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Schaflos
Wenn du anfängst, dir Fragen zu stellen, ist es eigentlich schon zu spät. Ich sitze hier im sechsten Stock der Anwaltskanzlei Scheidebach, Friedemann und Schmitt und frage mich, wie es soweit kommen konnte. Ich bin in die Frau verliebt, für die ich arbeite, und dabei mag ich sie gar nicht.
Ich müsste nur durch die Tür gehen und da wäre sie. Säße hinter ihren Akten, tippte irgendetwas vor sich hin oder sinnierte. Vielleicht sähe sie aus dem Fenster, man hat einen tollen Ausblick von hier oben. Sähe aus dem Fenster auf die Schafswolken oder in andere Büros hinein. Würde sich vielleicht überlegen, wer hinter dem Glas sitzt. Dächte sich Geschichten zu ihnen aus, kleine Macken, ein Sprachfehler hier, eine Neurose dort. Überlegte, was für Wünsche sie hätten oder Träume oder spekulierte mit der Idee, dass auch sie aus dem Fenster schauten, nach oben zu den Schafswölkchen. Wo doch die Aussicht so gut ist.
Ich verriete sie nicht, wenn sie den Tag verträumte. Und wer würde es sonst tun?
Ich mache mir etwas vor. Öffnete ich die Türe, ich sähe: Vanessa Mellencamp und nicht viel mehr. Eine Frau, die einhundertzehn Prozent gibt. Eine Frau, die Akten liest, kaum lächelt, nie lacht. Tadellos gekleidet ist, selbstverständlich. Ein nachtblaues Kostüm hatte sie heute an, korngelb gestern. Ich weiß das, weil ich davon träume.
Öffnete ich die Tür, ich sähe Vanessa Mellencamp und nicht viel mehr. Akten, Telefonate und am Computer. Geschäftsbesprechungen, Strategien und Anwaltsjournale. Mit Klienten hat sie wenig Kontakt, das liegt ihr nicht, man ist sich sicher.
Aufstiegschancen gut, aber nicht überragend. Dazu fehlt der persönliche Kontakt. Ich weiß das, weil andere das wissen. Man unterhält sich.
Vanessa Mellencamp: tüchtig, gebildet, vorzeigbar, nur das Innovative geht ihr ab, die Kreativität. Wäre nicht schlimm, aber es fehlt auch Charisma. Sagen die Leute. Ich glaube das nicht. Ich glaube, sie macht den Leuten Angst.
Ein nachtblaues Kostüm trägt sie heute, ich habe es gesehen, als sie an mir vorbeigehastet ist. Und sie roch nach einem fruchtigen Parfüm. Aprikosen vielleicht.
Am Anfang bin ich öfter zu ihr reingehuscht. Unter jedem Vorwand. Sie müsse dies noch unterschreiben, jenes hier quittieren. Hätte ihr gerne in stillen Momenten zugetuschelt: Vanessa, eine Intrige. Gib Acht. Hätte ihr ein Brötchen serviert, mit Aprikosenmarmelade, passend zu ihrem Parfüm. Hätte geflüstert: Gönnen Sie sich doch mal etwas.
Doch sie ist unerbittlich. Sobald ich ihr Büro betrete, schmelzen meine Vorwände dahin. Bitte ich sie, etwas zu unterschreiben, fragt sie: „Ist das dringend?“ Fragt, warum es nicht in der Mappe gewesen sei. Und verharre ich noch einen Moment länger, dann: „Gibt es noch etwas?“
Ich schrumpfe vor ihren Augen. Fünf Zentimeter, wenn nicht mehr. Gehe rückwärts aus ihrem Büro und auch das wird sie mir bald verbieten. Wird mir sagen: Drehen Sie sich um. Dann können Sie schneller gehen. Ich breche in ihr Leben ein wie der Anruf eines alten Freundes. Sicher, man widmet sich ihm kurz. Ein paar Minuten, so lange es sein muss, dann legt man auf und macht weiter. Einhundertzehn Prozent. Ich liebe sie.
Wenn du anfängst, darüber nachzudenken, ist es schon zu spät. Bin ich besser als eine Arzthelferin, die sich in den Chef verliebt? Besser als die Vorzimmerdame eines Landrats. Natürlich. Ich weiß nicht. Bin ich erbärmlich? Es ist mir egal. Fürsorglichkeit kann ich mir auf jeden Fall nicht heraus nehmen. Jemandem wie ihr hält man keine Tür auf. Jemandem wie ihr wischt man kein Haar vom Kragen. Nicht wenn sie die Bluse noch anhat. Ihren Mantel reinige ich mit einer Fusselbürste und ertappe mich oft dabei, dass ich schwarze Härchen behalten will. Nur ein paar, mein Gott. Ich bin ja nicht irre.
Was spricht schon gegen ein paar Härchen?
Wenn sie wüsste, dass ich ihren Heimwege abfahre, wäre es auch zu Ende. Sie hat einen schwarzen BMW Coupé. Ein schönes Auto, sie wartet es nur zu selten und ob sie weiß, dass es ein schönes Auto ist … ich weiß es nicht. Wahrscheinlich funktioniert es nur. Das reicht.
Sie wohnt außerhalb, ein bisschen auf dem Land, in einer der Speckgürtelstädte. Vierzig Minuten hin, vierzig zurück. Wenn ich den Weg nachfahre, bin ich ihr nahe. Denke ich.
Auf halbem Weg ist eine Weide. Dort grasen Schafe. Manchmal stelle ich mir vor, dass sie dort hält. Aber nicht sehr oft.
Neun Uhr dreißig. Mein Auftritt. Unter dem Arm die Aktenmappe, in der linken Hand ein weißer Teller mit einem Schoko-Maikäfer. Weil der zweite Mai ist. Ich glaube, jeder andere hat einen Brückentag genommen. Die Flure sind leer, wir sind allein.
Ich öffne, ohne anzuklopfen. Am Anfang hab ich geklopft, bis sie sagte, das sei albern. „Was denken Sie denn, was ich hier mache, wenn die Tür zu ist?“, hat sie gefragt.
Ich habe nichts gesagt und nicht mehr angeklopft. Sie vertraut mir, wollte ich denken, aber wenn du anfängst, zu denken, ist es schon zu spät.
Ich öffne die Tür, sie schaut von den Akten hoch mit diesem stahlgrünen Blick, als hätte jemand alle Kleeblätter der Welt extrahiert, dann lackiert und sie in diese Augen gepackt.
Ob sie weiß, wie ich heiße?
Sie schaut hoch, sie hat mich, macht weiter. Liest etwas, korrigiert etwas, vielleicht fragt sie sich, warum ein Komma gerade ist und nicht rund. Nein, das fragt sie sich nicht.
Ich stelle die Aktenmappe vor ihr hin. Früher hab ich sie ihr umgeblättert. Wir waren ein Team, ich blätterte, sie unterschrieb. Das sei albern, befand sie.
Ich warte mit dem Schoko-Maikäfer vor ihrem Schreibtisch, sie pflügt durch die Mappe wie ein Eisbrecher durch die Arktis. Unterschrift, Unterschrift, Unterschrift. Vanessa Mellencamp. Was für ein Name! So viel Gelegenheit für Schlenkerchen und Spielchen. Die zwei „s“ könnte man verzieren, beim „M“ richtig Schwung holen und das abschließende „p“ wie ein Kuss nur aufs Paper hauchen. Sie schreibt und schreibt und schreibt. Kein Schwung zu viel, sie setzt nicht ab, aus einem Guss wird es hineingemeißelt. Und als sie fertig ist: „Ist noch etwas?“
„Der Mai ist“, sage ich. „Und ein Käferchen hat sich in ihr Büro verirrt.“
Sie schiebt mir die Aktenmappe entgegen. Schaut mich an. Ich hatte so sehr auf ein Lächeln gehofft.
„Seien Sie nicht albern“, sagt sie.
„Schokolade“, sage ich und stupse mit dem Fingernagel den Schoko-Käfer in ihre Richtung.
„Wenn ich Ihnen damit eine Freude mache“, sagt sie freudlos. Nimmt mit spitzen Fingern den Maikäfer vom Teller und setzt ihn vor sich hin.
Ich nehme zum Tausch die Mappe an mich und entferne mich rückwärts von ihr.
„Sie wären schneller, wenn sie sich beim Gehen umdrehten“, sagt sie, während sie die Akten weiterbearbeitet.
Ich bin ihr natürlich nie bis nach Hause gefolgt. Das würde mich umbringen. So ein geschniegelter Tennis-Fuzzi, mit blütenweißem Schweißband und einer Tochter. Privatschule und Klavierunterricht. In Mathematik überragend, in Deutsch geht so, Diktate hervorragend, für Aufsätze fehlt ein wenig die Kreativität, deshalb ja Klavierunterricht.
Ich höre viel. Sie sei lesbisch, eine ewige Jungfer, als Kind missbraucht worden oder promisk. Ich höre weg. Ihre Vanessa ist nicht meine. Und die Vanessa, die Vanessa ist, ist sowieso eine andere. Eine, die jetzt gerade von ihren Akten hoch schaut, den Maikäfer sieht und sich vorstellt, wie er seine Schokoladenflügel ausbreitet. Sie macht das Fenster auf und lässt ihn hinausfliegen zu den Schafswolken am Himmel.
Ihre Tür geht auf und bevor ich aufstehen kann, ist sie schon im Mantel. Sagt: „Schönes Wochenende“ und ist aus der Tür. Ich schnüffele ihr nach, aber die Aprikosen bilde ich mir mehr ein denn dass ich sie rieche. Ich gehe in ihr Büro und dort sitzt der Maikäfer, eingequetscht unter einem Berg voll Akten. Die Folie ist zerknittert, die Schokolade schmilzt, fliegen wird er nicht mehr.
Manchmal denke ich, sie kommt nicht mehr. Kommt Montag nicht, kommt Dienstag nicht und auch am Mittwoch noch keine Spur von ihr. Ich setze mich in mein Auto und fahre ihren Weg lang, bis zur Hälfte. Der schwarze BMW Coupé parkt vor der Wiese mit den Schafen. Ich steige aus und sie grast mit den anderen. Hat die Hände im taunassen Gras, rollt sich auf den Rücken, wenn sie müde ist, und steht wieder auf, wenn sie erwacht. Sie reibt sich Flanke an Flanke mit den anderen Schafen. Denkt sich Namen für sie aus und kleine Macken. „Der da“, sagt sie zu mir. „Auf den musst du aufpassen, das ist das Zorro-Schaf, der ist gefährlich. Wenn du nicht aufpasst, ritzt er dir ein S in den Bauch, während du schläfst.“
Ich würde mich zu ihr stellen, Flanke an Flanke. Wir würden das Gras unter unseren Händen spüren, auf das Zorro-Schaf aufpassen und in den Himmel schauen, da wo die Schafswölkchen sind und wenn wir Glück hätten, dann würden sie zu uns herabschauen und sich Geschichten über uns ausdenken, uns Namen geben und kleine Macken.
So etwas denke ich manchmal. Manchmal frage ich mich, wie das wohl wäre. Aber wenn du anfängst, dir Fragen zu stellen, dann ist es schon zu spät.