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- Anmerkungen zum Text
Es gibt eine Vorgeschichte zur Schattenhedda, die aber zum Verständnis dieser Geschichte hier nicht gelesen werden muss (bzw. war das zumindest meine Intention). Ruben und Inga hatten früher bereits einen Auftritt in dieser Geschichte.
Schattenhedda
Jeder im Dorf kennt die Hedda mit dem Strick um den Hals. Aber nur der kleine Ruben weiß Bescheid. Dass man die alte Hedda schon vor dreihundertunddreiundvierzig Jahren zum Tod am Galgen verurteilt hat. Sie aber nicht sterben wollte. Sie nicht mal mit den Beinen gezappelt hat, nur die Lippen haben sich bewegt, während sie jedem der Schaulustigen in die Augen starrte und für alle kommenden Generationen verfluchte. Nur den Henker hat sie vergessen. Weil der ja hinter ihr stand. Und der Henker war der Urururururgroßvater vom Ruben.
Die Erwachsenen wissen, dass der kleine Ruben bloß Schauermärchen erzählt. Und dass die Hedda in Wahrheit einfach verrückt ist. Sich den Strick selbst umgelegt hat, zu welchem Zweck auch immer, und jetzt also wie eine Kette um den Hals trägt, wenn sie doch mal ihre Hütte verlässt und zum Laden geht oder zum Brunnen. Und schon deshalb hält sich jeder im Dorf von ihr fern, egal ob groß oder klein.
Im Frühling tanzt die Birke vor dem Fenster. Aufgeregt, weil etwas passiert. Die schuppigen Wümchen an den Enden der Zweige pendeln im Wind hin und her, klopfen gegen die Scheibe, als wollten sie sagen: Komm raus zum Spielen, wie früher.
Aber ich bin zu alt. Deshalb gehe ich auch nur noch zum Laden, nirgendwo sonst hin. Wasser holen am Brunnen noch, aber sonst bin ich hier, in meiner Hütte, sitze auf dem Stuhl neben dem Fenster oder liege im Bett. Stehe am Herd, wenn ich muss. Schaue nach draußen und warte und weiß doch nicht, worauf.
Ich kenne die Schatten in der Hütte. Ich weiß, wie die Sonne sich bewegt, wie sie wandert. Ich weiß, dass der Henkel meiner Tasse jeden Morgen einen Bogen auf den Tisch malt, das weiß ich, weil ich dann die Fingerspitze in den Bogen lege, bis er enger wird, bis die Schlinge sich zuzieht, und erst im letzten Augenblick ziehe ich den Finger wieder raus. Ich weiß so vieles und nichts davon hilft.
Morgens schlage ich die Augen auf. Dass ich alt bin, spüre ich immer dann: Wenn ich dort liege und die Hüfte durch das Stroh auf den Boden sackt.
Neben dem Bett steht der Stuhl. Ich ziehe mich hoch, an der Lehne, und wenn ich stehe, muss ich mich wieder setzen. Und da sitze ich dann auf dem Stuhl, während die Sonne weiter wandert. Während meine Hüfte schmerzt und meine Beine.
Ich könnte aufstehen und vor die Tür gehen und die ersten Blätter von der Birke pflücken. Ich könnte mich an den Herd stellen und die Blätter aufkochen, ich weiß, das würde helfen gegen die Schmerzen, gegen die Entzündung, ich könnte so vieles, wenn ich könnte.
Am Stamm der Birke sitzt ein Porling. Ein dicker, weißbrauner Pilz. Wie ein Mund. Zwei aufeinandergepresste Lippen. Ein unausgesprochenes Geheimnis. Ich weiß, dass der Porling den Stamm faulen lässt, er macht das Holz von innen heraus brüchig, ich könnte rausgehen mit meinem Messer und ihn abschneiden, man kann den Porling auch essen, aber das Holz würde weiter verfaulen.
Neben dem Porling sitzt ein Falter. Ein Spanner. Er hat dieselbe Farbe wie die Rinde. Schwarzweiß gefleckt. Und ich frage mich, ob er zuerst weiß war und die Flecken erst später kamen, mit dem Leben und den Gedanken, und so sitze ich hier auf meinem Stuhl in meiner Hütte. Schaue aus dem Fenster und denke nach. Über Pilze und Falter. Und das Kind. Das blonde Mädchen, das seit Neustem um meine Hütte schleicht.
Eine Narbe zieht sich durch ihr Gesicht. Quer durch das Auge. Sie spielt. Ausgelassen. Fast entrückt. Setzt einen Fuß vor den anderen und geht auf einer geraden, unsichtbaren Linie und ich denke mir: Jetzt hangelt sie über einen Abgrund. Sie dreht sich mit ausgestreckten Armen im Kreis und dabei hüpft sie und ich weiß: Jetzt kann sie fliegen. Und später liegt sie im Gras auf dem Rücken, schaut hinauf in die Wolken, und ich weiß: Jetzt sieht sie exotische und ausgestorbene Tiere, Hyänen und Mammuts. Mystische Wesen, Greifen und Drachen, ich weiß nicht. Aber ich ahne, dass sie fortwill, etwas plagt sie, wen nicht.
Denn da ist noch was. Sie ist schreckhaft. Wie ein Kaninchen. Eben noch Kind, nur Spiel, ganz Traum, reißt sie den Kopf rum, wirft ihn zur Seite, die geflochtenen Zöpfe wirbeln wild über die Schulter. Sie steht da wie erstarrt. So lange, dass es mich wundert, dass ich mich frage, was sie sieht, wo sie ist, doch da schüttelt sie den Schreck schon wieder ab, mit einem Lächeln. Rollt mit den Augen. Sagt sich selbst: Du Dummi, wovor hast du Angst. Und ich wüsste einiges, würde sie fragen. Es gibt Winkel in meinem Kopf, da halte ich mich fern.
Im Sommer ist das Laub der Birke sattgrün. Reflektiert das Licht und wirft gelbe Punkte an die Wände der Hütte.
Das Fenster steht offen, lässt Luft herein und Geräusche. Ich höre die Blätter rascheln, aber nicht alle Zweige machen mit. Manche sind kahl, die Blätter abgenagt von glänzenden Käfern. Wieder andere rascheln ganz besonders. Aufgeregt, weil etwas passiert.
Das Mädchen schlägt Räder. Ich weiß es, ohne hinzusehen: Es ist Abend, die Sonne steht tief und die Schatten ihrer Beine werfen kreisende Mühlräder an meine Wände, schneiden durch gestapelte Töpfe und Teller. Ich sitze da, angespannt. Lächerlich, ich warte auf das Klirren und das Poltern und am liebsten würde ich schreien, auch um sie zu verjagen, das Mädchen, Inga.
Ihr Name ist Inga. So hat er sie gerufen, der Mann. Vielleicht ihr Vater. Ich habe ihn nur gehört, nicht gesehen. Obwohl ich mich ein wenig vorgebeugt habe auf meinem Stuhl. Das einzige, was ich gesehen habe, war Inga. Die sich versteckt hat. Im Gestrüpp vor meiner Hütte. Denn wie ich die Birke kenne, kenne ich auch das Gestrüpp, das wuchernde Unkraut, und ich habe sie nicht wirklich gesehen, nur das Loch in den Halmen. Das empörte Kopfschütteln des Unkrauts, empört über das Kind, das da zwischen ihm liegt und Schutz sucht. Das Gestrüpp würde Inga verraten, so viel ist klar. Würde dem Vater zurufen, wenn es könnte. Und ich könnte. Könnte rufen: Hier ist dein Blag, nimm es mit! Und überhaupt, warum treibt sie sich hier herum, was will sie hier, sie soll mich in Ruhe lassen, ich brauche Ruhe! Stattdessen lehne ich mich leise zurück in den Stuhl. Sehe dabei zu, wie die Schatten in der Hütte wachsen, lausche dem Gesang der Amsel. Bis ich weiß, dass er fort ist. Bis mein altes Herz sich beruhigt. Bis nur noch Schatten ist in der Hütte, bis das Kaninchen aus seinem Bau schlüpft.
Vier und vier. Finger wie Schattenraupen auf meinem Fensterbrett. Ich sitze direkt daneben. Könnte sie berühren, die Raupen zerquetschen. Ich sitze an der Wand und bete, dass ihre Finger mich nicht sehen.
»Bist du eine Hexe?«, flüstert es da in den Raum hinein.
Ihr Kinn zwischen den Fingern. Die kleine Nase in der Hütte.
Und ich sage nichts. Zwei aufeinandergepresste Lippen. Schaue bloß. Zwei trübe Augen.
»Mein Bruder sagt, dass du eine Hexe bist.«
Ich höre sie atmen. Sie raubt mir die Luft, als wäre es ihre.
»Ich mag meinen Bruder nicht.«
Wenn die Zunge zu lange im Mund liegt, wird sie dick, schwillt sie an. Wenn die Lippen zu lange aufeinandergepresst werden, kleben sie aneinander. Ziehen Fäden, wenn der Mund sich dann öffnet, rosa Haut, die spannt und einreißt, und die Worte kommen an Land wie Kaulquappen, gehören nicht hier her.
»Dann muss ich deinen Bruder zu Suppe machen.«
»Hihi!«, machen die kleinen Raupen da und fallen nacheinander vom Fensterbrett, vier und vier und zwei wippende Zöpfe, die im Dunkeln verschwinden.
Draußen zirpen die Grillen. Bis sich der Atem beruhigt. Bis ich das Fenster verschließe.
Ich sitze das Leben aus. Sitze meinem Tod entgegen. Ich sitze im Dunkeln und im Hellen, im Dunkeln leuchtet die Rinde der Birke im Mondschein, im Hellen strahlt die goldgelbe Krone.
Nachts bin ich alleine. Am Tag kommt das Mädchen. Es ist Herbst, am Fuß der Birke wächst ein Fliegenpilz. Im löchrigen Blattwerk hat eine Spinne ihr Netz gespannt. Der Nebel schnürt Wasserperlen auf seidene Fäden. Eine Fliege verfängt sich im Netz. Das Netz sirrt, die Spinne rennt auf acht Beinen, die Tropfen fallen auf den gepunkteten Schirm. All das sieht Inga und ich sehe sie.
Meine Zunge liegt wieder im Mund begraben. Geschwollen und dick. Doch die Lippen sind rissig, formen jede Nacht Worte. Meine Hände greifen ins Dunkel. Packen zu.
Ich sehe Inga in den Schatten meiner Hütte, ich sehe ihren Vater auf acht Beinen. Ihren Bruder. Ich sehe all die Männer und die Narben, die sie reißen, wenn es ihnen danach ist und ich denke: Was glaubt ihr, wer ihr seid. Und: Was bildet ihr euch ein. Und: Wenn ich nicht so alt wäre!, und passt besser auf!, noch habe ich Kraft!, und ich stehe auf, Frau wie ein Baum, schnüre die Schuhe, nehme das Messer. Ich gehe zur Tür raus und schmecke Kälte, höre die Nacht, höre mich lachen, und da presse ich die Lippen aufeinander, mit Gewalt. Beiße mir die Wangen wund, bis ich blute. Bis ich Eisen schmecke. Gehe zurück in meinen Bau.
Weiß auf Weiß haftet der Schnee an der Rinde. Und trotzdem, beim ersten Licht des Tages ist die Birke fast blau.
Jeder im Dorf kennt die alte Birke neben Heddas Hütte. Und Ruben weiß Bescheid. Ruben weiß, dass Birken alt werden können. Dreihundertundvierunddreißig Jahre und älter. Das weiß er aus einem Märchen.
Nur dass die Hedda mal ein Kind war, weiß er nicht. Das weiß nur Inga. Und dass selbst ein Kind mal verfault. Wie die Birke, wenn der Porling das Holz bricht. Und wenn die schuppigen Würmchen im Frühling dann noch ein letztes Mal hin und her pendeln und gegen die Scheibe klopfen, als wollten sie sagen: Komm raus zum Spielen, wie früher, wird keiner mehr antworten, denn jetzt pendelt auch die Hedda im Wind, die Hedda mit dem Strick um den Hals, mit offenen Augen,
mit Augen
so weiß.