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- 21.04.2015
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Schattenbilder
Dämmerung legt sich über den Verkaufsraum, als die Frau meinen Laden betritt. Jede ihrer Bewegungen scheint der Umgebung Licht zu entziehen, bis die Regale im Halbdunkel versinken. Ihr dunkles Haar fällt in schweren Locken über die Schultern, der fein geschwungene Lidstrich betont die mandelförmigen Augen, die aufmerksam den Raum abtasten. Sie erinnert mich an eine dieser klassischen Schönheiten auf Filmplakaten mit dem akkurat aufgetragenen dunkelroten Lippenstift und dem eng sitzenden Abendkleid. Sie lässt den Blick über die Fotografien und Apparate gleiten, hin und wieder streicht sie mit der fein manikürten Hand über Objektive oder Bilderrahmen.
Einige Männer im Raum beobachten die Frau verstohlen zwischen den Regalen hindurch, versuchen ihr Interesse zu verbergen, doch ich kann sehen, wie sie verstohlen die Position wechseln, um eine bessere Sicht auf die Fremde zu erhaschen. Ich habe noch nie einen Raum betreten und die Aufmerksamkeit auf mich gezogen, mir macht es Angst, wenn zu viele Menschen mich ansehen. Doch die Frau begegnet unseren Blicken mit einem Lächeln, das verrät, dass sie Situationen wie diese gewohnt ist.
Fasziniert mustere ich sie, die aufrechte Haltung, die zierlichen Schultern und den leicht zur Seite geneigten Kopf. Frauen wie sie sind mir ein Rätsel, ihre Eleganz schüchtert mich ein. Ich sehe an mir herunter und schäme mich für die abgewetzte Jeans und den fusseligen Pullover.
„Gehört Ihnen der Laden?“ Ihre dunklen Augen erinnern mich an tiefe Brunnen.
„Ja, richtig, das …“ Ich breite die Arme aus, lasse sie aber sofort wieder fallen und verschränke sie vor der Brust. „Das ist mein Geschäft.“
Sie zwinkert mir zu. „Schön haben Sie es hier.“ Ihre tiefe Stimme legt sich um mich wie schwarzer Samt.
Sie sieht zu den Fotografien hinüber, nimmt sich Zeit für jedes Bild, bevor sie sagt: „Sie haben ein gutes Auge.“
„Danke, das ist … Ich habe schon immer …“ Sie betrachtet mich aufmerksam, ihren Blick auf meine Lippen geheftet. Ich streiche mir eine Haarsträhne aus der Stirn und schaffe es schließlich, ein „Danke, das ist nett von Ihnen“ hervorzustoßen. Blut schießt mir in die Wangen und ich senke den Kopf, tue so, als durchsuche ich die Aufträge auf meinem Tisch, um die Hitze im Gesicht wieder unter Kontrolle zu bekommen.
„Haben Sie morgen schon etwas vor?“
Ruckartig hebe ich den Kopf. „Morgen? Ich … Nein, also, ich bin hier im Laden, aber ich könnte natürlich in der Mittagspause …“
Sie zwinkert mir erneut zu und senkt ihre Stimme. „Ich möchte Bilder von mir anfertigen lassen, die etwas … Nun, sagen wir, intim sind. Deshalb ist es mir wichtig, dass sie eine Frau macht. Eine andere Sichtweise, Sie verstehen?“
Mein Blick schießt durch den Raum. Die Männer im Laden halten Kameras in der Hand, starren auf sie herunter oder sehen sich betont entspannt im Verkaufsraum um. Die Fremde lehnt sich zu mir über die Theke, verdreht die Augen und zuckt mit den Schultern.
„Als hätten die noch nie eine nackte Frau gesehen, was?“, flüstert sie. Zwischen uns fängt die Luft an zu vibrieren, ich fühle mich mit ihr verbunden, ganz unvermittelt und intensiv. Der Boden schwankt, ich halte mich an der Tischkante fest und nicke ihr zu.
„Sie können morgen Vormittag vorbeikommen, sagen wir, gegen elf?“
„Perfekt.“
Sie legt ihre Hände auf die Theke. Ich betrachte die helle Haut, die schmalen Finger. Kein Schmuck, nur dunkelroter Nagellack, sorgfältig aufgetragen. Die Außenseite ihrer rechten Hand liegt ganz nah neben meiner.
„Ich hätte da noch eine Bitte“, sagt sie.
Ich blicke fragend auf.
„Es ist sicher ein wenig ungewöhnlich, aber ich sage es einfach frei heraus: Ich möchte gerne mit dieser Kamera von Ihnen fotografiert werden.“
Die Frau zieht eine Polaroidkamera aus ihrer Tasche und legt sie vor mir auf die Theke. Ich nehme sie in die Hand, begutachte sie. Das Plastik ist kalt und klebrig, widerwillig sehe ich mir das Gerät noch ein paar Sekunden länger an, obwohl ein leiser Ekel in mir aufsteigt.
„Das … Sind Sie sicher? Das ist ein ziemlich altes Gerät.“ Ich lege die Kamera auf den Tresen und wische mir die Hände an der Hose ab. „Die Filme sind schwer zu bekommen, mal ganz abgesehen von der Qualität, da gibt es …“
„Die Qualität ist besser als jede andere“, fällt sie mir ins Wort. Ihre Stimme hat plötzlich einen kalten Schneid, der mich zusammenzucken lässt.
„Verzeihen Sie.“ Sie schüttelt den Kopf, den Blick auf die Kamera gerichtet. „Es ist ein Erbstück meiner Mutter. Sie … Vor ein paar Jahren, da …“
Ihre Augen werden glasig. Erschrocken suche ich nach Taschentüchern, finde schließlich eine Packung neben der Kasse und reiche sie ihr. Sie tupft sich vorsichtig die Augenwinkel ab und sieht zu mir auf. Ihr Lächeln wirkt gebrochen.
„Ihr Tod war ein Schock für mich. Ich sollte es so langsam verarbeitet haben, aber es kämpft sich immer wieder seinen Weg nach oben. Gerne in den unmöglichsten Momenten.“
Ich lege meine Hand auf ihre. Sie ist weich und kühl. „Ich verstehe, was Sie meinen.“
Sie nickt und flüstert: „Ich weiß.“
Ich ziehe die Hand zurück und schlucke. „In Ordnung“, sage ich. „Ich kann diese Kamera benutzen, wenn Sie möchten. Der Preis für die Aufnahmen richtet sich dann entsprechend danach, wie lange wir brauchen.“
Ich bemühe mich, professionell zu klingen.
„Danke.“ Sie lächelt mich an. „Bis morgen.“
Die Frau dreht sich um und verlässt den Laden. Durch die Schaufensterscheibe verfolge ich ihre grazil schwingende Silhouette, bis sie sich am Ende der Straße zwischen den Menschen verliert. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie mir ihren Namen nicht genannt hat.
Der Schlüsselbund fällt klirrend auf den alten Dielenboden. Ich bücke mich danach und lasse ihn kopfschüttelnd in die Schale fallen, die auf der kleinen Kommode links neben der Tür steht. Links. Nicht rechts. Rechts war früher. Rechts war in der anderen Wohnung. Die, in der seine dunklen Umrisse schon auf mich warteten, als ich den Flur betrat. Regungslos saß er am Küchentisch. Das Licht machte er immer erst an, wenn ein paar Sekunden Dunkelheit vergangen waren, um mich mit toten Augen anzustarren.
In der neuen Wohnung kann man vom Flur aus nicht in die Küche sehen. Ich muss erst ein paar Schritte gehen, die zweite Tür links führt hinein, sie schleift leicht über den Boden, weil der Rahmen verzogen ist. Die Vermieterin sagte mir, das könne man richten, aber das will ich gar nicht. Ich genieße das Schleifen, die knarzenden Holzdielen, die Wände, die beim Bohren zerbröseln, wenn ich nicht aufpasse. Die Wohnung ist alt, sie ist warm, ich kann barfuß durch den Flur laufen, ohne zu zittern. Ohne die Kälte zu spüren, die von unten meinen Körper hinaufkroch, wenn ich die Fliesen im Flur entlanglief, um nach ihm zu sehen.
Meine Hände fangen an zu zittern, ich fahre mir durch die Haare und atme tief durch. Ich streife die Schuhe von den Füßen und gehe durch das Wohnzimmer hinaus auf den Balkon. Von oben dringen die Stimmen der beiden Studentinnen zu mir herunter, die über einen ihrer Professoren herziehen, unter mir gießt die alte Dame mit den bunten Kleidern ihre Blumen. Ich lausche dem Plätschern des Wassers, den plappernden Stimmen der beiden Frauen, lehne mich an die Wand und schließe die Augen.
Seine Stimme hallt dunkel zwischen den Bäumen wider. Ich drehe mich im Kreis, suche hinter den Stämmen nach seiner hageren Figur, aber da ist nur feiner Nebel in dem dreckigen Zwielicht, das mich umgibt.
„Fassen Sie mich nicht an!“, brüllt er.
Ich stolpere über den von Wurzeln zerfressenen Boden, meine Wangen sind nass, ich muss ihn finden, ihn in den Arm nehmen, renne von Baum zu Baum, doch dahinter empfängt mich immer nur quälende Leere.
„Was machen Sie in meiner Wohnung?“
Seine Stimme zittert vor Angst, mein Herz vor Verzweiflung. Ich will nach ihm rufen, aber meine Lippen kleben aneinander fest, ich kann den Mund nicht öffnen, ich taste mit der Hand danach, aber da ist nur glatte, kalte Haut. Um mich herum wird es dunkler, die Äste der Bäume wachsen, greifen um sich, schlängeln sich um meine Füße.
Plötzlich sehe ich sein Gesicht, es schwebt zwischen den Stämmen, neigt sich sachte von links nach rechts. Die Falten um seine Augen sind tief in die Haut eingegraben, ich strecke die Hand nach ihm aus, will mit den Fingerspitzen an seinem Gesicht entlangfahren. Sein Blick liegt schwer auf mir, Erkennen flimmert über die Netzhaut. Er lächelt.
„Du siehst deiner Mutter so ähnlich.“
Ich versinke im schlammigen Boden, während sich die Äste immer enger um meinen Körper schlingen. Zischend sauge ich Luft durch die Nase ein, aber sie ist stickig, sie reicht nicht aus. Um mich herum wanken die Bäume, ich falle nach vorne, mit dem Gesicht im Matsch strample ich, versuche wieder aufzustehen, aber die Wurzeln halten mich fest. Erde dringt mir in die Nase, in die Ohren, die Dunkelheit, sie kommt von der Seite, von oben, immer näher, bis sie mich –
Keuchend fahre ich aus den Kissen hoch und japse nach Luft. Durch die halb heruntergelassenen Rollläden malt das Mondlicht kleine Kreise auf die Bettdecke. Ich wische mir über die Stirn und starre auf die schweißnasse Hand. Zupfe an dem T-Shirt, das mir am Rücken klebt.
Ich habe gedacht, ich hätte es geschafft. Drei Monate ohne Träume. Doch jetzt, jetzt schwebt sein Gesicht wieder vor mir, die zornigen Augen brennen mir ein Loch in den Bauch. Seine Stimme hallt noch immer durch den Raum, als versuche er, aus dem Traum zu mir ins Bett zu kriechen.
Ich ziehe mir eine Strickjacke über und gehe hinaus auf den Balkon. Der erste Zug der Zigarette legt sich neblig auf meine Lungen, ich spüre, wie mein Herzschlag langsam wieder zur Ruhe kommt.
Warum jetzt? Die Psychologin hat erst vor ein paar Tagen gesagt, ich mache große Fortschritte. Mir fallen ihre genauen Worte nicht mehr ein, aber ich erinnere mich an ihre aufmunternden Augen ...
Ich betrachte die Hausdächer, die der Mond mit silbrigem Licht übergießt. Mein Blick wandert die fremden Balkone entlang, ich stelle mir vor, wer wohl dort drüben wohnt, was er oder sie gerade träumt. Plötzlich sehe ich sie. Schräg gegenüber, auf einem der Balkone des Altbaus an der Ecke, steht eine schwarze Gestalt. Ich kann ihr Gesicht nicht erkennen, aber ich spüre, dass sie mich ansieht. Mich fixiert wie das Raubtier die Beute. Langsam hebt sie die Arme und hält etwas vor ihr Gesicht. Mein Puls rast, zitternd drücke ich die Zigarette aus und schlüpfe zurück in die Wohnung. Ich traue mich kaum, erneut hinüberzusehen. Versteckt hinter der Gardine spähe ich aus dem Fenster, doch die schemenhafte Gestalt ist verschwunden.
Die Ladenglocke klingelt. Mein Herz macht einen Satz, ich blicke zur Tür und halte den Atem an. Eine ältere Dame betritt das Geschäft.
Sie lächelt mich an und fragt: „Haben Sie Fotoalben?“
„Sicher. Dort hinten im Regal, neben den Bilderrahmen.“
Die Dame nickt mir zu und geht mit kleinen Schritten durch den Laden. Sie bleibt vor dem Regal mit den Fotoalben stehen, überlegt eine Weile und zieht schließlich eins heraus, um es eingehend zu betrachten.
Ich überlasse sie ihrem Auswahlverfahren und widme mich den wenigen offenen Rechnungen, die vor mir liegen. Immer wieder drifte ich davon. Mein Blick huscht zu der Uhr, die über der Tür hängt. Fünf vor elf. In meinem Bauch rumort es, wenn ich an die fremde Frau denke. Ich kann es kaum erwarten, sie eintreten zu sehen, die feinen Bewegungen zu verfolgen, ihr Lächeln mein Gesicht streicheln zu lassen.
Schwere Augenlider erinnern mich immer wieder daran, dass ich kaum geschlafen habe, aber der Gedanke an den Termin mit der Unbekannten verscheucht die Bilder der letzten Nacht. Wie Schatten sitzen sie in meinem Nacken, warten darauf, dass ich mich zu ihnen umdrehe. Doch ich richte den Blick nach vorn, verfolge den Zeiger der Uhr. Noch zwei Minuten. Ob ich bei der nächsten Sitzung davon erzählen soll? Dem Traum, der Gestalt auf dem Balkon?
Das Klingeln der Ladentür holt mich zurück ins Jetzt. Da steht sie im Gegenlicht der Sonne. Schwarzer Kaschmirpullover, enganliegende Jeans und glänzende, knallrote Pumps. Ich schäme mich für den Versuch, in meinem blauen Blusenkleid schick aussehen zu wollen.
„Hallo“, sie winkt mir zu und kommt näher. „Süßes Kleid.“
„Danke“, bringe ich hervor und räume die Rechnungen zusammen.
„Machen Sie das ruhig zu Ende, ich habe Zeit.“
„Nein, das …“ Ich schiebe den Stapel Blätter zur Seite. „Das kann warten. Wollen wir?“
„Entschuldigen Sie bitte?“, krächzt es plötzlich von der Seite. Die ältere Dame steht mit einem Album unter dem Arm neben dem Verkaufstresen und mustert die Fremde eingehend. Ihr Blick wird dabei immer misstrauischer. Sie legt das Buch auf die Theke und nestelt in ihrer Tasche. „Ich möchte das bezahlen, bitte.“
Ich scanne das Fotoalbum ein. Bevor ich der Dame den Preis nennen kann, schiebt sie mir das Geld zu. Ihre Hand zittert.
„Behalten Sie den Rest“, flüstert sie, greift nach dem Album und verlässt den Laden.
„Ich scheine der Dame nicht besonders gefallen zu haben“, sagt die Fremde und verschränkt die Arme vor der Brust. „Muss an den Schuhen liegen.“
Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen und zucke mit den Schultern. „Vielleicht auch am Lippenstift.“
Sie lacht. Ein dunkles, warmes Lachen.
„Kommen Sie“, sage ich und führe sie in den Raum, in dem ich meine Aufnahmen mache.
Während sie sich langsam die Kleidung vom Leib streift, muss ich mich dazu zwingen, sie nicht anzustarren. Ich halte die Polaroidkamera in der Hand und tue so, als würde ich sie genau inspizieren. Es sticht im Innern, aus dem Augenwinkel den Schwung ihrer Hüften wahrzunehmen, die Linien des Körpers, die so fließend ineinander übergehen. Ich denke an die kleinen Polster auf meiner Hüfte und zupfe das Kleid zurecht. Als ich aufsehe, beobachtet sie mich.
„Sie sind sehr hübsch“, sagt sie leise.
Ich schlucke.
„Entschuldigung, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten“, fügt sie hinzu und lässt ihren BH fallen.
„Nein, schon okay, ich schätze … Ich sehe mich einfach anders.“
„Wie denn?“
„Schuldig“, platzt es aus mir heraus. Verwirrt schaue ich die Fremde an und schüttle den Kopf. „Ich meine …“ Krampfhaft suche ich nach Worten.
„Schon gut“, beruhigt sie mich. Ihre Augen funkeln. „Fangen wir einfach an.“
Ich gebe ihr Anweisungen, versuche mich nur auf diesen Moment zu konzentrieren. Die Kamera wiegt schwer in meinen Händen, sie klebt an meiner Haut. Widerwillig halte ich sie vors Gesicht und suche den perfekten Winkel, den besten Ausschnitt für das Bild.
„Wissen Sie, warum ich diese Kamera so mag?“, fragt mich die Fremde.
„Ich dachte, wegen Ihrer Mutter …“
„Sicher, das auch“, winkt sie ab. „Aber besonders deshalb, weil man sie nicht austricksen kann. Keine verstellbare Schärfe, kein Retuschieren – sie fängt dich so ein, wie du bist.“ Dabei fixiert sie mich und nickt.
Ich verstecke mich hinter der Kamera und drücke ab. Surrend schiebt sich das Polaroid durch den Schlitz des Geräts. Plötzlich wird mir übel. Ich lehne mich an die Wand hinter mir und atme tief durch.
„Stimmt was nicht?“, fragt sie.
„Alles in Ordnung“, erwidere ich und ziehe das Bild vorsichtig heraus. Auf dem milchigen Weiß der Oberfläche bilden sich langsam die Konturen der Frau heraus. Ihre helle Haut leuchtet vor dem dunklen Hintergrund, den sie ausgesucht hat. Die langen Haare fallen sanft über die Schultern und bedecken ihre Brüste. Fasziniert beobachte ich, wie die Details des Körpers zum Vorschein kommen, ganz klein nur, aber trotzdem sichtbar. Mein Blick bleibt an ihren Händen hängen. Die Finger sind dunkel verfärbt.
„Ist es nicht gut geworden?“, fragt sie.
„Doch, es ist nur …“ Ich sehe mich im Raum um. „Ich glaube, da fällt ein Schatten von irgendwo … Nicht bewegen, bitte. Ich stelle das Licht noch einmal genauer ein.“
Sie verfolgt jede meiner Bewegungen. „Sagen Sie, führen Sie den Laden ganz allein? Oder gibt es einen Mann, der Sie unterstützt?“
Ich hasse sie für diese Frage und schüttle den Kopf. „Nur ich.“
„Haben Sie das Geschäft von Ihren Eltern übernommen?“
„Meinem Vater“, presse ich hervor. Ich schiebe den rechten Scheinwerfer ein Stück nach hinten und trete zurück. „Probieren wir es noch einmal.“
Sie nickt und nimmt ihre Pose wieder ein. Als ich abdrücke, fährt ein Stromschlag durch meinen Finger und schießt durch meinen Unterarm. Ich zucke zusammen, die Kamera entgleitet meinen Händen, meine Arme schnellen nach vorne, um sie gerade noch aufzufangen, bevor sie auf den Boden fällt. Schlagartig überrollt mich erneut die Übelkeit und ich muss mich an der Wand abstützen.
„Was haben Sie denn?“
Die Fremde kommt auf mich zu, geschmeidig wie eine Katze, und legt die Hand auf meine Schulter. Ihre nackte Haut strahlt Hitze aus, Schweiß bildet sich in meinem Nacken, ich halte mir den Bauch und drehe mich zur Seite, weg von ihr.
„Es geht schon, ich brauche nur einen Schluck Wasser.“
„Wo ist die Toilette?“
„Nein, lassen Sie nur, ich kann das selbst …“
„Sie bleiben hier und holen tief Luft. Wo ist sie?“
„Den Gang entlang, die erste Tür links.“
Sie zieht sich den Pullover über, schlüpft in ihren Slip und verschwindet. Ich höre ihre barfüßigen Schritte auf den Fliesen, das Rauschen des Wassers, und sehne mich danach, sie wieder auf mich zukommen zu sehen. Als sie schließlich im Gang erscheint, in der Hand ein Glas Wasser, zerbricht etwas in mir und ich rutsche an der Wand hinunter. Sie sieht ein paar Sekunden auf mich herab, dann setzt sie sich zu mir auf den Boden.
„Stehen Sie auf, der Boden ist viel zu kalt“, sage ich und versuche, wieder auf die Beine zu kommen.
Sie legt die Hand auf meinen Arm und drückt mich nach unten. „Mir ist nie kalt.“
Wir sitzen uns gegenüber, hinter uns die Scheinwerfer, neben uns die Kamera, die die Szene still beobachtet. Das Polaroid hängt noch immer im Schlitz fest. Ich ziehe es heraus und spüre erneut meinen Magen flattern. Dieses Mal sind es nicht nur die Hände. Von den Füßen kriecht eine dunkle Masse an der Fremden hinauf, ihr Körper ist mit schwarzen Flecken übersät.
„Was zum …?“
Bevor ich den Satz zu Ende bringen kann, blitzt es vor meinen Augen. Ich halte mir die Hand vors Gesicht und blinzle, während sich meine Augen langsam von dem grellen Licht erholen. Die Fremde lässt die Kamera sinken.
„Sie sind fotogen“, sagt sie und legt das Bild neben sich auf den Boden. „Es sind Ihre Augen. So viel Schmerz.“ Sie leckt sich über die Lippen.
„Wer sind Sie?“, frage ich.
„Jemand, der Ihnen helfen will.“
Ich will aufspringen und wegrennen. So viel Abstand wie möglich zwischen mich und diese Frau bringen. Aber etwas hält mich fest. Zieht mich zur ihr, sehnt sich nach der Nähe dieser Fremden, dem dunklen Blick, mit dem sie in mich hinein sieht.
„Sie kennen mich doch gar nicht.“
„Wissen Sie“, sagt sie lächelnd und steht auf. Das Bild von mir nimmt sie mit. „Ich kenne die Menschen. Ich sehe, wenn jemand den Schmerz nicht mehr ertragen kann. Es ist fast wie …“ Sie wedelt theatralisch mit der Hand in der Luft, bevor sie in ihre Handtasche greift und sich eine Zigarette ansteckt. „… wie eine Gabe.“
Ich starre sie an, sehe sie nackt, obwohl sie es nicht mehr ist. Nackt, übersät mit schwarzen Flecken. Ich kneife die Augen zusammen. „Was ist hier los?“
„Wir unterhalten uns ein bisschen. Wie zwei alte Freundinnen. Hatten Sie dieses Gefühl nicht auch, als wir uns das erste Mal sahen? Diese …“ Sie spitzt die roten Lippen, schmatzt, als würde sie die Luft kosten. „Diese Verbindung.“
Ich fühle mich durchschaut. Erneut will ich mich aufrappeln und flüchten. Doch ihr Gesicht, die Art, wie sie mich ansieht … Sie ist so schön. Sie nimmt mich wahr. Sie –
„Wo ist dein Vater?“, fragt sie plötzlich. Sie lässt sich vor mir auf den Boden gleiten und legt ihre Hand auf meine.
„Im Krankenhaus“, sage ich. Mein Mund formt die Worte von alleine. Sie kommen aus meinem Bauch, von tief unten, ich kann sie nicht festhalten. „In der psychiatrischen Abteilung.“
„Weil du ihn die Treppe hinuntergestoßen hast?“
„Was? Ich habe nicht … Woher …? Nein, das stimmt nicht, das war ein Unfall!“
„Warum zerfrisst dich dann das schlechte Gewissen, meine Liebe?“ Genüsslich zieht die Fremde an der Zigarette, ihre Augen glänzen hinter dem feinen Rauch, der vor ihrem Gesicht aufsteigt.
„Wie können Sie sowas sagen? Wie können Sie mich einfach verurteilen?“, schluchze ich.
Sie lacht. „Ich bin bestimmt die Letzte, die dich verurteilt. Ich will, dass du loslässt. Vertrau mir.“
Sie rutscht noch ein Stück näher, eine Haarsträhne fällt über ihre Schulter und berührt mich am Arm.
„Ich konnte es einfach nicht mehr“, höre ich mich sagen. „Meine Mutter, sie hat uns verlassen, als es losging. Sie hat es nicht ertragen, von ihm vergessen zu werden. Ich habe sie gehasst damals, aber jetzt verstehe ich es.“
„Du hast dich um ihn gekümmert, richtig? Du allein.“
Ich nicke und wische die Tränen weg. „Es fing harmlos an. Ein vergessenes Wort, ein entfallener Name. Dann hat er den Weg nach Hause nicht mehr gefunden. Und schließlich ist er auf mich losgegangen, als ich ihn eines Morgens für die Arbeit aufwecken wollte.“
„Wie fühlt es sich an, wenn ein geliebter Mensch dich ansieht und nicht mehr erkennt?“
Fassungslos starre ich die Fremde an. „Macht Ihnen das Spaß?“
„Spaß ist das falsche Wort.“
Sie holt das Polaroid von mir hervor und betrachtet es. Ihre Mundwinkel zucken, als sie mich ansieht.
„Willst du es sehen?“
Ich nicke. Sie hält mir das Bild vors Gesicht. Vor dem gräulichen Hintergrund der Wand blickt mir mein erschrockenes Ich entgegen. Ich sehe furchtbar aus. Dunkle Augenringe verunstalten mein Gesicht, die fahle Haut wirkt durchsichtig. Aus meinen Augen kriecht mir die Trauer entgegen, die Wut, die seit Wochen in mir brodelt. Dann sehe ich es. Hinter mir kräuselt sich schwarzer Rauch an den Schultern entlang, den Nacken hinauf, und verschwindet hinter meinem Kopf.
„Was ist das?“ Mein Finger zittert, als ich auf das Bild tippe.
„Ich glaube, das weißt du.“
Ich schlage ihr das Foto aus der Hand. „Verschwinden Sie!“ Ich springe auf, kämpfe gegen den Schwindel an und gegen den Sog, der von der Fremden ausgeht, und taumle Richtung Verkaufsraum.
„Was, wenn ich dafür sorgen kann, dass dein Vater dich wieder erkennt?“
Ich drehe mich um, stürme auf sie zu und packe sie am Arm.
„Wieso tun Sie das? Was habe ich Ihnen denn getan? Ich dachte, Sie …“
„Was dachtest du? Dass wir Freundinnen werden können?“
Ich senke den Kopf. Schäme mich so sehr, dass ich das Gefühl habe, ihr nie wieder in die Augen sehen zu können.
„Das können wir“, flüstert sie. Wir stehen uns ganz nah gegenüber, ich spüre ihren Atem an meinem Hals. „Du kannst endlich glücklich sein. Den Laden mit deinem Vater weiterführen. Du selbst sein, einen Mann kennenlernen.“
Ich sehe zu ihr auf.
„Oder was auch immer du willst“, fügt sie hinzu und streicht mir über die Wange.
„Aber mein Vater ist krank.“
„Nicht mehr lange.“
„Er wird so wütend auf mich sein.“
„Nicht, wenn er sich nicht mehr daran erinnern kann, was du getan hast.“
Ich hänge an ihren Lippen, kann nicht mehr klar denken, die Aussicht darauf, meinem Vater in die Augen zu sehen, zu spüren, dass er weiß, wer ich bin, lässt in meinem Innern tausend kleine Lichter angehen.
„Sie können wirklich dafür sorgen, dass …?“
„Noch heute Abend – nennen wir es ein kleines medizinisches Wunder.“
„Warum tun Sie das für mich?“
„Sagen wir, weil ich mir für die Zukunft eine gute Zusammenarbeit mit dir erhoffe.“
„Ich verstehe nicht. Was kann ich denn für Sie tun?“
Sie reicht mir die Kamera. „Halte die Augen für mich offen. Wenn du jemanden entdeckst, rufst du mich an.“ Sie zieht eine Visitenkarte aus der Hosentasche und gibt sie mir. Verwirrt halte ich das Gerät in meinen Händen, die kleinen Härchen an meinen Unterarmen stellen sich auf.
Sie hält mir erneut das Polaroid vors Gesicht, das sie von mir gemacht hat. „Du wirst schon wissen, wenn es so weit ist. Sie wird dir dabei helfen.“
„Die Kamera?“
Sie nickt und sieht mich erwartungsvoll an.
„Das ist alles?“, frage ich.
„Nicht ganz. Wir zwei …“. Sie beugt sich zu mir, ihre Lippen berühren mein Ohr. „… wir sind untrennbar miteinander verbunden, wenn du den Vorschlag annimmst. Für immer.“
Die Worte hallen in meinem Kopf nach. Ich will sie festhalten, sie mir genau ansehen, denn ich spüre die Dunkelheit, die von ihnen ausgeht. Aber der Gedanke an meinen Vater nimmt mir die Sicht.
Sie tritt einen Schritt zurück und hält mir die Hand hin, ihre feingliedrige Hand mit dem blutroten Nagellack. Ich greife danach, erwidere den Druck und spüre ihre Hitze durch mich hindurchfahren.
„Bis bald“, sagt sie und haucht mir einen Kuss auf die Wange.
Sie klemmt sich die Handtasche unter den Arm, wirft mir einen letzten Blick zu und verlässt den Raum. Ich folge ihr in den Laden, sehe ihr nach, als sie auf die Straße hinaustritt und davonschlendert.
Die Visitenkarte zwischen meinen Fingern wellt sich. Sie ist schwarz, umrandet von einer feinen roten Linie. Das Papier fühlt sich staubig an. Ich suche nach einem Namen, drehe die Karte um, finde nur eine Handynummer am unteren rechten Rand der Rückseite. Ich wende die Karte erneut. Nichts.
Der Tag versinkt im Nebel. Ich drifte durch den Laden, räume Regale auf und bediene Kunden durch eine Milchglasscheibe, höre ihre Stimmen nur gedämpft. Immer wieder taucht die Fremde vor mir auf, leckt sich über die Lippen und streicht mir über die Wange.
Erst als draußen die Abendsonne die Straßen rot färbt, komme ich langsam wieder zu mir. Der letzte Kunde verlässt gerade den Laden, ich folge ihm, um die Tür abzuschließen, da klingelt das Telefon. Ich nehme ab und presse den Hörer ans Ohr.
„Frau Reichert?“
„Ja?“
„Hier ist Bettina Kimmel vom Marienkrankenhaus. Sie müssen dringend herkommen!“
„Was ist –?“
„Ihr Vater“, unterbricht sie mich. „Er fragt nach Ihnen. Er weiß plötzlich wieder Dinge, es ist nicht zu fassen …“
Die Stimme der Krankenschwester überschlägt sich. Sie spricht von einem medizinischen Wunder.
Ich weiß es besser.