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Schatten
Das Zimmer war in dunkles Zwielicht getaucht. Die Kerzen auf der Anrichte ließen lange Schatten mit dem Tanz der Flammen über Decke und Wände gleiten. Gedämpfte Musik strich mit zarten Klangfedern durch den Raum. Er genoß diese seltene Ruhe nach einem anstrengenden Tag. Der bequeme, schwere Sessel, das Glas Cognac, ein gutes Buch.
Heute war es anders. Etwas war anders. Er fühlte eine sonderbare Unruhe, die ihn schon den ganzen Tag verfolgt hatte. Es war nicht beängstigend aber permanent da, dieses Gefühl beobachtet zu werden. Gegen Mittag hatte es eingesetzt. Eine Ahnung, die man hat, wenn einem, zunächst unbemerkt, ein Kollege über die Schulter schaut. Aber da war Niemand. Es blieb den ganzen Tag. Es war offensichtlich, daß sein sonderbares Verhalten aufgefallen war, dieses ständige Umschauen, nach allen Seiten spähen. Dennoch fühlte er keine Beklemmung oder Angst. Es war nur auf eine seltsame Weise beunruhigend.
Es fiel ihm schwer, sich auf den Text zu konzentrieren. Immer wieder blickte er auf, sah sich im Raum um und versuchte dann erneut, in die Handlung des Buches einzutauchen. Immer wieder las er dieselben Sätze, ohne deren Bedeutung zu erfassen.
Der Tanz der Schatten hatte den Rhythmus der Musik aufgenommen und die feinen Silhouetten der Flammen wogten im Raum.
Wie von einer unsichtbaren Kraft gelenkt, richtete er seinen Blick auf die gegenüberliegende Wand.
Die Konturen waren kaum als Schatten zu erkennen, nur ein bizarrer Hauch von Grau, unbeweglich und starr, fast wie gemalt. Sein Herz schlug schneller und eine Spannung durchzog seinen Körper, immer noch keine Angst, eher ein Gefühl der Erwartung.
Er schloß die Augen. Er wollte sich nicht dem Gaukelspiel seiner Nerven hingeben. Er las weiter, Wörter und Sätze ohne Sinn.
Wieder hob er den Blick. Es war noch da. Und es war ein Schatten, deutlicher als zuvor, und wohl mit menschlichen Umrissen.
Er sprang aus dem Sessel. Mit zitternden Fingern suchte er den Schalter der Lampe. Licht flammte auf. Das Zimmer war wieder hell, der Zauber der Musik verflogen, die Schatten der Kerzen fort. Helligkeit drang in jede Ecke des Raumes und ließ keinen Platz für Geheimnisse.
Auch die Wand war so makellos weiß wie eh und je.
In Gedanken schalt er sich einen Narren, daß er sich hatte so gehen lassen. Er war überarbeitet, brauchte dringend Urlaub, Abstand von den Problemen im Büro, ein paar Tage fort, in ein anderes Land mit Sonne, Spaß und Abwechslung. Am nächsten Tag würde er mit seinem Vorgesetzten sprechen.
Müde wankte er ins Bad, um sich nachtfertig zu machen. Sein Spiegelbild ließ ihn erschrecken. Blasse Haut, rote Augen, müde Gesichtszüge. Er war gealtert in den letzten Wochen. Er hatte es eindeutig übertrieben. Gerade wollte er sich umwenden, da war wieder dieses Gefühl da, diese Ahnung nicht allein zu sein. Im Spiegel sah er in den Raum hinter sich: Wieder an der Wand. Er wirbelte herum, tastete mit ausgestreckten Händen die kalten Fliesen ab,- nichts. Erschöpft stieß er den Atem aus. Er brauchte Schlaf. Am nächsten Tag würde er alles regeln.
Die Stille im Schlafzimmer war auf eine nicht faßbare Weise unvollkommen. Es war wie immer. Das leise Rauschen der entfernten Straße, hin und wieder ein Knacken im Holz der Möbel oder sonst wo, alles vertraut. Eine Finsternis, die eigentlich keine war, zartes Mondlicht, das schwach durch die Vorhänge drang, hin und wieder verstärkt durch den Schein eines vorbeifahrenden Autos, der für Sekunden durch den Raum wanderte, mit Schatten spielte und wieder verging. Er hielt seine Augen offen, betrachtete jeden dunklen Bereich im Raum, jede Veränderung des Lichts, das auch eine Bewegung in der Schwärze zur Folge hatte. Alles war normal. Und doch wußte er, er war nicht allein.
Die Nacht war unruhig, Träume von grauen Nebeln, in denen menschliche Schemen auftauchten und wieder vergingen. Gesichter, die ihn ansahen, und sich wieder zurückzogen. Hände reckten sich ihm entgegen.
Das schrille Läuten des Weckers ließ ihn hochfahren. Mit einem Griff knipste er die Nachttischlampe an, sprang aus dem Bett und schaltete die Deckenbeleuchtung dazu. Mit gesenktem Blick lief er durch die Wohnung. Alles sollte hell sein. Keine Nische, in der sich ein Schatten verbergen konnte. Er war erschöpft und verunsichert. Die vergangene Nacht hatte keine Erholung gebracht. Da waren keine Reserven mehr, die er mobilisieren konnte. Was immer er gesehen hatte, ob Phantasie oder Realität, er wollte es ignorieren.
Die Morgentoilette brachte er in aller Eile hinter sich. Sein Haar kämmte er, ohne in den Spiegel zu sehen. Nie hob er den Blick. Er vermied es, weit in die Räume zu schauen. Er sah auf keine Wand und hetzte durch die Wohnung. Im Nu war er fertig, streifte die Jacke über, ergriff die Tasche und stürmte zur Wohnungstür.
Aber er hätte nicht aufblicken sollen.
Deutlich hob sich das dunkle Grau vom weißen Türblatt ab. Scharfe, menschliche Umrisse. Eine Wache aus einer anderen Dimension, die ihm den Weg ins Freie verwehrte. Kein gehauchter Schemen mehr, sondern scharf und unmißverständlich.
Er stoppte, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen, wirbelte herum und sah zu Boden. Jetzt kam die Angst doch. Jeder Herzschlag durchzog seinen Körper mit einem gewaltigen Ruck und schien dem Zittern neue Nahrung zu geben.
Irgendwo in seinem Innern erwachte ein letzter Funke Energie und ließ ihm klar werden, daß er raus mußte. Wenn er bliebe, würde er sich aufgeben. Flucht war die einzige Hoffnung. Ohne zu denken und voraus zu schauen, den Blick immer auf den Boden gerichtet, rannte er auf die Tür zu, riß sie auf und stürmte ins Treppenhaus, die Stufen hinunter und ins Freie.
Vor dem Haus ging er wie eine Besessener auf und ab, argwöhnisch beobachtet von den wenigen Passanten, die so früh unterwegs waren. Es dauerte Minuten, bis sich die ersten klaren Gedanken in seinem Bewußtsein formten. Bald darauf hielt ein Auto neben ihm. Mit seiner Kollegin bildete er seit langem eine Fahrgemeinschaft.
Ohne ein Wort stieg er ein und wurde mit besorgter Miene gemustert.
“Du bist kreideweiß. Was ist los? Bist du krank?” Unverwandt war sei Blick geradeaus gerichtet. Es war ihm unangenehm, jetzt auf einen anderen Menschen zu treffen.
“Es ist alles in Ordnung. Fahr ruhig los.”
Das Zittern in seiner Stimme verriet das genaue Gegenteil. Taktvoll beließ sie es dabei, legte den Gang ein und fuhr los.
Der andere Wagen kam aus einer Seitenstraße.
Der schrille Klang von sich verformendem Blech verband sich mit dem Klirren von Glas.
Er empfand keine Schmerzen, keine Panik mehr und keine Furcht. Nur ein seltsames Gefühl von Taubheit. Still lag er auf dem Asphalt. Er öffnete die Augen, sah in den herrlichen blauen Himmel mit den zarten Wolkenschleiern. Alles war gut. Auch als sich von der Seite ein Schatten in sein Blickfeld schob, ein grauer Schemen, den er schon einmal gesehen hatte.
Und in demselben Maß, wie ihn das Gefühl für seinen Körper verließ, nahm der Schatten Konturen an. Er blickte in warme liebevolle Augen, ein Lächeln, das Frieden schenkte. Die Hand, die ihn streichelte war von einer Zärtlichkeit, die er noch nie zuvor gespürt hatte. Erst jetzt hatte er die Sinne dafür.
Seit ihrem Tod hatte er nicht mehr solches Glück empfunden.
Sie hatte ihn aufhalten wollen.
Doch warum?
Sie war da und sie waren zusammen.
[ 24.04.2002, 16:12: Beitrag editiert von: Dreimeier ]