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Schlaf, Kindlein, schlaf nur ein
Der Schlaf verließ mich und ich verbrachte meine Nächte mit Büchern und fremden Gedanken. Die Tage versanken in Ödnis. Selbst eine neue Frisur half nichts. Dann tauchte er aus dem Nebel auf. Alles war anders an Paul, ich konnte ihn nicht berechnen, er antwortete, bevor ich etwas fragte, erstaunte mich, zog mich an und brachte die Träume zurück. Er erzählte begeistert von einem Schmetterlingsschwarm, den er in Südamerika gesehen hatte, und im nächsten Moment von der Verbindung zu Gott, die er in jeder Faser seines Körpers und Geistes spüre. Die Lebendigkeit, sein unmittelbares Da-Sein machte ihn zu einem unerwarteten Glück. Vielleicht hätte ich Angst haben müssen. Stattdessen entstand Hoffnung, als hätte ich ein zufällig gefundenes Samenkorn eingepflanzt und daraus wüchse ein Stiel empor, Blätter bildeten sich und ich sehnte mich nach der Blüte. Die Zeit, acht Wochen, seit ich ihn kannte, verrauschte in einem Dauerlächeln.
Der Sommer war längst vorbei und die nebligen Tage angebrochen, die Straßen, Plätze, Häuser und Gärten in das schemenhafte Licht eines undeutlichen Traums getaucht, als ich die Zeichen zum ersten Mal bemerkte. Ein Dämmerzustand, ein Nicht-Wirklich-Wach-Werden umfasste mich.
Auf dem Weg zu meiner Wohnung hallten die Worte des Professors nach, der wie ein runzliger Tom Cruise aussah. Ich versuchte mir zu merken, was er über die Preisbildung im Rahmen der Spieltheorie gesagt hatte, erinnerte mich aber nur daran, dass jeder Preis der Vorstellungskraft des Käufers schmeicheln müsse. Feuchtigkeit kroch mir in die Nase, breitete sich im Mund und auf der Haut aus. Ich fröstelte und schloss den Reißverschluss meiner Windjacke bis obenhin.
Paul wollte vorbeikommen. Ich freute mich auf seine Lippen, wollte ihn spüren, mich an ihn lehnen, seinen Ledergeruch aufsaugen, die Augen schließen und eins mit ihm sein. Er zog mich an, ich konnte mich gegen ihn nicht wehren, wollte es auch nicht und musste mich beherrschen, ihn nicht bei jeder Gelegenheit anzufassen. Obwohl er nicht muskelbepackt war wie andere Kerle, aber er fühlte sich fest an und ich liebte die harten Wölbungen des Bauches, der Hüften und des Hinterns. Wenn ich den Kopf an seinen Bizeps lehnte, wenn er sich zu mir beugte, mich mit seinen dunklen Augen anschaute und ich der tiefen Stimme zuhörte, die mich kitzelte und mich innerlich aufschreien und schaudern ließ, als jagte ein zuckender Orgasmus über mich hinweg. Etwas schmolz in mir, ich machte mich ganz klein und fühlte mich geborgen. Zum Glück bemerkte er das nicht. Zumindest sprach er nie davon.
Von der Bahnstation bis zu meinem Apartment begegnete ich kaum Menschen und alle, die ich sah, eilten in sich versunken an mir vorbei. Ich hörte die brüllenden Geräusche der Fahrzeuge mit den Lichtern, die wie Fühler die Umgebung abtasten, fragte mich, warum wir uns selbst und unsere Sehnsüchte in den Dingen, die wir benutzen und mit denen wir uns umgeben, spiegeln. Einige Wohnblocks waren besprayt, Buchstaben, rundlich ausgeformte Initialen in bunten Farben, rot, grün, gelb. Der Anblick war vertraut, wie die Hundehäufchen auf dem Asphalt, die Bierdosen und Flaschen, die vor den Häusern abgestellt werden. Anfangs nahm ich es gar nicht wahr, wie so vieles, das sich unter die Oberfläche unseres Bewusstseins legt, ohne jemals zum Vorschein zu kommen. Dennoch sah ich etwas Neues. Kreuze, Kreise, Runen, wie Chiffren einer Geheimsprache, mit Kreide auf die Mauern und Wände gleich neben den Eingängen gekritzelt, angebracht gerade an den Häusern, die bisher nackt, in makellosem Grau, Weiß oder Beige erstrahlten.
An der Bushaltestelle vibrierte das iPhone. Eine Nachricht von Paul.
„Kann leider heute nicht. Muss nem Freund helfen. Alles klar bei dir, Süße?“ Smiley mit Grinsebacke. Küsschen. Rose.
Ich war wütend, wollte ihm das Gesicht zerkratzen, blieb stehen. Das Display starrte mich an. Dann sog ich mit offenem Fischmund gleichmäßig feuchte Luft ein und der Zorn legte sich. Die Wut, die aus dem Nichts auftaucht und mich hilflos macht, ich hasse sie, weil sie mich an früher erinnert, an Vater, der mit einem Ruckeln und Zischen, das sich stets anhörte, als entferne er den Kronkorken einer seiner Bierflaschen, die Schnalle öffnete, den Gürtel aus den Schlaufen zog, und mich zu sich zwang, ohne auf meine Tränen zu achten.
„Okay. Meld dich einfach“, schrieb ich zurück. Ohne Smiley. Ohne Küsschen.
Vor mir auf der Wand bemerkte ich ein weiteres Zeichen. Ein schiefes Kreuz, von einem Kreis umgeben, hingeschmiert, ungleichmäßige Linien, an der Spitze ein Pfeil, der nach oben zeigte, ein Finger zum Himmel gereckt. Der Auslöser der Kamera klackte.
Zu Hause roch ich schale Luft, vermischt mit dem Schweiß der Nacht und der Suppe, die ich am Tag zuvor gegessen hatte. Ich riss alle Fenster auf. Wind zischte über Möbel und verstreute Kleider. Die Blätter der Palme bewegten sich, winkten mir, verspotteten mich. Der Wasserkocher blubberte und ich brühte mir den grünen Tee auf, den mir Xin aus China mitgebracht hatte. Die Blätter sind zu einem Ring gepresst und ich muss sie mit aller Kraft abreißen, um aus ein paar Krümeln einen starken, nach Heu duftenden Tee zu brauen. Nachdem ich die Fenster wieder geschlossen hatte, ließ ich den Duft durch den Raum ziehen, entspannte mich und kramte das iPhone aus der Tasche. Keine Nachrichten. Ich drehte die Musik lauter. Coldplay. ‘A Head full of Dreams’. Mein Herz wurde leichter. Ich tanzte durch die Wohnung und grinste dabei, versank in mir selbst, jeder Gedanke verschwand, versickerte, bis nichts mehr übrig war, außer der puren Seele, einer saftigen Frucht, deren Kern sich im Fruchtfleisch versteckt, hart, bissfest und wenn man ihn zertrümmert, findet sich darin eine Nuss, die von einer zarten Haut umgeben ist, eine Babuschka, ein Rätsel.
Die Stimme von Chris Martin verstummte, ein Reporter erzählte etwas von einem Sturm, der über die Stadt brausen sollte, von Starkregen und heftigem Wind. Mein Blick blieb auf dem Foto von Leonie hängen, das ich gerahmt auf die Kommode gestellt habe. Das Lächeln meiner Tochter beruhigte mich endgültig, ich hoffte, ich hoffte so sehr, dass ich sie eines Tages zu mir zurück holen könnte, stellte mir ihren Geruch vor, die feine Haut, die Augen, die ein Spiegel von mir selbst waren, die Verbindung zwischen uns. Mit diesem Bild im Kopf schlief ich ein.
Ein paar Tage später holte Paul mich nachts aus dem Schlaf. Es dauerte, bis ich die Klingel hörte, weil ich von einem Sommerspaziergang träumte, dem Regen, der aufkam, Blitze sah, den Donner im Unterleib spürte und Unterschlupf in einem lichten Birkenhain fand, bis die Sonne wieder strahlte.
Er roch nach Zigaretten, Knoblauch und Wodka, als er mich in die Arme nahm, meine Augen, meinen Mund küsste, zitterte und schwieg. Im Bett schmiegte er sich an mich, mit einer Inbrunst und Sehnsucht, dass ich die Knochen spürte, die Muskeln, die Wärme. Ich liebte den Haarflaum auf seinem Bauch, der sich gegen meinen Rücken drückte und den Schwanz, der sich zwischen die Pobacken schob. Dennoch bewegte ich mich nicht. Statt mich an ihm zu reiben, die Gier zu steigern, ihn verrückt zu machen, führte ich Pauls Hände zu meinen Brüsten und strich über die Konturen seiner Finger, wollte eine Feder sein. Er saugte und schleckte über meinen Hals und nickte ein. Ich dachte wieder an den Sommertraum, aus dem ich aufgeschreckt war.
Er war früh wach. Ich hörte das Wasser der Dusche plätschern, ein Rascheln, als er sich die Hose anzog, die Vibration, das Kitzeln an den Ohren, als er mir zuflüsterte, dass er Brötchen hole und bereitete Espresso mit geschäumter Milch für ihn vor. Das mochte er und lächelte mir entgegen, als er die dampfende Tasse bemerkte. Neben den Augen bildeten sich Grübchen. Sein Nachtgeruch war verflogen, ich schnupperte an ihm wie ein Hund, der sich ein persönliches Aroma merken wollte.
„Wollte bei dir sein heute Nacht“, sagte er.
„Warum?“
„Weiß nicht genau, ein Gefühl.“
„Ist gut, so ein Gefühl.“
„Ja, vielleicht Bestimmung mit uns.“
„Mm, ja, vielleicht. Und wohin führt das?“
„Das weiß keiner. Ich muss sesshaft werden, weißt du. Ah, da fällt mir ein: Du hast gesagt, dass deine Tochter dich besucht. Wann kommt sie?“
„Nächsten Samstag. Ist was her. Vier Wochen. Sie war letztes Mal erkältet. Ich hasse den Scheiß mit dem vierzehntägigen Besuchsrecht.“
„Bin gespannt.“
„Magst du Kinder?“
„Ja, hab viele kennengelernt. Afrika ist ein Land voller Kinder.“
„Gut. Wir müssen was mit ihr unternehmen.“
„In die Stadt?“
„Ja, Kleider kaufen.“
„Wir könnten mit ihr in den Zoo gehn.“
„Super Idee, wird ihr gefallen. He, warum hast du selbst keine Kinder?“
„Mm, keine Ahnung, kann ja noch kommen.“
„Du, Paul?“
„Ja?“
„Ich glaube, du würdest gut aufpassen auf deine Kinder.“
„Klar, man muss gut aufpassen auf das, was man liebt. Du hast mir nie erzählt, warum Leonie nicht bei dir wohnt.“
„Siehst du doch. Ich bin eine arme Studentin.“
„Trotzdem, ein Kind muss bei der Mutter sein.“
Ich küsste ihn, steckte ihm die Zunge so tief es ging in den Mund. Dann zog ich ihn zu mir, aß ihn auf, zerfloss und spürte Paul tief in mir. Wir lagen nackt und schweigend nebeneinander, Millimeter trennten uns, die Haut mit einem Film bedeckt.
Die Zeichen auf der Mauer fielen mir wieder ein und ich zeigte ihm das Foto. Er richtete sich auf, die Beine baumelten über dem Boden, er beugte sich tief zum Display herab und löste die Haltung nicht, während er mit mir sprach.
„Sag mal, kennst du diese Zeichen?“
„Glaub schon.“
„Was bedeuten sie?“
„Habe ich in Afrika oft gesehen. In den markierten Häusern wohnen Hexen.“
„Hexen?“
„Ja, so werden Häuser von Hexen oder Hexenkindern gekennzeichnet.“
„Glaubst du daran?“
„Kein Scheiß. Hexen sind gefährlich. Ich hab welche gesehen im Kongo. Die bringen Unglück, Krankheiten, so Zeug.“
„Blödsinn!“
„Ist es nicht! Wo hast du die Zeichen gesehen?“
„Hier in der Straße.“
„Schau ich mir an.“
Leonie mochte ihn. Es sah vertraut aus, wie er mit ihr lachte und plauderte. Sie nahm unsere Hände, wir warfen sie in die Höhe, bis sie vor Vergnügen jauchzte. Die Flamingos flogen auf der Wiese vor dem Raubtierhaus auf, als wir an ihnen vorbei lachten. Ein intensiver Geruch aus Kot, Futter und Heu schlug uns drinnen entgegen. Leonie ließ mich los, tänzelte mit Paul im Gleichschritt zu den Barrieren und Gittern, thronte auf seinen Schultern. Ein Leopard lag, die Beine weit von sich gestreckt, in einer Ecke und riss gähnend sein Maul so weit auf, dass die Reißzähne, gelbliche Hauer wie Pfeilspitzen, deutlich sichtbar wurden. Leonie gestikulierte, als wolle sie das Tier begrüßen und zu einer Bewegung veranlassen. Ohne auf sie zu achten, als ertrüge er den Anblick des Tieres nicht, ging Paul weiter, während meine Tochter einen letzten Blick auf den Leoparden warf. Weiter zum Exotarium mit den Pinguinen, zu den Menschenaffen, die ernst glotzten, wie Greise, die im Altersheim sitzen und sabbern. Zu den Bären, die sich um Futter balgten.
Ich stand abseits, dachte über Paul nach und es wurde mir warm ums Herz. Er war viel älter als ich, zehn Jahre Unterschied, war klug, hatte die Welt gesehen, Afrika, Amerika, und einen richtig guten Job als Anthropologe am Max-Planck-Institut. Mir schwirrte der Kopf beim ersten Date und im Bauch türmten sich Sterne. Dabei wollte ich nie einen Kerl über ein Dating-Portal kennenlernen.
Leonie und Paul befanden sich in einer Vakuumglocke und ich davor. Mit Paul könnte es klappen, Leonie zu mir zu holen. Peter, mein Ex, wäre wahrscheinlich froh. Er ist Staatsanwalt und lebt mit einer anderen Frau, die selbst Kinder hat. Das ist der Unterschied. Ich bin nichts, eine Studentin, eine Frau auf der Suche, die dreimal in der Woche nachts im Club arbeitet, betrunkenen Typen Bier und Shots bringt, lächelt und die Leute bei Laune hält. Das mag ich. Bis zu Leonies Geburt habe ich im Käfig getanzt. Peter hat mich im Club gesehen und angesprochen. Meine Moves wären was Besonderes, sagte er. Titten und Arsch meinte er. Paul habe ich bisher nichts vom Go-Go-Dancing erzählt. Weil er gläubig ist und in die Kirche geht. Ich wollte es unbedingt richtig machen, lieben.
Als ich bei ihnen war, brauchten sie eine Weile, bis sie mich überhaupt bemerkten. Ich musste Paul erst am Arm berühren und mich bemerkbar machen. Er sah mich an, als wäre er aus einem Traum erwacht, hob Leonie von seinen Schultern, stellte sie auf den Boden.
„Genug jetzt.“ Paul veränderte sich im selben Augenblick, als Leonie wieder die Erde berührte, er verhärtete, wie ich ihn nicht kannte. Schweigend lief er neben uns her. Leonie löste sich von ihm. Auf dem Weg zum Aquarium begegneten wir Familien, die ihren Kindern Getränke und Sandwiches reichten. Leonie schielte nach ihnen und erklärte, dass sie Durst habe. Wortlos zog Paul los, um Wasser und Saft zu kaufen. Wir stießen mit Plastikflaschen an und saugten an dem Wassereis, das er uns in die Hand drückte.
„Ich will die bunten Fische sehen!“
„Wie bunt sind die?“, fragte Leonie.
„Ganz bunt. Alle möglichen Farben“, antwortete Paul.
„Auch pink?“
„Mm. Vielleicht finden wir welche, die pink sind. Suchen wir sie zusammen?“
„Oh ja!“
„Wenn du einen pinken Fisch siehst, bekommst du eine Überraschung.“
„Ein Riesen-Eis?“
„Verrate ich nicht.“
In der dritten Halle erstrahlten die Farben der Fische. Leonies Augen weiteten sich. Sie raste zwischen den Glasfronten hin und her.
„Die da sehen pink aus.“
„Nein, die sind rot. Siehst du, was für lustige Flossen die haben? Gezackt, wie Kronen. Und sie flattern im Wind.“
„Gibt es im Wasser Wind?“, fragte sie Paul.
„Na ja, Wellen sind ein bisschen wie Wind.“
„Schau mal, die sind aber pink.“
„Na ja, hellrot.“
„Fast pink.“
„Und die?“
„Sind gelb. Guck mal, wie sie leuchten.“
Sie einigten sich darauf, dass die hellroten Fische pink wären.
Danach standen wir vor den Becken mit den Haien. Leonie rannte hin.
„Wie schön die sind!“, murmelte sie.
Sie glitten ohne erkennbare Mühe elegant durch das Wasser und lachten fratzenhaft. Leonie war fasziniert.
„Du darfst ihnen nicht in die Augen schauen. Haie sind die Teufel der Meere“, sagte Paul.
„Was ist ein Teufel?“
„Etwas ganz Böses.“
„Lass sie mit sowas in Ruhe, Paul. Sie ist ein Kind.“
„Sie muss kapieren, was gut und böse ist. Wer Gott und wer Teufel ist. Wegen der Dämonen. Die entern dich, wenn du dich nicht wehrst. Deswegen schaut der Hai deine Tochter an.“ Danach schwieg Paul.
„Was denkst du, Leonie? Lust auf shoppen?“
„Klar, Mama.“
„Was dagegen, wenn ihr alleine in die Stadt geht?“, fragte Paul.
„Wann krieg ich die Überraschung?“, wollte Leonie wissen.
„Wart mal kurz.“
Er kaufte ihr einen Teddybär mit dem Logo des Zoos, drückte ihr das Plüschtier in die Arme, lachte nach innen und verschwand.
Das komplette Trinkgeld der letzten Woche gab ich für ein gelbes Kleidchen, Lackschuhe, Tops, Strumpfhosen, einen breiten Gürtel mit Glitzersteinen, ein Trägerkleid und eine mintgrüne Hose aus. Ich ärgerte mich, dass wir aufhören mussten, weil mein Portemonnaie leer war und dachte mir, dass ich mit Table-Dance anfangen sollte. Mich vor den Kerlen ausziehen und ihnen dabei auf den Schwanz starren, damit sie die Scheine aus der Tasche ziehen, machte mir nichts aus, gefiel mir sogar. Paul dürfte ich niemals davon erzählen. Unmöglich.
Das Klingeln an der Haustür ließ mich aufschrecken. Paul war nicht allein, brachte einen Mann mit, über dessen Gesicht sich ein Streifen Bewuchs zog, der mich an englischen Rasen erinnerte. Sie blickten mich an, als kämen sie aus der Kirche.
„Das ist Pater Christopher. Er ist der Pfarrer unserer Gemeinde. Hab ihn zum Abendessen mitgebracht. Ist okay, oder?“
Anfangs war ich sauer und dann fühlte es sich gut an. Er vertraute mir. Ein Geistlicher, bestimmt ein Freund, als ob ich bei seinen Eltern eingeladen wäre, um mich einer Prüfung zu unterziehen. Meine Frisur fiel mir ein, ich musste unbedingt vor den Spiegel, die Jeans loswerden und vor dem Essen in ein Kleid schlüpfen.
„Freut mich, dich kennenzulernen, Anna! Und das ist deine liebe Tochter. Sie heißt Leonie, nicht?“, sagte er.
Zum Glück hatte ich das Essen vorbereitet, ein Hühnchen im Ofen geschmort und mit Käse überbacken, mein Spezial-Gericht, gelingt mir immer. Es reichte für alle. Pater Christopher stopfte sich erst den Mund und begann danach zu kauen. Nach den freundlichen Worten zur Begrüßung, kümmerten sie sich nicht mehr um mich. Im Gegenteil. Ich spielte eine Dienerin, die dafür sorgen musste, ihre Mägen zu sättigen, Gläser zu befüllen. Die klassische Frauenrolle, die ich hasse und dennoch ausfüllte. Wegen Paul, weil es für ihn wichtig war, ihm das Gefühl gab, eine richtige Frau zu haben. Ich wollte die Idylle, ich wollte sie unbedingt.
Die Männer beschäftigten sich mit Leonie, sie zeigten ihr, wie man das Essen segnet und lasen ihr aus einer Mini-Bibel vor, die Christopher aus der Jackentasche zog. Ein Gleichnis aus dem Neuen Testament: ‚Vom Unkraut unter dem Weizen‘. Den Titel hörte ich, während ich in der Küche beschäftigt war, mehr nicht. Zum Nachtisch servierte ich Eis mit Himbeeren. Die heißen Beeren flossen wie Lava über Gestein und bildeten eine Haut, die das Darunterliegende versteckte. Über und über beschmierte sich Leonie das Gesicht, schlang das Eis in sich, ohne darauf zu achten, wie viel sie auf den Löffel häufte. Ihre Lippen waren so rot, als hätte sie sich meinen Dior-Lippenstift genommen und sich damit geschminkt. Die Männer starrten sie an, die Unterhaltung verstummte und ich riss hastig ein Küchentuch von der Rolle, um ihr Gesicht zu säubern. Sie blickte mich enttäuscht an, weil sie vergeblich auf die Küsse wartete, mit denen ich ihr die süßen Reste sonst vom Gesicht schlecke.
„Wird Zeit fürs Bettchen, Prinzessin!“
„Jetzt schon?“
Den Mokka, den ich den Männern zubereitete, füllte ich in die Wedgwood-Tässchen mit dem Goldrand, die mich an die Großmutter erinnerten, an ihre Seidenkleider, an ihre Flüsterstimme. Sie stammten aus ihrem Nachlass und Oma Sabina strömte aus ihnen zu mir. Die Tassen dampften und an der Oberfläche schwammen Schlieren. Danach brachte ich Leonie in ihr Zimmer und sang ein Gute-Nacht-Lied mit ihr.
‚Schlaf, Kindlein, schlaf nur ein.‘
Leonie drückte die Lider fest zusammen, aber ich spürte, dass sie wach bliebe, bis draußen die Stimmen erloschen.
Den restlichen Abend nahm ich durch einen Schleier wahr und genoss den Grünen Veltliner, der nach Heu roch. Immerhin beachteten sie mich. Sie sprachen über Erziehung und Gott. Genau erinnere ich mich nicht. Paul brachte den Freund bis zur Straße. Ich hörte sie über die Treppenstufen poltern. Wir räumten danach auf. Über das benutzte Geschirr ließ ich kaltes Wasser laufen, bevor ich es in die Spülmaschine steckte. Unsere Körper berührten sich und zuckten zurück, als wäre die Müdigkeit zu groß, als gäbe es eine unbekannte Barriere. Im Bett drehte ich mich zur Seite und schloss die Augen. Er nahm meine Hand, streichelte sie, küsste meine Haare, ließ die Hand wieder los.
Mitten in der Nacht wachte ich auf. Paul lag nicht neben mir und ich hörte ein leises Murmeln aus der Ferne. Benommen stand ich auf und überlegte, woher es kam. Meine nackten Füße glitten über das Parkett. Ich schwebte, weil ich in Wirklichkeit im Bett lag und auf den Sonnenaufgang wartete, die orangerote Kugel suchte, die morgens am Horizont erschien.
Die Tür war angelehnt. Leonies Zimmer, das ich für ihre Besuche eingerichtet hatte und sonst niemals benutzte, füllte sich mit Grauschattierungen und Konturen. Ohne Sonne gibt es keine Farben. Was ich sah, schlich sich langsam in mein Bewusstsein, fügte sich nach und nach zu einem Bild. Ich saugte die Luft tief ein, um die Wirrnis zu ordnen. Leonie lag tief versunken auf dem Rücken, die Beine angewinkelt, einen Arm zwischen Rücken und Matratze versteckt. Die Bienen auf dem Stoff ihres Schlafanzugs surrten mir entgegen. Sie war aufgedeckt. Paul kniete vor dem Bett. Er bemerkte mich nicht. Seine Schultern schimmerten, als wären sie eingeölt. Er murmelte etwas, das ich nicht verstand, ein Sing-Sang in einer Sprache, die ich nicht kannte. Silben, die wie Vogelgezwitscher klangen. Währenddessen wippte er mit dem Oberkörper, um eine Trance aufrechterhalten, die ich nicht verstand. Ich wollte schreien und konnte nicht. Ein kalter Stein verschloss meinen Mund. Ein Gegenstand löste sich aus dem Nebel, den er mit der rechten Hand umklammerte, der sich nach und nach aus dem Nebel löste, die Wirklichkeit sichtbar machte, den Traum versinken ließ, während er selbst reglos blieb.Leonies Mund war offen. Ich sah, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte, wollte zu ihr, um sie zu bedecken. Pauls Mund hörte auf, sich zu bewegen und er richtete den Oberkörper gerade. Die Konturen des Armes, die Muskeln, kamen zum Vorschein. Wenn er jetzt aufgestanden und zu mir gekommen wäre, hätte ich ihn verschlungen. Aber das geschah nicht. Stattdessen näherte sich der Bohrer, das pralle, grüne Gehäuse des Akkugeräts, Leonies Kopf. Er streifte ihre Haare zur Seite und setzte an. Ich schrie mit einer Stimme, die ich nicht kannte und Paul schreckte auf, drehte sich um, kein Erstaunen in den leeren Augen.
„Es muss sein, Anna. Sie ist ein Hexenkind. Ich muss die Dämonen verjagen.“
„Geh weg von ihr!“
Es schauderte mich, ich zitterte vor dem Fremden und bemerkte den Blutstropfen auf der Kopfhaut meiner Tochter. Sie fing an, sich zu bewegen und suchte nach der Bettdecke. Ich wollte zu ihr.
„Hast du es nicht bemerkt, Anna?“
Mit einem Eisengriff umfasste er meinen Arm und schleuderte mich weg.
„Was soll ich bemerkt haben?“
„Sie ist besessen, ein Hexenkind!“
Ich brachte keinen Ton raus, sank auf den Boden, während der Bohrer vor meinen Augen hin und her schwang wie ein Taktstock, mit dem er die Rede unterstützen wollte.
„Ich habe den Pfarrer geholt, um sicher zu gehen. Gibt keinen Zweifel. Christopher hat das Zeichen am Haus angebracht. Er ist sich sicher. Das Haus ist markiert, lässt sich nicht ändern. Geh jetzt raus! Wenn ich fertig bin, ist alles gut. Glaub mir, Anna.“
Es heißt ja, dass eine Mutter ungeheure Kräfte freisetzt, wenn ihr Kind in Gefahr ist. Nichts dergleichen habe ich empfunden. Ich erstarrte und mein Kopf war leer, alles war leer in mir.
„Paul, Liebster, bitte!“, heulte ich.
Stille. Keine Reaktion. Danach geschah ein Wunder. Leonie hatte sich aufgerichtet, aus ihren Augen schoss Feuer. Im Zimmer regte sich etwas, das wir nicht sahen. Daran erinnere ich mich. Paul sank in sich zusammen, als ertrage er nicht, was jetzt den ganzen Raum füllte, jede Faser, jedes Staubkörnchen, jedes Atom ergriff. Er zögerte, schnaufte, schwitzte und streckte ihr mit letzter Kraft den Bohrer entgegen. Leonie lachte lauthals, ihre Stimme dröhnte, jagte wie ein Gummiball durch den Raum. Während er einen weiteren Schritt auf sie zu machte, beschleunigte sich die Zeit.
Am Ende einer Kette von Ereignissen, die mich verwirrte, keinen Anfang, kein Ende kannte, lag Paul auf dem Teppich mit den bunten viereckigen Rastern, die den Hintergrund für Schmetterlinge und Blumen bildeten. Der Bohrer steckte im Auge, Blut sickerte über das Gesicht. Er wimmerte und verlor das Bewusstsein. Ich konnte mich ihm nicht nähern.
Leonie hielt ihre Lieblingspuppe Penny im Arm, die in einem rotkarierten Kleidchen steckte, schmiegte sich an mich und sagte nichts. Wir flüchteten aus dem Zimmer und legten uns in mein Bett, ganz eng beieinander, suchten mit geschlossenen Augen die Sterne am Himmel und warteten. Die Tränen verdampften, ich fühlte mich leicht und stark, weil ich plötzlich wusste, dass ich nicht einmal die Augen öffnen brauchte, um zu sehen, dass alles, alles in mir war. Die Zeichen in meinem Herzen verschwanden. Das Gepolter der Schritte im Treppenhaus, das zitternde Licht des Krankenwagens änderte nichts an der Sicherheit, die ich bis heute empfinde.