf die Kommode gestellt habe.
bist du dir hier sicher mit der Zeitform?
auch so ein Ding, ich wollte da zeigen, dass sie einen Unterscheid macht zwischen dem,w as ist und dem, was war.

viele Stellen in deinem Text haben mir gefallen, vor allem die ganz dichten Sprachgebilde.
wie schön:Pfeif:


Liebe Grüße und pass(t) auf, der Sturm soll übers Land fegen
Isegrims

muss schlafen gehen

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Isegrims,

jetzt habe ich Deine Geschichte endlich durchgelesen.

Die Probleme, die ich in meinem vorherigen Kommentar angesprochen habe, sind immer noch vorhanden und ziehen sich durch den Text.

Verstehe mich nicht falsch. Ich finde die Kreativität, die hinter diesen vielen Vergleichen und Bildern steckt, sehr schön. Aber diese, wie soll ich sagen, immer leicht danebenliegenden Vergleiche, dieses immer etwas Schräge, hindert mich daran, tief in Deinen Text einzutauchen.

Ich persönlich glaube, dass der Text noch stärke wäre, wenn Du dieses Mittel gezielter, fokussierter einsetzen würdest, um bspw. die schräge Persönlichkeit Deiner Protagonisten gezielt an bestimmten Stellen zu zeigen. So wummern diese Bilder für mich durch den Text, wie ein Technobass vom Nachbarn, der mich beim Lesen stört.

Ein Bild finde ich übrigens wirklich unpassend:

Leonie lachte lauthals, ihre Stimme dröhnte, jagte wie ein Gummiball durch den Raum.

Als Vater von drei Kindern muss ich einfach lachen, wenn ein Gummiball durch den Raum jagt. Da denke ich an wilde, ungezügelte Kinderenergie, was natürlich an der Stelle gar nicht passt. Jetzt ist aber nicht jeder Vater/Mutter und von daher haben andere Leser das Problem wahrscheinlich nicht.

Die Geschichte selbst zieht sich etwas für mein Empfinden. Du könntest wahrscheinlich am Anfang etwas kürzen (z. B. in den Absätzen ab "Zu Hause" und auch den nachfolgenden).

Der Moment, an dem die Geschichte kippt, ist gut, weil überraschend, aber auch irgendwie so überraschend, dass man beim Lesen nochmal zurückspringt, weil man denkt, man habe etwas übersehen.

Die Konturen des Armes, die Muskeln, kamen zum Vorschein. Wenn er jetzt aufgestanden und zu mir gekommen wäre, hätte ich ihn verschlungen. Aber das geschah nicht. Stattdessen näherte sich der Bohrer, das pralle, grüne Gehäuse des Akkugeräts, Leonies Kopf.

Man ahnt es natürlich schon vorher, dass irgendetwas merkwürdig ist, aber man rechnet eben nicht gleich mit einer lebensbedrohlichen Situation (wenn es denn überhaupt so passiert ist und nicht irgendein Bild für eine anderer Tat darstellen soll, da kann man viel hineininterpretieren, aber ich habe es jetzt einfach mal für bare Münze genommen.).

Wenn Du magst, könntest Du schon vorher mehr Andeutungen machen, die in Richtung Gewalt gehen (z. B. Austreiben von Dämonen/Teufel oder sowas. Anbieten würde sich das in einem Gespräch mit dem Pater). Der Überraschungseffekt wäre dann immer noch erhalten, aber man würde schneller verstehen, was passiert, womit vielleicht dieses Zurückspringen vermieden wird.

Hier fehlt übrigens ein Leerzeichen:

Wirklichkeit sichtbar machte, den Traum versinken ließ, während er selbst reglos blieb.[Leerzeichen]Leonies Mund war offen.

Soviel von mir. Mein Zeitkontingent ist leider erschöpft, deswegen muss ich hier aufhören.

Vielleicht kannst Du damit ein wenig anfangen.

Ansonsten, starker Text. Hat echt Spaß gemacht, zu lesen!

Gruß
Geschichtenwerker

 

Hallo Isegrim,
puh, ich bin so froh, dass die kleine Leonie tatsächlich ein Hexenkind war. Alle Kinder sollten dies Kräfte haben, wenn ihnen etwas angetan wird und gleichzeitig so unschuldig kindlich sein wie Leonie. Dann wäre die Welt wirklich besser! Ich hatte solche Angst um die Kleine, die Überraschung ist dir gelungen!
War mittendrin, habe alles gesehen, gerochen, geschmeckt und erlebt. Im Zoo fand ich die greißen Affen besonders gut, gut beobachtet.

Auch das Horrorszenarium, lebendig und überzeugend:

Ich schrie mit einer Stimme, die ich nicht kannte

Ich brachte keinen Ton raus, sank auf den Boden,
Es heißt ja, dass eine Mutter ungeheure Kräfte freisetzt, wenn ihr Kind in Gefahr ist. Nichts dergleichen habe ich empfunden. Ich erstarrte und mein Kopf war leer, alles war leer in mir.

Das ist ja eine der Opfer-verhöhnenden Mythen: entwickelst du keine Superkräfte, wie NORMALE Opfer in diesem Falle, bist du kein Opfer, sondern hast das alles gewollt.
Dann ist sie ja auch noch nur Hobbymutter und überhaupt...
Du entlarvst diese Scheinheiligkeit, Danke!

Wenn ich den Kopf an seine Bizeps lehnte,
seinen (ein Kopf - an einem Bizeps)

Er nahm meine Hand, streichelte sie, küsste meine Haare, ließ die Hand wieder los.
küsste mein Haar (sinnlicher, als wenn er die einzelnen Haare ansabbert)

Ein Gegenstand löste sich aus dem Nebel, den er mit der rechten Hand umklammerte, der sich nach und nach aus dem Nebel löste, die Wirklichkeit sichtbar machte, den Traum versinken ließ, während er selbst reglos blieb.Leonies Mund war offen.
Er umklammert den Nebel. Das ist mystisch, passt irgendwie - absichtlich?
Zwischen den Sätzen fehlt ein Leerzeichen.

Sehr gerne gelesen.
LG Damaris

 

Hallo RinaWu

noch ein paar Worte zu deiner zweiten Anmerkung:

es gibt überhaupt keinen Auslöser für solche Gedanken. sie sind rein assoziativ. Sie sieht die Autos, das reicht. Ist das bei dir anders?
Tut mir leid, aber da sehe ich den Zusammenhang einfach nicht. Aber auch das kann durchaus nur mein Problem sein. Wenn ich an etwas denke, gibt es eigentlich schon immer irgendeinen Auslöser, und sei er noch so klein. So empfinde ich das zumindest.

Die von dir erwähnte Stelle hat einen Auslöser. Sie verbindet jede Form von Wut mit ihrem Vater, jedenfalls ist das ihre erste Assoziation.

Ich war wütend, wollte ihm das Gesicht zerkratzen, blieb stehen. Das Display starrte mich an. Dann sog ich mit offenem Fischmund gleichmäßig feuchte Luft ein und der Zorn legte sich. Die Wut, die aus dem Nichts auftaucht und mich hilflos macht, ich hasse sie, weil sie mich an früher erinnert,

Liebe Grüße
Isegrims

Hallo Geschichtenwerker

entschuldige, dass ich so viel Zeit verstreichen lasse, bis ich antworte. Ich kann Kommentare nicht gerade schnell verarbeiten und brauche für eine Antwort mitunter sehr viel länger wie für einen fremden Text, zu dem ich etwas schreibe.

Ja, sprachlich ist Dein Text kreativ, auch stark (soweit ich gekommen bin), es ist auch nicht so, dass mir das nicht gefällt, aber ich fühle mich beim Lesen wie ein Orang-Utan, der ein Buch über Quantenmechanik liest.
toller Vergleich, ein Orang-Utan :D

Wenn er diesen Willen besitzt, warum verlässt er dann den Protagonisten? Was hat der angestellt? Warum verlässt er ihn? Hat das Handeln des Protagonisten einen Einfluss auf den Willen des Schlafes?
wenn ich schreibe: der Schlaf verließ mich, dann benutze ich eine ungewöhnliche Formulierung, die all die Assoziationen zulässt. Wenn ich schreibe: sie konnte nicht schlafen, dann erreiche ich nichts dergleichen.

und ich verbrachte meine Nächte mit Büchern und fremden Gedanken: Was ist der Unterschied zwischen Büchern und fremden Gedanken?
das ist bloß auf den ersten Blick etwas Ähnliches. Fremde Gedanken können Angst, Hoffnung enthalten, Bpücher auch, aber die Gedanken gehören mir.

Die Tage versanken in Ödnis. Auch hier. Natürlich verstehe ich, was Du meinst. Aber ich fange dann eben trotzdem an zu denken. Wieso versinken? Bei "versinken" denke ich an etwas Flüssiges, also Wasser, Schlamm, Morast, Moor, was auch immer. Wie kann der Tag in Ödnis versinken?
jennst du das nicht? Wenn die Ödnis, die Einsamkeit, dich in einen Sumpf versenkt? Eine depressive Stimmung, die sich ausbreitet.

Selbst eine neue Frisur half nichts. Das war wenigstens einmal eindeutig für mich, auch wenn es ein Klischee ist, dass Frauen versuchen
na ja, shoppen geht auch oder eine kosmetische Behandlung oder Prosecco/Champagner mit Freundinnen :lol

Dann tauchte er aus dem Nebel auf. Auch hier verstehe ich natürlich was Du vordergründig sagen möchtest, aber dann geht das Gerattere wieder los. Auftauchen impliziert eine vertikale Bewegung, die aber nicht zum Nebel passt, außer Paul kommt einen Berg hoch und der Nebel hängt im Tal.
der Nebel hängt ja im Tal der fremden Gedanken :Pfeif:

Lieben Dank und viele Grüße
Isegrims

geht weiter

 

Hallo Isegrims,

entschuldige, dass ich so viel Zeit verstreichen lasse, bis ich antworte. Ich kann Kommentare nicht gerade schnell verarbeiten und brauche für eine Antwort mitunter sehr viel länger wie für einen fremden Text, zu dem ich etwas schreibe.

Kein Problem, dass das Zeit benötigt. Außerdem war das ein Kommentar, der, wie ich auch angedeutet habe, wenig hilfreich ist. Dieses lange darüber Nachdenken, ob die Formulierung wirklich zu 100% passt oder nur zu 98%, macht praktisch sowieso kein Leser und diese minimalen Abweichungen fallen auch fast niemanden auf.

Insofern sind solche Kommentare von mir weniger hilfreich. Bei Deinem Text waren nur so viele Bilder/Vergleiche, die nur zu "98%" gepasst haben, dass es mir in der Summe tatsächlich zu viel war (siehe auch mein anderer Kommentar) und dann glaube ich, zumindest ist das meine Erfahrung, dass es auch "normalen" Lesern auffällt, vielleicht nicht direkt, aber unbewusst.

Die Assoziationen, die Du beabsichtigst, funktionieren übrigens schon, auch bei mir.

Für mich ist das übrigens der Kern

dann benutze ich eine ungewöhnliche Formulierung, die all die Assoziationen zulässt.

Du hast völlig recht, dass das Abweichen von normalen Formulieren Assoziationen zulässt. Die Frage ist nur, wohin diese Abweichungen den Leser führen, wie oft und mit welchem Ziel man Abweichungen einsetzt, wie sehr sie den Lesefluss stören, etc.

Nehmen wir noch einmal die ersten vier Wörter:

Der Schlaf verließ mich

Hier schreibst Du aus der Sicht des Schlafes, denn das aktive Handeln "verlassen" vollzieht der Schlaf und nicht die Protagonistin.

Das finde ich ungewöhnlich, aber auch merkwürdig.

Du hättest ja auch aus der Sicht der Protagonistin schreiben können. Natürlich ist "sie konnte nicht schlafen" langweilig. Aber mir hätte einfach eine Formulierung aus Sicht der Protagonistin besser gefallen, weil ich dann Assoziationen vielleicht zu einer selbst erlebten Schlaflosigkeit hätte (hin und her wälzen, in der Dunkelheit die Bücher im Regal zählen, Schäfchen zählen; liegen, wälzen, auf Toilette gehen, wieder liegen, Wasser trinken, weiterliegen, eine warme Milch machen ...), so denke ich über den personifizierten Schlaf nach, der durch die Dunkelheit stapft und Deine Protagonistin verlassen hat, die Beziehung zu ihre quasi aufgekündigt hat.

Naja, wie gesagt, Du brauchst auf den Kommentar auch nicht zu antworten, denn dieses "Draufrumdenken" liegt an mir. Die meisten Leser denken sicherlich an der Stelle einfach "ach, die kann nicht schlafen" und lesen weiter.

Gruß
Geschichtenwerker

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Friedrichard,

... der Schlaf ist ein Freund, der die Träume bringt und wenn man ihn nicht hat, wenn er einen verlässt, braucht man andere Träume, oder nicht?

wenn der Bruder des Schlafes vorbeischaut und weder eine Unterwelt noch ein Paradies oder -das warten?

diesen Gedanken philophischer Art möchte ich nicht verhauchen und unkommentiert lassen,
Ja, der Tod wird gemeinhin als der Bruder des Schlafes betrachtet, ich weiß, aber wenn er die großen Träume bringt, wenn Bruder und Schwester überhaupt irgendwelche Träume bringen, dann ist nichts verloren, selbst dann nicht, wenn das Paradies fern ist.

Liebe Grüße und einen tollen Schwesternstart in die Woche
Isegrims

Hi Geschichtenwerker,

lieben Dank. Als hättest du mit der Geschichte gekämpft, dem Tonfall gerecht werden wollen, so kommt's mir vor und wenn das so ist, dann ist mir etwas gelungen, das für mein Schreiben, jedenfalls auf dem derzeitigen Niveau, wichtig ist.

Ich finde die Kreativität, die hinter diesen vielen Vergleichen und Bildern steckt, sehr schön. Aber diese, wie soll ich sagen, immer leicht danebenliegenden Vergleiche, dieses immer etwas Schräge, hindert mich daran, tief in Deinen Text einzutauchen.
Der Effekt, den du ansprichst, den finde ich wichtig. Sprache, mitsamt ihren Wendungen, führt uns zu Erwartbarem und wenn die Erwartungen durchbrochen werden, kann ja auch eine neue Intensität entstehen, weg von dem allzu oft Benutzten. Diesen Weh will ich weiter gehen.

Ich persönlich glaube, dass der Text noch stärke wäre, wenn Du dieses Mittel gezielter, fokussierter einsetzen würdest, um bspw. die schräge Persönlichkeit Deiner Protagonisten gezielt an bestimmten Stellen zu zeigen.
das wiederum kann durchaus sein. Ich spiele damit und nähere mich der Protagonistin dadurch, könnte fokussierter sein.

Ein Bild finde ich übrigens wirklich unpassend:

Leonie lachte lauthals, ihre Stimme dröhnte, jagte wie ein Gummiball durch den Raum.
Als Vater von drei Kindern muss ich einfach lachen, wenn ein Gummiball durch den Raum jagt. Da denke ich an wilde, ungezügelte Kinderenergie, was natürlich an der Stelle gar nicht passt. Jetzt ist aber nicht jeder Vater/Mutter und von daher haben andere Leser das Problem wahrscheinlich nicht.

mm, weiß nicht, damit wollte ich auch die Erregung der Situation an sich zeigen.

Wenn Du magst, könntest Du schon vorher mehr Andeutungen machen, die in Richtung Gewalt gehen (z. B. Austreiben von Dämonen/Teufel oder sowas.
ja, könnte etwas bringen, darf aber nicht dazu führen, dass der Leser zu früh Bescheid weiß.

Ansonsten, starker Text. Hat echt Spaß gemacht, zu lesen!
:Pfeif:

Vielen Dank, Geschichtenwerker, toller Kommentar
liebe Grüße
Isegrims


Hallo Damaris

ach, dein Besuch freut mich, vielen Dank.

Alle Kinder sollten dies Kräfte haben, wenn ihnen etwas angetan wird und gleichzeitig so unschuldig kindlich sein wie Leonie.
unbedingt, Kinder und alle, die zu schwach sind, sich zu wehren

Im Zoo fand ich die greißen Affen besonders gut, gut beobachtet.
:D ist ja auch nicht schwer mit Affen, da braucht man nicht so viel vergleichen

Es heißt ja, dass eine Mutter ungeheure Kräfte freisetzt, wenn ihr Kind in Gefahr ist. Nichts dergleichen habe ich empfunden. Ich erstarrte und mein Kopf war leer, alles war leer in mir.
Das ist ja eine der Opfer-verhöhnenden Mythen: entwickelst du keine Superkräfte, wie NORMALE Opfer in diesem Falle, bist du kein Opfer, sondern hast das alles gewollt.
Dann ist sie ja auch noch nur Hobbymutter und überhaupt...
Du entlarvst diese Scheinheiligkeit, Danke!
ist wie mit den Männern, die qua narura Helden sein müssen, Ritter und wie mit den Politikern, die nicht korrupt sind. :Pfeif:

Sehr gerne gelesen.
dankeschön:shy:

Liebe Grüße und viel viel Erfolg mit deinen Auftritten in München, klasses Ding
Isegrims

zu deinen Erläuterungen, Geschichtenwerker

Außerdem war das ein Kommentar, der, wie ich auch angedeutet habe, wenig hilfreich ist. Dieses lange darüber Nachdenken, ob die Formulierung wirklich zu 100% passt oder nur zu 98%,
für mich sind deine Anmerkungen sehr hilfreich. Sie zeigen mir, dass es gelingt, durch eine Art Verfremdung den Fokus eines Lesers neu auszurichten.

dann benutze ich eine ungewöhnliche Formulierung, die all die Assoziationen zulässt.
Du hast völlig recht, dass das Abweichen von normalen Formulieren Assoziationen zulässt. Die Frage ist nur, wohin diese Abweichungen den Leser führen, wie oft und mit welchem Ziel man Abweichungen einsetzt, wie sehr sie den Lesefluss stören, etc.
stimmt, über die Häufigkeit solcher Formulierungen lohnt es sich nachzudenken.

Der Schlaf verließ mich
Hier schreibst Du aus der Sicht des Schlafes, denn das aktive Handeln "verlassen" vollzieht der Schlaf und nicht die Protagonistin.
ja, warum nicht? Gerade weil meine Protagonistin sich dem Leben so passiv aussetzt.

so denke ich über den personifizierten Schlaf nach, der durch die Dunkelheit stapft und Deine Protagonistin verlassen hat, die Beziehung zu ihre quasi aufgekündigt hat.
das sagt eben eine Menge über sie aus.

Liebe Grüße und danke für deine Gedanken
Isegrims

 

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