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Schattenbilder

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21.04.2015
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Schattenbilder

Dämmerung legt sich über den Verkaufsraum, als die Frau meinen Laden betritt. Jede ihrer Bewegungen scheint der Umgebung Licht zu entziehen, bis die Regale im Halbdunkel versinken. Ihr dunkles Haar fällt in schweren Locken über die Schultern, der fein geschwungene Lidstrich betont die mandelförmigen Augen, die aufmerksam den Raum abtasten. Sie erinnert mich an eine dieser klassischen Schönheiten auf Filmplakaten mit dem akkurat aufgetragenen dunkelroten Lippenstift und dem eng sitzenden Abendkleid. Sie lässt den Blick über die Fotografien und Apparate gleiten, hin und wieder streicht sie mit der fein manikürten Hand über Objektive oder Bilderrahmen.
Einige Männer im Raum beobachten die Frau verstohlen zwischen den Regalen hindurch, versuchen ihr Interesse zu verbergen, doch ich kann sehen, wie sie verstohlen die Position wechseln, um eine bessere Sicht auf die Fremde zu erhaschen. Ich habe noch nie einen Raum betreten und die Aufmerksamkeit auf mich gezogen, mir macht es Angst, wenn zu viele Menschen mich ansehen. Doch die Frau begegnet unseren Blicken mit einem Lächeln, das verrät, dass sie Situationen wie diese gewohnt ist.
Fasziniert mustere ich sie, die aufrechte Haltung, die zierlichen Schultern und den leicht zur Seite geneigten Kopf. Frauen wie sie sind mir ein Rätsel, ihre Eleganz schüchtert mich ein. Ich sehe an mir herunter und schäme mich für die abgewetzte Jeans und den fusseligen Pullover.
„Gehört Ihnen der Laden?“ Ihre dunklen Augen erinnern mich an tiefe Brunnen.
„Ja, richtig, das …“ Ich breite die Arme aus, lasse sie aber sofort wieder fallen und verschränke sie vor der Brust. „Das ist mein Geschäft.“
Sie zwinkert mir zu. „Schön haben Sie es hier.“ Ihre tiefe Stimme legt sich um mich wie schwarzer Samt.
Sie sieht zu den Fotografien hinüber, nimmt sich Zeit für jedes Bild, bevor sie sagt: „Sie haben ein gutes Auge.“
„Danke, das ist … Ich habe schon immer …“ Sie betrachtet mich aufmerksam, ihren Blick auf meine Lippen geheftet. Ich streiche mir eine Haarsträhne aus der Stirn und schaffe es schließlich, ein „Danke, das ist nett von Ihnen“ hervorzustoßen. Blut schießt mir in die Wangen und ich senke den Kopf, tue so, als durchsuche ich die Aufträge auf meinem Tisch, um die Hitze im Gesicht wieder unter Kontrolle zu bekommen.
„Haben Sie morgen schon etwas vor?“
Ruckartig hebe ich den Kopf. „Morgen? Ich … Nein, also, ich bin hier im Laden, aber ich könnte natürlich in der Mittagspause …“
Sie zwinkert mir erneut zu und senkt ihre Stimme. „Ich möchte Bilder von mir anfertigen lassen, die etwas … Nun, sagen wir, intim sind. Deshalb ist es mir wichtig, dass sie eine Frau macht. Eine andere Sichtweise, Sie verstehen?“
Mein Blick schießt durch den Raum. Die Männer im Laden halten Kameras in der Hand, starren auf sie herunter oder sehen sich betont entspannt im Verkaufsraum um. Die Fremde lehnt sich zu mir über die Theke, verdreht die Augen und zuckt mit den Schultern.
„Als hätten die noch nie eine nackte Frau gesehen, was?“, flüstert sie. Zwischen uns fängt die Luft an zu vibrieren, ich fühle mich mit ihr verbunden, ganz unvermittelt und intensiv. Der Boden schwankt, ich halte mich an der Tischkante fest und nicke ihr zu.
„Sie können morgen Vormittag vorbeikommen, sagen wir, gegen elf?“
„Perfekt.“
Sie legt ihre Hände auf die Theke. Ich betrachte die helle Haut, die schmalen Finger. Kein Schmuck, nur dunkelroter Nagellack, sorgfältig aufgetragen. Die Außenseite ihrer rechten Hand liegt ganz nah neben meiner.
„Ich hätte da noch eine Bitte“, sagt sie.
Ich blicke fragend auf.
„Es ist sicher ein wenig ungewöhnlich, aber ich sage es einfach frei heraus: Ich möchte gerne mit dieser Kamera von Ihnen fotografiert werden.“
Die Frau zieht eine Polaroidkamera aus ihrer Tasche und legt sie vor mir auf die Theke. Ich nehme sie in die Hand, begutachte sie. Das Plastik ist kalt und klebrig, widerwillig sehe ich mir das Gerät noch ein paar Sekunden länger an, obwohl ein leiser Ekel in mir aufsteigt.
„Das … Sind Sie sicher? Das ist ein ziemlich altes Gerät.“ Ich lege die Kamera auf den Tresen und wische mir die Hände an der Hose ab. „Die Filme sind schwer zu bekommen, mal ganz abgesehen von der Qualität, da gibt es …“
„Die Qualität ist besser als jede andere“, fällt sie mir ins Wort. Ihre Stimme hat plötzlich einen kalten Schneid, der mich zusammenzucken lässt.
„Verzeihen Sie.“ Sie schüttelt den Kopf, den Blick auf die Kamera gerichtet. „Es ist ein Erbstück meiner Mutter. Sie … Vor ein paar Jahren, da …“
Ihre Augen werden glasig. Erschrocken suche ich nach Taschentüchern, finde schließlich eine Packung neben der Kasse und reiche sie ihr. Sie tupft sich vorsichtig die Augenwinkel ab und sieht zu mir auf. Ihr Lächeln wirkt gebrochen.
„Ihr Tod war ein Schock für mich. Ich sollte es so langsam verarbeitet haben, aber es kämpft sich immer wieder seinen Weg nach oben. Gerne in den unmöglichsten Momenten.“
Ich lege meine Hand auf ihre. Sie ist weich und kühl. „Ich verstehe, was Sie meinen.“
Sie nickt und flüstert: „Ich weiß.“
Ich ziehe die Hand zurück und schlucke. „In Ordnung“, sage ich. „Ich kann diese Kamera benutzen, wenn Sie möchten. Der Preis für die Aufnahmen richtet sich dann entsprechend danach, wie lange wir brauchen.“
Ich bemühe mich, professionell zu klingen.
„Danke.“ Sie lächelt mich an. „Bis morgen.“
Die Frau dreht sich um und verlässt den Laden. Durch die Schaufensterscheibe verfolge ich ihre grazil schwingende Silhouette, bis sie sich am Ende der Straße zwischen den Menschen verliert. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie mir ihren Namen nicht genannt hat.

Der Schlüsselbund fällt klirrend auf den alten Dielenboden. Ich bücke mich danach und lasse ihn kopfschüttelnd in die Schale fallen, die auf der kleinen Kommode links neben der Tür steht. Links. Nicht rechts. Rechts war früher. Rechts war in der anderen Wohnung. Die, in der seine dunklen Umrisse schon auf mich warteten, als ich den Flur betrat. Regungslos saß er am Küchentisch. Das Licht machte er immer erst an, wenn ein paar Sekunden Dunkelheit vergangen waren, um mich mit toten Augen anzustarren.
In der neuen Wohnung kann man vom Flur aus nicht in die Küche sehen. Ich muss erst ein paar Schritte gehen, die zweite Tür links führt hinein, sie schleift leicht über den Boden, weil der Rahmen verzogen ist. Die Vermieterin sagte mir, das könne man richten, aber das will ich gar nicht. Ich genieße das Schleifen, die knarzenden Holzdielen, die Wände, die beim Bohren zerbröseln, wenn ich nicht aufpasse. Die Wohnung ist alt, sie ist warm, ich kann barfuß durch den Flur laufen, ohne zu zittern. Ohne die Kälte zu spüren, die von unten meinen Körper hinaufkroch, wenn ich die Fliesen im Flur entlanglief, um nach ihm zu sehen.
Meine Hände fangen an zu zittern, ich fahre mir durch die Haare und atme tief durch. Ich streife die Schuhe von den Füßen und gehe durch das Wohnzimmer hinaus auf den Balkon. Von oben dringen die Stimmen der beiden Studentinnen zu mir herunter, die über einen ihrer Professoren herziehen, unter mir gießt die alte Dame mit den bunten Kleidern ihre Blumen. Ich lausche dem Plätschern des Wassers, den plappernden Stimmen der beiden Frauen, lehne mich an die Wand und schließe die Augen.

Seine Stimme hallt dunkel zwischen den Bäumen wider. Ich drehe mich im Kreis, suche hinter den Stämmen nach seiner hageren Figur, aber da ist nur feiner Nebel in dem dreckigen Zwielicht, das mich umgibt.
„Fassen Sie mich nicht an!“, brüllt er.
Ich stolpere über den von Wurzeln zerfressenen Boden, meine Wangen sind nass, ich muss ihn finden, ihn in den Arm nehmen, renne von Baum zu Baum, doch dahinter empfängt mich immer nur quälende Leere.
„Was machen Sie in meiner Wohnung?“
Seine Stimme zittert vor Angst, mein Herz vor Verzweiflung. Ich will nach ihm rufen, aber meine Lippen kleben aneinander fest, ich kann den Mund nicht öffnen, ich taste mit der Hand danach, aber da ist nur glatte, kalte Haut. Um mich herum wird es dunkler, die Äste der Bäume wachsen, greifen um sich, schlängeln sich um meine Füße.
Plötzlich sehe ich sein Gesicht, es schwebt zwischen den Stämmen, neigt sich sachte von links nach rechts. Die Falten um seine Augen sind tief in die Haut eingegraben, ich strecke die Hand nach ihm aus, will mit den Fingerspitzen an seinem Gesicht entlangfahren. Sein Blick liegt schwer auf mir, Erkennen flimmert über die Netzhaut. Er lächelt.
„Du siehst deiner Mutter so ähnlich.“
Ich versinke im schlammigen Boden, während sich die Äste immer enger um meinen Körper schlingen. Zischend sauge ich Luft durch die Nase ein, aber sie ist stickig, sie reicht nicht aus. Um mich herum wanken die Bäume, ich falle nach vorne, mit dem Gesicht im Matsch strample ich, versuche wieder aufzustehen, aber die Wurzeln halten mich fest. Erde dringt mir in die Nase, in die Ohren, die Dunkelheit, sie kommt von der Seite, von oben, immer näher, bis sie mich –

Keuchend fahre ich aus den Kissen hoch und japse nach Luft. Durch die halb heruntergelassenen Rollläden malt das Mondlicht kleine Kreise auf die Bettdecke. Ich wische mir über die Stirn und starre auf die schweißnasse Hand. Zupfe an dem T-Shirt, das mir am Rücken klebt.
Ich habe gedacht, ich hätte es geschafft. Drei Monate ohne Träume. Doch jetzt, jetzt schwebt sein Gesicht wieder vor mir, die zornigen Augen brennen mir ein Loch in den Bauch. Seine Stimme hallt noch immer durch den Raum, als versuche er, aus dem Traum zu mir ins Bett zu kriechen.
Ich ziehe mir eine Strickjacke über und gehe hinaus auf den Balkon. Der erste Zug der Zigarette legt sich neblig auf meine Lungen, ich spüre, wie mein Herzschlag langsam wieder zur Ruhe kommt.
Warum jetzt? Die Psychologin hat erst vor ein paar Tagen gesagt, ich mache große Fortschritte. Mir fallen ihre genauen Worte nicht mehr ein, aber ich erinnere mich an ihre aufmunternden Augen ...
Ich betrachte die Hausdächer, die der Mond mit silbrigem Licht übergießt. Mein Blick wandert die fremden Balkone entlang, ich stelle mir vor, wer wohl dort drüben wohnt, was er oder sie gerade träumt. Plötzlich sehe ich sie. Schräg gegenüber, auf einem der Balkone des Altbaus an der Ecke, steht eine schwarze Gestalt. Ich kann ihr Gesicht nicht erkennen, aber ich spüre, dass sie mich ansieht. Mich fixiert wie das Raubtier die Beute. Langsam hebt sie die Arme und hält etwas vor ihr Gesicht. Mein Puls rast, zitternd drücke ich die Zigarette aus und schlüpfe zurück in die Wohnung. Ich traue mich kaum, erneut hinüberzusehen. Versteckt hinter der Gardine spähe ich aus dem Fenster, doch die schemenhafte Gestalt ist verschwunden.

Die Ladenglocke klingelt. Mein Herz macht einen Satz, ich blicke zur Tür und halte den Atem an. Eine ältere Dame betritt das Geschäft.
Sie lächelt mich an und fragt: „Haben Sie Fotoalben?“
„Sicher. Dort hinten im Regal, neben den Bilderrahmen.“
Die Dame nickt mir zu und geht mit kleinen Schritten durch den Laden. Sie bleibt vor dem Regal mit den Fotoalben stehen, überlegt eine Weile und zieht schließlich eins heraus, um es eingehend zu betrachten.
Ich überlasse sie ihrem Auswahlverfahren und widme mich den wenigen offenen Rechnungen, die vor mir liegen. Immer wieder drifte ich davon. Mein Blick huscht zu der Uhr, die über der Tür hängt. Fünf vor elf. In meinem Bauch rumort es, wenn ich an die fremde Frau denke. Ich kann es kaum erwarten, sie eintreten zu sehen, die feinen Bewegungen zu verfolgen, ihr Lächeln mein Gesicht streicheln zu lassen.
Schwere Augenlider erinnern mich immer wieder daran, dass ich kaum geschlafen habe, aber der Gedanke an den Termin mit der Unbekannten verscheucht die Bilder der letzten Nacht. Wie Schatten sitzen sie in meinem Nacken, warten darauf, dass ich mich zu ihnen umdrehe. Doch ich richte den Blick nach vorn, verfolge den Zeiger der Uhr. Noch zwei Minuten. Ob ich bei der nächsten Sitzung davon erzählen soll? Dem Traum, der Gestalt auf dem Balkon?
Das Klingeln der Ladentür holt mich zurück ins Jetzt. Da steht sie im Gegenlicht der Sonne. Schwarzer Kaschmirpullover, enganliegende Jeans und glänzende, knallrote Pumps. Ich schäme mich für den Versuch, in meinem blauen Blusenkleid schick aussehen zu wollen.
„Hallo“, sie winkt mir zu und kommt näher. „Süßes Kleid.“
„Danke“, bringe ich hervor und räume die Rechnungen zusammen.
„Machen Sie das ruhig zu Ende, ich habe Zeit.“
„Nein, das …“ Ich schiebe den Stapel Blätter zur Seite. „Das kann warten. Wollen wir?“
„Entschuldigen Sie bitte?“, krächzt es plötzlich von der Seite. Die ältere Dame steht mit einem Album unter dem Arm neben dem Verkaufstresen und mustert die Fremde eingehend. Ihr Blick wird dabei immer misstrauischer. Sie legt das Buch auf die Theke und nestelt in ihrer Tasche. „Ich möchte das bezahlen, bitte.“
Ich scanne das Fotoalbum ein. Bevor ich der Dame den Preis nennen kann, schiebt sie mir das Geld zu. Ihre Hand zittert.
„Behalten Sie den Rest“, flüstert sie, greift nach dem Album und verlässt den Laden.
„Ich scheine der Dame nicht besonders gefallen zu haben“, sagt die Fremde und verschränkt die Arme vor der Brust. „Muss an den Schuhen liegen.“
Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen und zucke mit den Schultern. „Vielleicht auch am Lippenstift.“
Sie lacht. Ein dunkles, warmes Lachen.
„Kommen Sie“, sage ich und führe sie in den Raum, in dem ich meine Aufnahmen mache.

Während sie sich langsam die Kleidung vom Leib streift, muss ich mich dazu zwingen, sie nicht anzustarren. Ich halte die Polaroidkamera in der Hand und tue so, als würde ich sie genau inspizieren. Es sticht im Innern, aus dem Augenwinkel den Schwung ihrer Hüften wahrzunehmen, die Linien des Körpers, die so fließend ineinander übergehen. Ich denke an die kleinen Polster auf meiner Hüfte und zupfe das Kleid zurecht. Als ich aufsehe, beobachtet sie mich.
„Sie sind sehr hübsch“, sagt sie leise.
Ich schlucke.
„Entschuldigung, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten“, fügt sie hinzu und lässt ihren BH fallen.
„Nein, schon okay, ich schätze … Ich sehe mich einfach anders.“
„Wie denn?“
„Schuldig“, platzt es aus mir heraus. Verwirrt schaue ich die Fremde an und schüttle den Kopf. „Ich meine …“ Krampfhaft suche ich nach Worten.
„Schon gut“, beruhigt sie mich. Ihre Augen funkeln. „Fangen wir einfach an.“
Ich gebe ihr Anweisungen, versuche mich nur auf diesen Moment zu konzentrieren. Die Kamera wiegt schwer in meinen Händen, sie klebt an meiner Haut. Widerwillig halte ich sie vors Gesicht und suche den perfekten Winkel, den besten Ausschnitt für das Bild.
„Wissen Sie, warum ich diese Kamera so mag?“, fragt mich die Fremde.
„Ich dachte, wegen Ihrer Mutter …“
„Sicher, das auch“, winkt sie ab. „Aber besonders deshalb, weil man sie nicht austricksen kann. Keine verstellbare Schärfe, kein Retuschieren – sie fängt dich so ein, wie du bist.“ Dabei fixiert sie mich und nickt.
Ich verstecke mich hinter der Kamera und drücke ab. Surrend schiebt sich das Polaroid durch den Schlitz des Geräts. Plötzlich wird mir übel. Ich lehne mich an die Wand hinter mir und atme tief durch.
„Stimmt was nicht?“, fragt sie.
„Alles in Ordnung“, erwidere ich und ziehe das Bild vorsichtig heraus. Auf dem milchigen Weiß der Oberfläche bilden sich langsam die Konturen der Frau heraus. Ihre helle Haut leuchtet vor dem dunklen Hintergrund, den sie ausgesucht hat. Die langen Haare fallen sanft über die Schultern und bedecken ihre Brüste. Fasziniert beobachte ich, wie die Details des Körpers zum Vorschein kommen, ganz klein nur, aber trotzdem sichtbar. Mein Blick bleibt an ihren Händen hängen. Die Finger sind dunkel verfärbt.
„Ist es nicht gut geworden?“, fragt sie.
„Doch, es ist nur …“ Ich sehe mich im Raum um. „Ich glaube, da fällt ein Schatten von irgendwo … Nicht bewegen, bitte. Ich stelle das Licht noch einmal genauer ein.“
Sie verfolgt jede meiner Bewegungen. „Sagen Sie, führen Sie den Laden ganz allein? Oder gibt es einen Mann, der Sie unterstützt?“
Ich hasse sie für diese Frage und schüttle den Kopf. „Nur ich.“
„Haben Sie das Geschäft von Ihren Eltern übernommen?“
„Meinem Vater“, presse ich hervor. Ich schiebe den rechten Scheinwerfer ein Stück nach hinten und trete zurück. „Probieren wir es noch einmal.“
Sie nickt und nimmt ihre Pose wieder ein. Als ich abdrücke, fährt ein Stromschlag durch meinen Finger und schießt durch meinen Unterarm. Ich zucke zusammen, die Kamera entgleitet meinen Händen, meine Arme schnellen nach vorne, um sie gerade noch aufzufangen, bevor sie auf den Boden fällt. Schlagartig überrollt mich erneut die Übelkeit und ich muss mich an der Wand abstützen.
„Was haben Sie denn?“
Die Fremde kommt auf mich zu, geschmeidig wie eine Katze, und legt die Hand auf meine Schulter. Ihre nackte Haut strahlt Hitze aus, Schweiß bildet sich in meinem Nacken, ich halte mir den Bauch und drehe mich zur Seite, weg von ihr.
„Es geht schon, ich brauche nur einen Schluck Wasser.“
„Wo ist die Toilette?“
„Nein, lassen Sie nur, ich kann das selbst …“
„Sie bleiben hier und holen tief Luft. Wo ist sie?“
„Den Gang entlang, die erste Tür links.“
Sie zieht sich den Pullover über, schlüpft in ihren Slip und verschwindet. Ich höre ihre barfüßigen Schritte auf den Fliesen, das Rauschen des Wassers, und sehne mich danach, sie wieder auf mich zukommen zu sehen. Als sie schließlich im Gang erscheint, in der Hand ein Glas Wasser, zerbricht etwas in mir und ich rutsche an der Wand hinunter. Sie sieht ein paar Sekunden auf mich herab, dann setzt sie sich zu mir auf den Boden.
„Stehen Sie auf, der Boden ist viel zu kalt“, sage ich und versuche, wieder auf die Beine zu kommen.
Sie legt die Hand auf meinen Arm und drückt mich nach unten. „Mir ist nie kalt.“

Wir sitzen uns gegenüber, hinter uns die Scheinwerfer, neben uns die Kamera, die die Szene still beobachtet. Das Polaroid hängt noch immer im Schlitz fest. Ich ziehe es heraus und spüre erneut meinen Magen flattern. Dieses Mal sind es nicht nur die Hände. Von den Füßen kriecht eine dunkle Masse an der Fremden hinauf, ihr Körper ist mit schwarzen Flecken übersät.
„Was zum …?“
Bevor ich den Satz zu Ende bringen kann, blitzt es vor meinen Augen. Ich halte mir die Hand vors Gesicht und blinzle, während sich meine Augen langsam von dem grellen Licht erholen. Die Fremde lässt die Kamera sinken.
„Sie sind fotogen“, sagt sie und legt das Bild neben sich auf den Boden. „Es sind Ihre Augen. So viel Schmerz.“ Sie leckt sich über die Lippen.
„Wer sind Sie?“, frage ich.
„Jemand, der Ihnen helfen will.“
Ich will aufspringen und wegrennen. So viel Abstand wie möglich zwischen mich und diese Frau bringen. Aber etwas hält mich fest. Zieht mich zur ihr, sehnt sich nach der Nähe dieser Fremden, dem dunklen Blick, mit dem sie in mich hinein sieht.
„Sie kennen mich doch gar nicht.“
„Wissen Sie“, sagt sie lächelnd und steht auf. Das Bild von mir nimmt sie mit. „Ich kenne die Menschen. Ich sehe, wenn jemand den Schmerz nicht mehr ertragen kann. Es ist fast wie …“ Sie wedelt theatralisch mit der Hand in der Luft, bevor sie in ihre Handtasche greift und sich eine Zigarette ansteckt. „… wie eine Gabe.“
Ich starre sie an, sehe sie nackt, obwohl sie es nicht mehr ist. Nackt, übersät mit schwarzen Flecken. Ich kneife die Augen zusammen. „Was ist hier los?“
„Wir unterhalten uns ein bisschen. Wie zwei alte Freundinnen. Hatten Sie dieses Gefühl nicht auch, als wir uns das erste Mal sahen? Diese …“ Sie spitzt die roten Lippen, schmatzt, als würde sie die Luft kosten. „Diese Verbindung.“
Ich fühle mich durchschaut. Erneut will ich mich aufrappeln und flüchten. Doch ihr Gesicht, die Art, wie sie mich ansieht … Sie ist so schön. Sie nimmt mich wahr. Sie –
„Wo ist dein Vater?“, fragt sie plötzlich. Sie lässt sich vor mir auf den Boden gleiten und legt ihre Hand auf meine.
„Im Krankenhaus“, sage ich. Mein Mund formt die Worte von alleine. Sie kommen aus meinem Bauch, von tief unten, ich kann sie nicht festhalten. „In der psychiatrischen Abteilung.“
„Weil du ihn die Treppe hinuntergestoßen hast?“
„Was? Ich habe nicht … Woher …? Nein, das stimmt nicht, das war ein Unfall!“
„Warum zerfrisst dich dann das schlechte Gewissen, meine Liebe?“ Genüsslich zieht die Fremde an der Zigarette, ihre Augen glänzen hinter dem feinen Rauch, der vor ihrem Gesicht aufsteigt.
„Wie können Sie sowas sagen? Wie können Sie mich einfach verurteilen?“, schluchze ich.
Sie lacht. „Ich bin bestimmt die Letzte, die dich verurteilt. Ich will, dass du loslässt. Vertrau mir.“
Sie rutscht noch ein Stück näher, eine Haarsträhne fällt über ihre Schulter und berührt mich am Arm.
„Ich konnte es einfach nicht mehr“, höre ich mich sagen. „Meine Mutter, sie hat uns verlassen, als es losging. Sie hat es nicht ertragen, von ihm vergessen zu werden. Ich habe sie gehasst damals, aber jetzt verstehe ich es.“
„Du hast dich um ihn gekümmert, richtig? Du allein.“
Ich nicke und wische die Tränen weg. „Es fing harmlos an. Ein vergessenes Wort, ein entfallener Name. Dann hat er den Weg nach Hause nicht mehr gefunden. Und schließlich ist er auf mich losgegangen, als ich ihn eines Morgens für die Arbeit aufwecken wollte.“
„Wie fühlt es sich an, wenn ein geliebter Mensch dich ansieht und nicht mehr erkennt?“
Fassungslos starre ich die Fremde an. „Macht Ihnen das Spaß?“
„Spaß ist das falsche Wort.“
Sie holt das Polaroid von mir hervor und betrachtet es. Ihre Mundwinkel zucken, als sie mich ansieht.
„Willst du es sehen?“
Ich nicke. Sie hält mir das Bild vors Gesicht. Vor dem gräulichen Hintergrund der Wand blickt mir mein erschrockenes Ich entgegen. Ich sehe furchtbar aus. Dunkle Augenringe verunstalten mein Gesicht, die fahle Haut wirkt durchsichtig. Aus meinen Augen kriecht mir die Trauer entgegen, die Wut, die seit Wochen in mir brodelt. Dann sehe ich es. Hinter mir kräuselt sich schwarzer Rauch an den Schultern entlang, den Nacken hinauf, und verschwindet hinter meinem Kopf.
„Was ist das?“ Mein Finger zittert, als ich auf das Bild tippe.
„Ich glaube, das weißt du.“
Ich schlage ihr das Foto aus der Hand. „Verschwinden Sie!“ Ich springe auf, kämpfe gegen den Schwindel an und gegen den Sog, der von der Fremden ausgeht, und taumle Richtung Verkaufsraum.
„Was, wenn ich dafür sorgen kann, dass dein Vater dich wieder erkennt?“
Ich drehe mich um, stürme auf sie zu und packe sie am Arm.
„Wieso tun Sie das? Was habe ich Ihnen denn getan? Ich dachte, Sie …“
„Was dachtest du? Dass wir Freundinnen werden können?“
Ich senke den Kopf. Schäme mich so sehr, dass ich das Gefühl habe, ihr nie wieder in die Augen sehen zu können.
„Das können wir“, flüstert sie. Wir stehen uns ganz nah gegenüber, ich spüre ihren Atem an meinem Hals. „Du kannst endlich glücklich sein. Den Laden mit deinem Vater weiterführen. Du selbst sein, einen Mann kennenlernen.“
Ich sehe zu ihr auf.
„Oder was auch immer du willst“, fügt sie hinzu und streicht mir über die Wange.
„Aber mein Vater ist krank.“
„Nicht mehr lange.“
„Er wird so wütend auf mich sein.“
„Nicht, wenn er sich nicht mehr daran erinnern kann, was du getan hast.“
Ich hänge an ihren Lippen, kann nicht mehr klar denken, die Aussicht darauf, meinem Vater in die Augen zu sehen, zu spüren, dass er weiß, wer ich bin, lässt in meinem Innern tausend kleine Lichter angehen.
„Sie können wirklich dafür sorgen, dass …?“
„Noch heute Abend – nennen wir es ein kleines medizinisches Wunder.“
„Warum tun Sie das für mich?“
„Sagen wir, weil ich mir für die Zukunft eine gute Zusammenarbeit mit dir erhoffe.“
„Ich verstehe nicht. Was kann ich denn für Sie tun?“
Sie reicht mir die Kamera. „Halte die Augen für mich offen. Wenn du jemanden entdeckst, rufst du mich an.“ Sie zieht eine Visitenkarte aus der Hosentasche und gibt sie mir. Verwirrt halte ich das Gerät in meinen Händen, die kleinen Härchen an meinen Unterarmen stellen sich auf.
Sie hält mir erneut das Polaroid vors Gesicht, das sie von mir gemacht hat. „Du wirst schon wissen, wenn es so weit ist. Sie wird dir dabei helfen.“
„Die Kamera?“
Sie nickt und sieht mich erwartungsvoll an.
„Das ist alles?“, frage ich.
„Nicht ganz. Wir zwei …“. Sie beugt sich zu mir, ihre Lippen berühren mein Ohr. „… wir sind untrennbar miteinander verbunden, wenn du den Vorschlag annimmst. Für immer.“
Die Worte hallen in meinem Kopf nach. Ich will sie festhalten, sie mir genau ansehen, denn ich spüre die Dunkelheit, die von ihnen ausgeht. Aber der Gedanke an meinen Vater nimmt mir die Sicht.
Sie tritt einen Schritt zurück und hält mir die Hand hin, ihre feingliedrige Hand mit dem blutroten Nagellack. Ich greife danach, erwidere den Druck und spüre ihre Hitze durch mich hindurchfahren.
„Bis bald“, sagt sie und haucht mir einen Kuss auf die Wange.
Sie klemmt sich die Handtasche unter den Arm, wirft mir einen letzten Blick zu und verlässt den Raum. Ich folge ihr in den Laden, sehe ihr nach, als sie auf die Straße hinaustritt und davonschlendert.
Die Visitenkarte zwischen meinen Fingern wellt sich. Sie ist schwarz, umrandet von einer feinen roten Linie. Das Papier fühlt sich staubig an. Ich suche nach einem Namen, drehe die Karte um, finde nur eine Handynummer am unteren rechten Rand der Rückseite. Ich wende die Karte erneut. Nichts.

Der Tag versinkt im Nebel. Ich drifte durch den Laden, räume Regale auf und bediene Kunden durch eine Milchglasscheibe, höre ihre Stimmen nur gedämpft. Immer wieder taucht die Fremde vor mir auf, leckt sich über die Lippen und streicht mir über die Wange.
Erst als draußen die Abendsonne die Straßen rot färbt, komme ich langsam wieder zu mir. Der letzte Kunde verlässt gerade den Laden, ich folge ihm, um die Tür abzuschließen, da klingelt das Telefon. Ich nehme ab und presse den Hörer ans Ohr.
„Frau Reichert?“
„Ja?“
„Hier ist Bettina Kimmel vom Marienkrankenhaus. Sie müssen dringend herkommen!“
„Was ist –?“
„Ihr Vater“, unterbricht sie mich. „Er fragt nach Ihnen. Er weiß plötzlich wieder Dinge, es ist nicht zu fassen …“
Die Stimme der Krankenschwester überschlägt sich. Sie spricht von einem medizinischen Wunder.
Ich weiß es besser.

 

Hi erdbeerschorsch,

erst einmal vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar!

Ich finde es insgesamt angenehm zu lesen, stellenweise nur etwas überbordend, ein bisschen zu viele Details und so.
Ja, das stimmt, ich schreibe hier sehr ausführlich. Hat aber wirklich Spaß gemacht, mal ein bisschen auszuufern.

Zumindest finde ich es interessant, diese Lücke zu lassen (Kann aber natürlich sei, du hast sie inzwischen gefüllt?). Richtig gut finde ich aber den Hintergrund: Sie verkauft ihre Seele nicht für den eigenen Glanz, sondern um dem Vater zu helfen oder genauer, um etwas wiedergutzumachen.
Doch, diese Lücke gibt es noch. Und es tut gut zu lesen, dass sie durchaus ihren Reiz hat. Nein, das stimmt, die Hauptfigur ist aufgrund ihrer Schuldgefühle so empfänglich für das Angebot der Fremden, daher sollte auch ihr Wille für den Pakt herrühren.

Jeder hat so sein Mantra, das er zu allen möglichen Gelegenheiten wiederholt. Eines von meinen ist, mich darüber auszulassen, dass es mir seit einiger Zeit als unschön auffällt, wenn jemand mit dem Personalpronomen der dritten Person in eine Geschichte eingeführt wird. Hier geht das ja eigentlich, denn das unterstreicht in gewisser Weise die Rätselhaftigkeit der Person. Es könnte also einer der wenigen Fälle sein, die sogar ich mit meinem in diese Richtung entwickelten Spleen letztlich akzeptieren möchte. Aber es spricht trotzdem auch was dagegen. "Sie" nimmt halt eigentlich auf eine bereits bekannte Figur Bezug. Normalerweise würde man sagen: "Eine Frau (die so und so aussah) betritt den Laden." Für eine Abweichung möchte ich immer gerne einen Grund sehen. Nun gibt es in deiner Geschichte ja sogar womöglich so einen Grund - eben die Rätselhaftigkeit. Und da ist es dann nur leider so, dass das, was eigentlich eine Abweichung ist, in ganz vielen Geschichten als Standard gebraucht wird, und deswegen wirkt es nicht mehr. Schade drum, könnte man sagen.
Ich verstehe dein Mantra und stimme ihm eigentlich auch zu. Ja, es stimmt, ich habe nur "sie" geschrieben, um die Rätselhaftigkeit gleich mal einzuläuten. Aber ja, es stimmt auch, dass das wohl schon ziemlich ausgelutscht ist. Ich überlege nun, ob ich davon abweichen soll und doch "die Frau" schreibe ...

Ja, wie gesagt: So kriegst du mich nicht. Ich fühle mich genauso distanziert wie gegenüber den Figuren auf solchen Filmplakaten.
Das ist schade, aber akzeptiere ich natürlich. Das wirkt auf jeden anders.

"Interesse" statt "Gier" - find ich besser. Möglich wäre vielleicht auch, nur einen Mann zu zeigen, stellvertretend für die anderen.
Ja, da danke ich Achillus, der mir gezeigt hat, dass ich da stellenweise wirklich übertreibe :)

Hier die Mutter, da der Vater. Die perfekte Frau erscheint verwundbar, nicht mehr nur wie eine über- äh: unterirdische Macht. Ich ahne einen Hintergrund für die Verbindung der beiden Figuren, aber so ganz komm ich nicht drauf ... Vielleicht wäre da eine Möglichkeit, das auszubauen, und der Teufelin mehr Leben einzuhauchen?
Das ist ein interessanter Gedanke. Ich muss aber gestehen, dass in meiner Vorstellung, als ich das geschrieben habe, die "Teufelin" schlichtweg lügt, um die Kamera zu rechtfertigen und bei der Hauptfigur auf die Tränendrüse zu drücken. Also pure Berechnung. ABER, würde man deine Idee in Betracht ziehen, könnte man die Teufelin natürlich vielschichtiger ausarbeiten. Das muss ich überdenken.

Über - über. Kleinigkeit, aber kannst du bei Gelegenheit mal ausräumen, wenn dir danach ist.
Jawohl, mache ich.

Hier mal ein Beispiel für aus meiner Sicht zu viel Ornament: "Drei Monate ohne Träume" - und Punkt: fänd ich wirkungsvoller.
Stimmt, gekauft.

Die Foto-Session und die Dialoge um den Vater ufern für meinen Geschmack etwas aus. Da sind schöne Sachen drin, aber irgendwie geht das Eigentliche unter, finde ich. Könnte gerne kürzer und knackiger sein.
Sehe ich mir auch noch mal an.

Lieben Dank für diesen hilfreichen Blick auf meinen Text, erdbeerschorsch.
RinaWu

 

Hallo Rina Wu,

da sind schöne Strecken drin in deinem text, aber so als ganzes lässt mich die Geschichte unbefriedigt zurück. Gut finde ich, wie du langsam den Background entrollst, da freue ich mich, bin neugierig, wo das hinführt - und die Enttäuschung ist umso größer, weil sie nirgendwo hinführt. Vielleicht habe ich ja was wensentliches überlesen, aber für mich bleiben das alles nur los Fäden, die nicht zusammengewebt werden. Wer ist die Frau jetzt gleich? Wen soll deine Prota bitte beobachten? Was soll dieses unterschwellig sexuelle? Hm. Fragen über Fragen, die zurück bleiben, fühle mich um die Zuspitzung des Ganzen betrogen.
Sehr gute gelungen finde ich die Unsicherheit deiner Prota, das ist so gut, dass man sich fremdschämend möchte über ihr Gestolpert :aua:

Wie gesagt überwiegend sehr gut zu lesen, aber da sind auch noch einige Stolpere drin, die zeigen, dass man durchaus noch bügeln müsste. Insgesamt ist die kg auch einen Ticken zu lang.

Nur exemplarisch:

bis die Regale im Halbdunkel versinken. Ihr dunkles Haar fällt in schweren Locken über die Schultern, der fein geschwungene Lidstrich betont die mandelförmigen Augen, die aufmerksam den Raum abtasten.
zu dichte Wiederholung
Einige Männer im Raum beobachten die Frau verstohlen zwischen den Regalen hindurch, versuchen ihr Interesse zu verbergen, doch ich kann sehen, wie sie verstohlen die Position wechseln, um eine bessere Sicht auf die Fremde zu erhaschen. Ich habe noch nie einen Raum betreten

Neugierig macht die Geschichte in jedem Fall. Schade, dass es dann so verpufft, hätte gern noch etwas mehr gesehen ...

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo RinaWu,

eine tolle Geschichte, die du da geschrieben hast. Ich habe sie mit Spannung verfolgt und war neugierig auf den Ausgang. Du schreibst stilsicher und verstehst es, das Mysterium rund um die geheimnisvolle Schönheit mit Spannung und leichten Gruselelementen aufzubauen.

Nach erstmaligem Durchlesen ist mir neben einigen seltsamen Formulierungen vor allem das Ende etwas verhalten zurückgeblieben. Für gewöhnlich, wenn eine Figur quasi einen Pakt mit dem Teufel schließt, dreht sich die Geschichte darum, dass diese auch mit den bitteren Konsequenzen konfrontiert wird. Insofern bekomme ich beim Ende deiner Geschichte den Eindruck, dass noch ein "Schattenbilder Part 2" folgen sollte. Die Schattenseite des Handels, den deine Protagonistin eingeht, wird nur sehr vage angedeutet, was normalerweise eher zu einer Geschichte passt, in welcher die Hauptfigur nicht wirklich weiß, worauf sie sich da eingelassen hat und dann - in einer Reihe eskalierender Ereignisse - nach und nach feststellen muss, dass sie bei diesem Deal den kürzeren gezogen hat.

Stattdessen besteht der "Kniff" deiner Geschichte darin, dass deine Hauptfigur bereit ist, sich dem Willen einer fremden, mysteriösen Person zu unterwerfen, um ihren Vater zu retten und sich von ihrer Schuld reinzuwaschen. Hier steht die Entscheidung, auf diesen schicksalhaften Handel einzugehen, im Vordergrund und was einen Menschen antreibt, soweit zu gehen. Ich fände, dies würde besser funktionieren, wenn deine Hauptfigur ein sehr klares Bild von dem Bösen hat, mit dem sie da konfrontiert wird, d.h. worin die Dimension des Schreckens besteht und was sie dafür opfern muss. Auch der Aspekt mit der Kamera und dem Fotografieren der 'bestimmten Leute' fällt somit leider flach, weil man nie erfährt, worauf das Ganze hinausläuft.

Dessen ungeachtet hat mir deine Geschichte, wie schon gesagt, sehr gefallen und ich habe sie gerne gelesen. Im Folgenden gehe ich noch einmal durch deinen Text hindurch und versuche, dir hoffentlich konstruktive Kritik und ein paar Leseeindrücke meinerseits mit auf den Weg zu geben:

Einige Männer im Raum beobachten die Frau verstohlen zwischen den Regalen hindurch, versuchen ihr Interesse zu verbergen, doch ich kann sehen, wie sie verstohlen die Position wechseln, um eine bessere Sicht auf die Fremde zu erhaschen.

1. doppeltes 'verstohlen'. Nach meinem Leseempfinden würde ich das erste streichen.
2. Wo ich die Passage gerade lese: Ich bin nicht sicher, ob der 'Versuch, ihr Interesse zu verbergen' als Formulierung zu dem 'durch die Regale hindurch beobachten' ideal passt. Wenn ich versuchen würde, mein Interesse zu verbergen, würde ich wahrscheinlich vorgeben, etwas anderes zu machen, z.b. die Kameras oder die Bilderrahmen inspizieren und dabei lediglich unauffällige Seitenblicke auf die Frau werfen. Das Bild, dass du vermittelst, legt nahe, dass die Typen sie alle anglotzen (überspitzt formuliert), nur eben aus einem unscheinbaren Winkel heraus.
Aber das ist, wenn überhaupt, meckern auf hohem Niveau, weil du mit dem Satz schon bildlich sehr gut vermittelst, was vor sich geht.

Ich habe noch nie einen Raum betreten und die Aufmerksamkeit auf mich gezogen, mir macht es Angst, wenn zu viele Menschen mich ansehen.

Wäre es für den Lesefluss nicht besser, wenn du das "Mir macht es Angst..." als neuen Satz beginnst?

„Ja, richtig, das …“ Ich breite die Arme aus, lasse sie aber sofort wieder fallen und verschränke sie vor der Brust. „Das ist mein Geschäft.“

Ich wundere mich hier. Sie 'verschränkt die Arme vor der Brust'. Für gewönlich ist das eine Abwehrreaktion in einem Gespräch. War die Geste so von dir gewollt, dass der Verführungsversuch bei ihr zunächst auf Widerstand trifft und sie sich dem entziehen will? Bisher machte alles den Eindruck, als würde sie von ihrer Präsenz mehr oder weniger gelähmt sein. Nicht falsch verstehen, ich frage nur nach, denn die Idee und die Formulierung finde ich eigentlich ganz gut.

Sie sieht zu den Fotografien hinüber, nimmt sich Zeit für jedes Bild, bevor sie sagt: „Sie haben ein gutes Auge.“

Kann man so machen. Es liest sich schnell und effizient. Alternativ kannst du diese Passage ein wenig ausbauen und näher beschreiben. Sie studiert die Bilder sicherlich für einige Minuten, was der Hauptfigur genügend Zeit lässt, weitere Eindrücke zu sammeln. Jedoch wird dieser Prozess mit einem einzigen Satz abgespeist. Vom Zeitgefühl ist das ein wenig kontraintuitiv, weil dieser etwas längere Zeitraum nahezu unkommentiert bleibt inmitten dieser dichten Gesprächssituation. Es geht aber auch so.

„Haben Sie morgen schon etwas vor?“
Ruckartig hebe ich den Kopf. „Morgen? Ich … Nein, also, ich bin hier im Laden, aber ich könnte natürlich in der Mittagspause …“
Sie zwinkert mir erneut zu und senkt ihre Stimme. „Ich möchte Bilder von mir anfertigen lassen, die etwas … Nun, sagen wir, intim sind. Deshalb ist es mir wichtig, dass sie eine Frau macht. Eine andere Sichtweise, Sie verstehen?“

Diese Passage mag ich sehr. Im Vorfeld machst du einen guten Job dabei, die erotische Spannung zwischen den beiden bildlich und präzise zu beschreiben. Gerade auch deswegen funktioniert dieses humorvoll-peinliche Missverständnis sehr gut.

Die Männer im Laden halten Kameras in der Hand, starren auf sie herunter oder sehen sich betont entspannt im Verkaufsraum um.

Hm, ich hatte zunächst eine ausführliche Anmerkung zu dieser Passage geschrieben, doch beim erneuten durchgehen meines Kommentar fällt mir auf, dass ich sie wahrscheinlich falsch verstanden habe.

Meine erste Frage nun lautet, worauf sich das "sie" hier bezieht. Ich habe -vermutlich fälschlicherweise - angenommen, es bezog sich auf die Frau. Schließlich wurde sie zuvor bereits von einigen der Herren begutachtet. Nun allerdings glaube ich, dass sie sich auf die Kameras in ihren Händen bezieht. Hm, so komplett sicher bin ich da allerdings nicht.

Also:
1. Insofern sich das "sie" auf die Frau bezieht, solltest du vielleicht eher schreiben, dass die Männer "zu ihr herüber starren", da der Größenunterschied sicherlich nicht soo gravierend ist.
2. Insofern sich das "sie" allerdings auf die Kameras in ihren Händen bezieht, würde ich selbiges vielleicht durch "diese" ersetzen, sodass unmissverständlich klar wird, dass sie einen Gegenstand betrachten und nicht die Frau.

Somit würdest du zumindest bei einem Leser wie mir die leichte Sprachverwirrung vermeiden, über die man hier stolpern kann.

3. Weiterhin klingt der Satz noch dadurch etwas merkwürdiger, weil er nahelegt, dass ALLE Männer Kameras in der Hand zu haben scheinen, obwohl in einer solchen Ladensituation vermutlich nicht jeder Mann an einer Kamera interessiert sein dürfte. Es wäre besser, hier von "einigen Männern" zu sprechen.

D.h., erneut, insofern sich das "sie" in deinem Satz auf die Frau bezieht, könnte eine Alternative so lauten:

"Mein Blick schießt durch den Raum. Keiner der Männer blieb von unserem Gespräch unberührt (unbeeinflusst?). Einige starrten zu ihr herüber, andere hingegen inspizierten übereifrig die Kamera in ihren Händen oder blickten sich betont entspannt im Verkaufsraum um."

Oder, wenn sich das "sie" auf die Kameras bezieht, einfach:

"Mein Blick schießt durch den Raum. Einige der Männer im Laden halten Kameras in den Händen und starren auf diese herunter, während andere sich betont entspannt im Verkaufsraum umsehen."

Puh, damit habe ich eine langwierige Besprechung von zwei Zeilen text noch umständlicher gestaltet. :(

Das Plastik ist kalt und klebrig, widerwillig sehe ich mir das Gerät noch ein paar Sekunden länger an, obwohl ein leiser Ekel in mir aufsteigt.

Wow, selbst wenn es nur ein leiser Ekel ist, klingt das dennoch nach einer heftigen Reaktion dafür, dass sie lediglich eine alte, verschmierte Kamera in den Händen hält. Zwar habe ich allerhöchstens als Kind mal eine solche Kamera benutzt, aber persönlich kann ich mir nicht vorstellen, dass man so aversiv gegen ein solches Objekt reagiert. Zumal sie als Fachfrau auf dem Gebiet damit noch weniger Probleme haben sollte. Ist die Hauptfigur in dieser Hinsicht einfach nur empfindlich? Oder soll das eine Art Andeutung auf die geheimnisvolle Macht sein, welche in der Kamera wohnt? Hattest du etwas bestimmtes vor Augen (Oh je: Ein Wortspiel!), als du diese Passage geschrieben hast?

„Verzeihen Sie.“ Sie schüttelt den Kopf, den Blick auf die Kamera gerichtet. „Es ist ein Erbstück meiner Mutter. Sie … Vor ein paar Jahren, da …“
Ihre Augen werden glasig. Erschrocken suche ich nach Taschentüchern, finde schließlich eine Packung neben der Kasse und reiche sie ihr. Sie tupft sich vorsichtig die Augenwinkel ab und sieht zu mir auf. Ihr Lächeln wirkt gebrochen.
„Ihr Tod war ein Schock für mich. Ich sollte es so langsam verarbeitet haben, aber es kämpft sich immer wieder seinen Weg nach oben. Gerne in den unmöglichsten Momenten.“
Ich lege meine Hand auf ihre. Sie ist weich und kühl. „Ich verstehe, was Sie meinen.“
Sie nickt und flüstert: „Ich weiß.“

Dieser Moment ist herrlich. Die schwarze Braut ist wunderbar manipulativ.

Durch die Schaufensterscheibe verfolge ich ihre grazil schwingende Silhouette, bis sie sich am Ende der Straße zwischen den Menschen verliert.

1. Hm, eine Silhouette ist ja eine grobe Kontur bzw. eine Art schattenhafter Umriss. Sind die Fenster des Ladens etwa so milchig oder abgedunkelt, dass man dahinter nur noch die Umrisse von Menschen erkennen kann? Ich fürchte, dann könnte man allerdings nicht mehr sehen, wie sie im Menschengewühl am Ende der Strasse verschwindet. Das Bild passt irgendwie nicht ganz.
2. Zwar beschreibst du in vielen, sinnlichen Bildern die Wirkung der Frau auf die Hauptfigur. Die 'grazil schwingende' Silhouette klingt für meinen Geschmack allerdings zu blumig und übertrieben. Eine abgeschwächte Variante fände ich hier geeigneter. Ich versuche seit ein paar Minuten mir eine mögliche Alternative zu überlegen - 'anmutig dahinschreitend' vielleicht - aber so wirklich zufrieden stellt mich auch keine der Möglichkeiten, die mir gerade durch den Kopf gehen.

Ich genieße das Schleifen, die knarzenden Holzdielen, die Wände, die beim Bohren zerbröseln, wenn ich nicht aufpasse.

Ich mag es hier, wie die Beschreibung der Wohnung als Spiegel für ihren Innenzustand dient.

Ich drehe mich im Kreis, suche hinter den Stämmen nach seiner hageren Figur, aber da ist nur feiner Nebel in dem dreckigen Zwielicht, das mich umgibt.

Etwas stört mich an dem 'dreckigen Zwielicht', kann allerdings meinen Finger nicht genau darauf legen, woran das liegt. Ich habe Schwierigkeiten, mir dieses Bild wirklich vor Augen zu führen. Allerhöchstens kann ich mir die Verwendung des Wortes 'dreckig' vorstellen als Ausdruck des Hasses von seiten der Protagonistin, welche einer Naturbeschreibung in einem Traum ihre Wut mit aufdrückt.

Durch die halb heruntergelassenen Rollläden malt das Mondlicht kleine Kreise auf die Bettdecke.

Ähh, haben Rollläden kleine, kreisförmige Löcher? Sind es nicht eher linienförmige Zwischenräume, durch welche das Mondlicht in Form von dünnen Streifen in das Zimmer dringt? Und selbst wenn diese Rollläden derartige Löcher haben, sollten es dann nicht eher Punkte anstatt Kreise sein?
Es ist ein schönes Bild, was du da beschreibst; nur kann ich es mir nicht glaubhaft vorstellen.

Seine Stimme hallt noch immer durch den Raum, als versuche er, aus dem Traum zu mir ins Bett zu kriechen.

Hm, das finde ich interessant. Bisher, sowohl im Traum als auch nach dem Erwachen, wurde die Figur des Vaters recht ambivalent dargestellt. Einerseits möchte die Hauptfigur ihm zur Hilfe eilen und ihn zärtlich in den Arm nehmen, doch gleichzeitig ist die ganze Situation geprägt von wütenden Rufen und einer Atmosphäre des Horrors. Letzteres kulminiert in dieser Zeile, in der die Vatergestalt aus dem Traum fast schon wie eine sexuelle Bedrohung daherkommt. Ich bin nicht sicher, ob das von dir so beabsichtigt war oder nicht. Zumindest finde ich es aber interessant. Vielleicht lese ich aber auch zuviel hinein.

Ich ziehe mir eine Strickjacke über und gehe hinaus auf den Balkon. Der erste Zug der Zigarette legt sich neblig auf meine Lungen, ich spüre, wie mein Herzschlag langsam wieder zur Ruhe kommt.

Auch diesen Satz würde ich - nach meinem Leseempfinden - in zwei Teile splitten. "Ich spüre, wie mein Herzschlag langsam wieder zur Ruhe kommt" liest sich wie ein eigenständiger Satz, welcher unnötig an den vorangehenden rangetackert wurde.

Mir fallen ihre genauen Worte nicht mehr ein, aber ich erinnere mich an ihre aufmunternden Augen ...

Ich bin nicht sicher, ob ich die Bezeichnung "aufmunternde Augen" jemals gehört habe. Normalerweise sind es aufmunternde Worte. "Ihre zuversichtlichen Augen" könnte besser passen.

Ich betrachte die Hausdächer, die der Mond mit silbrigem Licht übergießt.

Fühlt sich erneut wie eine etwas zu übertrieben-blumige Formulierung an. Vielleicht einfach nur:

"Mein Blick wanderte über die Hausdächer, die im Mondlicht klar zu erkennen waren."

oder

"Mein Blick wanderte über die im Mondlicht hell beschienenen Hausdächer."

Ich weiß auch nicht recht.

Mein Blick wandert die fremden Balkone entlang, ich stelle mir vor, wer wohl dort drüben wohnt, was er oder sie gerade träumt.

Auch hier würde ich ab "Ich stelle mir vor" einen neuen Satz beginnen.

Mich fixiert wie das Raubtier die Beute.

Ist das wirklich der Eindruck, den du vermitteln willst? Die bisherige Begegnung zwischen ihr und der Frau war geprägt von einer unterschwelligen, erotischen Spannung sowie einer geheimnisvollen Aura. Die Ich-Erzählerin ist sicherlich verunsichert und kann diese Frau nicht genau einschätzen. Das Gleichnis mit einer Räuber-Beute-Beziehung impliziert allerdings auch Aggression und Angst. Theoretisch kann man es als überspitzte Formulierung lesen, dass sie sich dem zupackenden Einfluss der anderen Frau zur Zeit noch entziehen will. Wenn das der Fall ist, in Ordnung. Sonst allerdings klingt dieser Vergleich etwas schief.

Die Ladenglocke klingelt. Mein Herz macht einen Satz, ich blicke zur Tür und halte den Atem an. Eine ältere Dame betritt das Geschäft.

Dieser falsche Alarm und ihr Hochschrecken ist eine wunderbare Art und Weise, diesen neuen Abschnitt einzuleiten. Gefällt mir.

Schwere Augenlider erinnern mich immer wieder daran, dass ich kaum geschlafen habe, aber der Gedanke an den Termin mit der Unbekannten verscheucht die Bilder der letzten Nacht.

Dieser Satz klingt schief. Der erste Teil des Satzes bezieht sich auf die Tatsache, dass sie letzte Nacht nicht viel geschlafen hat, der zweite Teil bezieht sich auf die Tatsache, dass sie in selbiger Nacht Albträume hatte und eine mysteriöse Gestalt auf einem Balkon gesehen hat. Durch die konzessive Satzverbindung 'aber' sollte beides auf ein- und dasselbe anspielen.

D.h. wenn der zweite Teil des Satzes hinter dem 'aber' eine unerwartete Folge aus den seltsamen Erlebnissen ihrer letzten Nacht ist, sollte der erste Teil darauf bezug nehmen.

Ich selbst würde das 'aber' umsetzen, den Satz zweiteilen und ein wenig umschreiben:

"Schwere Augenlieder erinnern mich immer wieder daran, dass ich kaum geschlafen habe. Der Traum und die seltsame Erscheinung auf dem Balkon haben mich die halbe Nacht beschäftigt, aber der Gedanke an den Termin mit der Unbekannten verscheucht nun diese Bilder in meinem Kopf."

Vielleicht nicht der eleganteste Vorschlag, aber ich hoffe, du verstehst, was ich meine.

Doch ich richte den Blick nach vorn, verfolge den Zeiger der Uhr. Noch zwei Minuten. Ob ich bei der nächsten Sitzung davon erzählen soll? Dem Traum, der Gestalt auf dem Balkon?

Ähm, hier bin ich leicht irritiert. Bezieht sich diese 'Sitzung' auf ihr Treffen mit der Frau oder mit ihrer Psychologin? Allein das Wort 'Stizung' impliziert eine Therapiestunde, jedoch sind ihre Gedanken gerade sehr nah bei dem Treffen mit der Unbekannten, weswegen es hier nicht genau ersichtlich ist, wer gemeint ist. Etwas mehr Klarheit wäre angebracht.

„Nein, das …“ Ich schiebe den Stapel Blätter zur Seite. „Das kann warten. Wollen wir?“
„Entschuldigen Sie bitte?“, krächzt es plötzlich von der Seite. Die ältere Dame steht mit einem Album unter dem Arm neben dem Verkaufstresen und mustert die Fremde eingehend.

Die Stelle selbst ist jetzt nicht so relevant. Jedoch wundere ich mich gerade: Wenn sie die alleinige Betreiberin des Ladens ist, wer kümmert sich dann um die Kasse und die anderen Kunden, während sie das Foto-Shooting mit der Dame veranstaltet? Sie setzt einen Termin inmitten der Öffnungszeiten an, anstatt abends oder am Wochenende, wo der Laden geschlossen ist. Finde ich merkwürdig.

„Entschuldigung, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten“, fügt sie hinzu und lässt ihren BH fallen.

Jedes Mal, wenn ich diese Passage lese, muss ich lachen, so pointiert trocken wird die Entblößung hier beschrieben. Wirklich nett.

Ich verstecke mich hinter der Kamera und drücke ab. Surrend schiebt sich das Polaroid durch den Schlitz des Geräts. Plötzlich wird mir übel. Ich lehne mich an die Wand hinter mir und atme tief durch.

Was genau löst diese Übelkeit aus? Beim ersten Lesen habe ich mir vorgestellt, dass in dem Moment, in dem das Bild geschossen wird, die Hauptfigur unterbewusst, für den Bruchteil einer Sekunde, das wahre Erscheinungsbild der Fremden sieht. Hier allerdings überkommt sie die Übelkeit erst, nachdem das Photo durch den Schlitz rollt. Handelt es sich um eine verzögerte Reaktion? Liege ich falsch mit meiner Vermutung? Alternativ könnte man den Satz mit dem Auswurf des Photos hintenanstellen, nachdem ihr übel geworden ist.

Sie verfolgt jede meiner Bewegungen. „Sagen Sie, führen Sie den Laden ganz allein? Oder gibt es einen Mann, der Sie unterstützt?“

Hehe, eine berechtigte Frage angesichts der Tatsache, dass gerade der Rest der Kundschaft unbeaufsichtigt in ihrem Laden ein- und ausgeht.

Ich zucke zusammen, die Kamera entgleitet meinen Händen, meine Arme schnellen nach vorne, um sie gerade noch aufzufangen, bevor sie auf den Boden fällt.

1. Wäre es nicht besser, wenn die Arme "nach unten" schnellen?
2. Der Satz liest sich gut, allerdings kannst du optional den letzten Teilsatz 'bevor sie auf den Boden fällt' streichen. Außerdem, da die Situation gerade recht hektisch ist, kannst du ab "Meine Arme schnellen..." einen neuen Satz beginnen. So wirken ihr Zusammenzucken und das Entgleiten der Kamera, als auch das Wiederauffangen - durch die Beschreibung der Abläufe in ihren jeweils eigenen Sätzen - pointerter.

Die Fremde kommt auf mich zu, geschmeidig wie eine Katze, und legt die Hand auf meine Schulter.

Ich muss sagen, der Vergleich mit einer Katze gefällt mir sehr gut. Besser als der Räuber-Beute-Vergleich. Die Assoziation mit diesem Tier ist zärtlicher, wohliger, kann zugleich aber auch etwas lauerndes hinter der harmlosen Fassade bereithalten, was der Situation gerade durchaus angemessen ist.

Als sie schließlich im Gang erscheint, in der Hand ein Glas Wasser, zerbricht etwas in mir und ich rutsche an der Wand hinunter.

Nanu, wo hat sie denn plötzlich das Glas her? Auf dem Gang gefunden? :)
Alternativ kann man die Szene auch etwas umschreiben und die Fremde holt eine Wasserflasche aus ihrer Tasche oder in einem Schrank im Raum gibt es einen Vorrat mit Gläsern oder so. Dieses Detail ist jetzt nicht superwichtig, aber ich wollte trotzdem darauf hinweisen.

Wir sitzen uns gegenüber, hinter uns die Scheinwerfer, neben uns die Kamera, die die Szene still beobachtet.

Eine schön subtile Suggestion dahingehend, dass das eben nicht nur eine einfache Kamera ist.

Von den Füßen kriecht eine dunkle Masse an der Fremden hinauf, ihr Körper ist mit schwarzen Flecken übersät.

Eine dunkle Masse? Wie soll ich mir das bildlich vorstellen? Als einen Blob-artigen Schleim? Einen teerartigen Film auf ihrer Haut? Das Bild ist etwas vage gehalten. Im Rahmen einer Horrorgeschichte ist das mitunter zwar hilfreich, weil das Undeutliche zumeist auch das unbekannte und furchterregende hervorhebt, aber in diesem Fall finde ich, könntest du etwas genauer sein.

Ich frage mich zudem gerade, ob der Handel, den sie mit der Hauptfigur schließt, den Zweck hat, dass letztere mit der Kamera Seelen sammelt oder geeignete Opfer sucht, die dazu dienen, diese schwarzen Male auf ihrem Körper zu reduzieren. Deine Geschichte geht ja bisher nicht weiter auf diese Phänomene ein. Ein weiterer Grund, warum ich gerne eine Fortsetzung der Geschichte lesen würde.

Zieht mich zur ihr, sehnt sich nach der Nähe dieser Fremden, dem dunklen Blick, mit dem sie in mich hinein sieht.

Da das ganze eine erotische Dimension hat, könntest du statt 'hineinsehen' auch 'eindringen' schreiben. Das betont die Physikalität ihres Blicks noch mehr.

„Wo ist dein Vater?“, fragt sie plötzlich. Sie lässt sich vor mir auf den Boden gleiten und legt ihre Hand auf meine.

Ich vermute mal, dass 'auf den Boden gleiten' soll bedeuten, dass sie sich niederkniet. Es klingt etwas eigenartig für mich, da ich annehme, wenn jemand vor mir auf den Boden gleitet, dass ich anschließend auf diese Person herabschaue. Die Formulierung schmeckt mir daher nicht wirklich. Als Alternative könnte z.B. Folgendes da stehen:

"Geschmeidig sank sie auf die Knie und wir begegneten uns auf Augenhöhe. Sie legte ihre Hand auf meine."

Ich sehe furchtbar aus. Dunkle Augenringe verunstalten mein Gesicht, die fahle Haut wirkt durchsichtig. Aus meinen Augen kriecht mir die Trauer entgegen, die Wut, die seit Wochen in mir brodelt. Dann sehe ich es. Hinter mir kräuselt sich schwarzer Rauch an den Schultern entlang, den Nacken hinauf, und verschwindet hinter meinem Kopf.

Einen Moment zuvor wurde das Foto geschossen, als sie sich gerade über die schwarzen Flecken wunderte, die sie bei der anderen Frau gesehen hat. Mitten im Satz, der mit "Was zum..." beginnt. Von diesem Schreck-Zustand oder zumindest diesem Moment der Verwunderung bzw. der Tatsache, dass sie gerade einen Satz ausspricht, ist in dieser Beschreibung keine Spur. Stattdessen offenbart das Bild eine Reflexion ihres Innenzustands. Meine Frage hier lautet: Ist es so gedacht, dass das Foto nicht mit der Momentaufnahme übereinstimmt, in dem es geschossen worden ist? Dass es stattdessen quasi ein Porträt ihres wahren Ichs auswirft und mit ihrem Anblick während des Zeitpunkts, in dem der Abzug betätigt worden ist, nicht mehr viel zu tun hat? Wenn ja, okay. Wenn nicht, würde ich die Beschreibung wohl noch ein wenig angleichen.

Ich hänge an ihren Lippen, kann nicht mehr klar denken, die Aussicht darauf, meinem Vater in die Augen zu sehen, zu spüren, dass er weiß, wer ich bin, lässt in meinem Innern tausend kleine Lichter angehen.

Erneut würde ich mit "Die Aussicht darauf..." einen neuen Satz beginnen.

Sie hält mir erneut das Polaroid vors Gesicht, das sie von mir gemacht hat. „Du wirst schon wissen, wenn es so weit ist. Sie wird dir dabei helfen.“
„Die Kamera?“
Sie nickt und sieht mich erwartungsvoll an.

Diese Passage hinkt. Sie hält ihr das Foto vors Gesicht und sagt anschließend, dass "sie dir dabei helfen wird". Ich vermutete zunächst, dass damit das Bild der Frau - also der Hauptfigur - auf dem Foto gemeint ist und nicht die Kamera.
Da sie allerdings die Kamera meint, sollte begleitend zu den Worten eine Geste angebracht sein, welche auf die Kamera deutet und nicht so sehr das Foto.
So entstand bei mir minimal Verwirrung, bis die letzten beiden Zeilen klar machten, was eigentlich gemeint ist. Danach wunderte ich mich nur noch über die Formulierung.

Die Worte hallen in meinem Kopf nach. Ich will sie festhalten, sie mir genau ansehen, denn ich spüre die Dunkelheit, die von ihnen ausgeht. Aber der Gedanke an meinen Vater nimmt mir die Sicht.

1. Dies ist einer der Schlüsselmomente der Geschichte. Die Entscheidung, ob sie auf den Handel eingeht oder nicht. Deine Hauptfigur ist bereit, sich mit dunklen Mächten, die sie kaum versteht, einzulassen, um ihren Vater zu retten. Die ganze Geschichte und alle Konflikte arbeiten daraufhin, dass sie mit dieser Wahl konfrontiert wird. Diese Konfrontation bringst du jedoch gerade mal in 2, maximal 4 Sätzen zum Ausdruck. Sie wägt nicht ab oder beschreibt ihre Unfähigkeit, in dieser Situation einen klaren Gedanken zu fassen oder zieht Alternativen in Erwägung. Es gibt kein Sinnieren, nur das unbändige Gefühl, dass sie ihrem Vater helfen möchte. Wie auch immer du deine Hauptfigur an diese Entscheidung herantreten lässt, diese darf ruhig etwas schwerwiegender und ausführlicher präsentiert werden.

2. Wie oben schon beschrieben: Wenn die Geschichte damit endet, dass sie in diesen Pakt einwilligt, sollte dem ganzen mehr Gewicht verliehen werden. Denn bisher erscheint diese Entscheidung als gar nicht soo schlimm. Sie fühlt sich zu dieser Dame hingezogen und das einzig beunruhigende besteht darin, dass auf den Bildern seltsame schwarze Male abgebildet werden und dass sie damit beauftragt wird, Bilder von bestimmten Leuten zu machen, mit einer übernatürlichen Kamera als Hilfsmittel. Natürlich weiß der Leser, der mit solchen Geschichten vertraut ist, dass da meistens mehr hintersteckt und die Sache einen bitteren Haken hat. In deiner Geschichte jedoch verbleibt das ganze nur als eine vage Andeutung, weil man im Grunde nicht viel über die Dame, die Kamera, die schwarzen Male und ihren Auftrag, betimmte Leute zu fotografieren weiß. Die Entscheidung, die sie trifft, wäre stärker, wenn sie im Bewusstsein einwilligen würde, dass sie ihr eigenes Wohlergehen sowie das ihres Vaters sichert, in dem sie im Gegenzug etwa höchst unmoralische Dinge tun müsste, die ihr Seelenheil zerstören. Oder dass sie weiß, dass das letztendliche Leiden viel größer sein wird. So etwas gäbe dem Abschluss dieser Kurzgeschichte mehr emotionales Gewicht.


Abgesehen davon habe ich nicht viel mehr zu bekritteln. Ich hoffe, du bekommst keinen falschen Eindruck. Mir hat deine Geschichte gefallen und ich habe sie gerne gelesen. Das ist mir auch beim zweiten Durchgang aufgefallen. Jedoch lässt mich das ganze leicht unbefriedigt zurück, weil viele zentrale Antworten komplett unbeantwortet bleiben. Du machst ein Mysterium auf, welches den Eindruck vermittelt, für eine größere Geschichte konzipiert zu sein, und lässt den Leser am Ende damit hängen, dass er sich über die weiteren Geschehnisse selbst einen Kopf machen sollte. Der interessante Part beginnt ja gerade erst. Aus diesem Grund würde ich mir wirklich eine Fortsetzung wünschen, welche Frau Reicherts neues Leben im Dienst dieser seltsamen Frau beschreibt und schließlich die bitteren Konsequenzen des ganzen Unterfangens aufzeigt. Falls du gewillt bist, die Geschichte fortzuführen, werde ich natürlich gespannt warten, da die fremde Frau ein potenziell sehr interessanter Charakter zu sein scheint.

Ich hoffe, meine Anregungen konnten dir weiterhelfen.

Mit freundlichen Grüßen,

Robot Fireman

 

Hallo weltenläufer,

danke für deine Kritik. Das Ende hat einigen nicht so gut gefallen, vielleicht finde ich irgendwann DIE Idee, wie ich das besser machen könnte, im Moment fehlt sie mir.
Die Frau ist - plakativ gesagt - der Teufel. Oder eine Helferin des Teufels. Die Protagonistin soll mit Hilfe der Kamera Menschen erkennen, die ebenfalls viel Leid mit sich herumtragen, oder Schuldgefühle, und anfällig sind für einen Handel mit der dunklen Seite, damit es ihnen wieder besser geht. Kurzum: Die Protagonistin soll der Dame beim Seelensammeln helfen. Das unterschwellig sexuelle finde ich interessant, weil ich mir die Dame einfach sehr anziehend vorgestellt habe, als ich die Geschichte geschrieben habe, und zwar wirkt sie so auf Männer und Frauen.

Die Stolperer werde ich beseitigen, danke für deinen wachsamen Blick.

Viele Grüße
RinaWu

Hallo Robot Fireman,

wow, Wahnsinn, was du dir für eine Mühe mit deinem Kommentar gemacht hast. Ich glaube nicht, dass ich im Moment darauf gebührend eingehen kann, einfach weil ich gerade privat in einer schweren Phase stecke, aber ich will es versuchen.

Erst einmal freut es mich, dass dir die Geschichte an sich gefallen hat, was den Stil und den Spannungsaufbau betrifft. Du hast recht, der Kniff ist hier, wie es zu dem Pakt kommt und warum sich die Protagonistin darauf einlässt. Die Konsequenzen bleiben offen. Einen Teil 2 wird es wohl nicht geben, jedenfalls denke ich im Moment so. Mal sehen ...

Ich wundere mich hier. Sie 'verschränkt die Arme vor der Brust'. Für gewöhnlich ist das eine Abwehrreaktion in einem Gespräch. War die Geste so von dir gewollt, dass der Verführungsversuch bei ihr zunächst auf Widerstand trifft und sie sich dem entziehen will?
Die Geste war eher dazu gedacht, die Unsicherheit der Protagonistin zu zeigen. Sie breitet stolz die Arme aus, kommt sich dann plötzlich dumm dabei vor und lässt sie wieder fallen, verschränkt sie vor der Brust.

Diese Passage mag ich sehr. Im Vorfeld machst du einen guten Job dabei, die erotische Spannung zwischen den beiden bildlich und präzise zu beschreiben. Gerade auch deswegen funktioniert dieses humorvoll-peinliche Missverständnis sehr gut.
Danke dir!

Oder soll das eine Art Andeutung auf die geheimnisvolle Macht sein, welche in der Kamera wohnt? Hattest du etwas bestimmtes vor Augen (Oh je: Ein Wortspiel!), als du diese Passage geschrieben hast?
Ja, in der Tat wollte ich hier schon andeuten, dass von der Kamera eine seltsame Kraft ausgeht, die meine Protagonistin spürt und die sie abstößt.

Du sprichst an einigen Stellen die blumige Sprache an. Ich habe das bei dieser Geschichte tatsächlich mal extra so ausarten lassen. Ich übe mich seit geraumer Zeit im klaren, präzisen Schreiben, aber hier fand ich eine ausuferndere Sprache ganz passend. Dies für dich zur Erklärung. Ich kann aber durchaus verstehen, wenn dir das an einigen Stellen zu viel des guten war.

Theoretisch kann man es als überspitzte Formulierung lesen, dass sie sich dem zupackenden Einfluss der anderen Frau zur Zeit noch entziehen will.
Ich wollte hier einen kleinen Wendepunkt beschreiben. Die Hin- und Hergerissenheit der Protagonistin in Bezug auf die Fremde. Sie fühlt sich zu ihr hingezogen, spürt aber gleichzeitig, dass da etwas auf sie lauert.

Bezieht sich diese 'Sitzung' auf ihr Treffen mit der Frau oder mit ihrer Psychologin?
Zweiteres. Sie denkt davor ja kurz an ihre Albträume und die Gestalt. Dann denkt sie darüber nach, ob sie Ihrer Therapeutin davon erzählen soll.

Jedes Mal, wenn ich diese Passage lese, muss ich lachen, so pointiert trocken wird die Entblößung hier beschrieben. Wirklich nett.
Das freut mich. Ich wollte hier ihre unverblümte Art, ihre Offenherzigkeit zeigen, von der sie genau weiß, dass sie die Protagonistin einschüchtert. Und gerade deshalb macht es ihr so viel Spaß. Ein bisschen wie die Katze mit der Maus.

Sie wägt nicht ab oder beschreibt ihre Unfähigkeit, in dieser Situation einen klaren Gedanken zu fassen oder zieht Alternativen in Erwägung. Es gibt kein Sinnieren, nur das unbändige Gefühl, dass sie ihrem Vater helfen möchte. Wie auch immer du deine Hauptfigur an diese Entscheidung herantreten lässt, diese darf ruhig etwas schwerwiegender und ausführlicher präsentiert werden.
Ja, da hast du recht. Nach etwas Abstand werde ich mich da noch mal dran setzen.

Ich bin wirklich beeindruckt, wie viele Gedanken du dir gemacht hast und wie du den Text analysiert hast. Vielen Dank dafür. Vieles muss ich mir noch einmal in Ruhe durchlesen, sacken lassen, und dann im Text verarbeiten, wenn ich mich noch einmal dran setze. Aber da waren viele tolle Gedanken und hilfreiche Anmerkungen dabei, vielen Dank.

Viele Grüße
RinaWu

 

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