- Beitritt
- 01.09.2005
- Beiträge
- 1.143
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 22
Satt
Die Bären hatten sie nicht gefressen. Katharina hielt das noch immer für einen bemerkenswerten Umstand, Carsten zeigte ihr einen Vogel und nannte sie überängstlich. In diesem Teil des Landes lebten keine Grizzly-, nur Schwarzbären. Die waren nachtaktiv und fraßen höchstens Fisch, gelegentlich vielleicht Aas. Am liebsten mochten sie Süßes, deshalb empfahlen die Einheimischen, beim Zelten keine Schokoriegel herumliegen zu lassen.
Jetzt, da sie auf den See hinaussahen, waren alle Gefahren ohnehin vergessen, tatsächliche und eingebildete gleichermaßen. Katharina schlug die Hand vor den Mund, Johannes pfiff anerkennend. Auf Bastians Gesicht konnten Beobachter ein ehrliches Lächeln ohne jeden Zynismus erahnen. Bei ihm kam das einem emotionalen Vulkanausbruch gleich.
Carsten freute sich mit seinen Begleitern über den märchenhaften Flecken Erde. Drei Jahre zuvor war er allein auf dem Bruce Trail gewandert. Der dichte Wald und die einsam gelegenen Seen hatten ihn nicht mehr losgelassen. Er hatte einfach hierher zurückkehren müssen. Mit ihr.
Katharina konnte sich schließlich als Erste von dem Anblick trennen. Sie drehte sich zu Carsten um. „Wunderschön“, flüsterte sie und legte die Arme um seinen Hals.
Er grinste. „Wenn ich jetzt sage ,So wie du' klingt das wie ein Arztroman, oder?“
„Jupp“, bestätigte Bastian, ohne den abwesenden Blick vom Horizont zu nehmen. Er hatte eine Hand in der Tasche seiner tarnfarbenen kurzen Hosen und fuhr mit der anderen durch Johannes' braune Locken. Carsten zeigte ihm den Mittelfinger.
„Das habe ich gesehen“, sagte Bastian.
Katharina kicherte. Sie streichelte Carstens Lippen und küsste sie. Schwache Wellen brandeten gegen das Ufer. Carsten schloss die Augen und genoss das Rauschen.
Als er sie wieder öffnete, sah er, dass auch Johannes und Bastian sich küssten. Er schluckte den Widerwillen hinunter, den er bei dem Anblick empfand. Katharina hatte Johannes im Studium kennengelernt. Er war der erste Schwule in Carstens Bekanntenkreis gewesen. Noch mit 23 hatte er Schlagzeug in einer Punkband gespielt, und der Hass auf Homosexuelle war für ihn gleichzusetzen gewesen mit dem Hass auf Ausländer im Allgemeinen und Besonderen, Schwarze, Juden und Frauen, die ihr Leben nicht dem Herd widmen wollten. Mit den Worten seiner vergangenen Jugend: Das ging gar nicht. Trotzdem revoltierte etwas in ihm, jedes Mal, wenn Bastian und Johannes Zärtlichkeiten austauschten.
Als Carsten wieder zu Katharina sah, grinste sie ihn an. Er hatte ihr seine Gefühle in dieser Sache nie gestanden, aber er wusste, dass sie es wusste.
„So, das reicht jetzt mit Romantik, sonst schlafe ich ein“, sagte Johannes. „Katta, lass uns schwimmen.“
„Bin gleich soweit“, erwiderte Katharina und begann, sich auszuziehen. Ihr karmesinroter Badeanzug, den sie bereits drunter hatte, leuchtete in der Sonne. Bastian und Carsten warfen sich einen verschwörerischen Blick zu, wie sie es immer taten, wenn ihre Partner sie so mehr oder weniger deutlich ausschlossen.
Während Katharina und Johannes laut wie Kinder im Wasser planschten, setzte Carsten sich neben Bastian ans Ufer, das aus medizinballgroßen Steinen bestand, die voller kleiner Löcher waren. Es sah aus wie ein solider Käse oder auch ein anthrazitfarbener Schwamm. Bastian rauchte eine Zigarette. Carsten vergrub seine Fingernägel tief im eigenen Fleisch. Zwei Monate zuvor hatte er aufgehört. Gierig folgte sein Blick dem Weg von Bastians Zigarette zum Mund und wieder zurück, zum Mund und wieder zurück. Gott, nur ein einziges Mal ziehen, dachte Carsten. Er brauchte Ablenkung.
„Und, wie gefällt dir Kanada bisher?“, fragte er.
„Ist ganz cool“, antwortete Bastian.
Johannes war untergetaucht. Kurz danach verschwand Katharinas Kopf, als würde sie etwas unter Wasser ziehen, einmal, zweimal, dreimal. Es erinnerte Carsten an die Anfangsszene in Der Weiße Hai. Johannes tauchte wieder auf, lachend und prustend. Katharina bespritzte ihn mit Wasser und keifte „Boah, du Arsch“, mit ihrer hohen, sich überschlagenden Stimme, von der Carsten wusste, dass sie viele Andere in den Wahnsinn trieb.
„Meinst du, dass sie's schon mal zusammen gemacht haben?“, fragte Bastian.
Carsten sah ihn an und verengte die Augen zu Schlitzen. Bastian starrte weiter auf den See hinaus.
„Was meinst du?“, fragte Carsten, ganz so, als wäre ihm dieser Gedanke noch nie gekommen.
Bastian stieß Luft durch die Zähne und grinste. „Was meine ich wohl? Deine Freundin und mein Freund. Waren die schon mal zusammen im Bett, was meinst du?“
Carsten schüttelte den Kopf. „Dein Freund ist schwul. Darum ist er dein Freund.“
Carsten rollte die Augen. „Du hast recht, das war mir noch gar nicht aufgefallen. Meine Güte, Carsten. Schon mal was von Bisexualität gehört?“
„Johannes ist bi?“
Bastian zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber wenn ich die beiden sehe, ist mir das unheimlich. Um nicht zu sagen, es tut weh, wenn ich mal ein bisschen kitschig werden darf. Außerdem ist schwul nicht gleich schwul. Ich würde keinen hochkriegen, wenn sich eine nackt auf mich drauflegen würde. Bei Johannes habe ich das Gefühl, er ist einer von diesen ,Das kann ich auch aber für die Liebe brauche ich Männer'-Typen. Eigentlich traue ich solchen Doppelagenten prinzipiell nicht über den Weg, aber was kann man schon machen, wenn man, du weißt. Verliebt ist, meinetwegen.“
Carsten nickte. Wenn Johannes für die Liebe Männer brauchte, war eigentlich alles in Ordnung. Eine triebgesteuerte Nacht wäre immer noch besser als das, was er sich zwischen Bastians Freund und Katharina ausgemalt hatte. Nachts, wenn sie neben ihm gleichmäßig atmete und er in die Dunkelheit starrte, in der sich irgendwann Bilder abzeichneten. Bilder voller Küsse zwischen ihr und Johannes, und das waren keine Sexküsse voller Geilheit. Es war die Art von Kuss, die er und Katharina sich gaben, nachdem sie sich lange in die Augen gesehen hatten.
„Kommst du mit ins Wasser?“, fragte Bastian.
Carsten schreckte aus seinen Gedanken hoch. Er war so darin vertieft gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, dass Bastian sich bereits bis auf die Unterhose ausgezogen hatte.
„Oh, ja, klar“, sagte er und stand auf. Bastian ging ein paar vorsichtige Schritte auf nackten Füßen über das schroffe Gestein. Dabei zog er ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Carsten hatte gerade die Schuhe ausgezogen, als Bastian aufschrie.
„Ah! Au, scheiße, verdammter Dreck, verdammte Scheiße, so ein Scheiß, verdammt!“
„Was ist?“, fragte Carsten. Ein paar Meter vom Ufer entfernt ragten die Köpfe von Johannes und Katharina aus dem Wasser, trieben dort wie Bälle. Sie waren plötzlich still geworden.
„Was ist los bei euch?“, rief Katharina.
Bastian hob seinen rechten Fuß, von dessen Sohle Blut auf die Felsen tropfte. Bei dem Anblick schlüpfte Carsten hastig zurück in seine Schuhe und zog eine Sprühdose mit Desinfektionsmittel aus Katharinas Rucksack.
„Mach das bloß gleich richtig sauber“, sagte er. „Wie tief ist der Schnitt?“
„Hab ich Augen unterm Fuß?“, zischte Bastian und riss Carsten die Sprühdose aus der Hand. Mit obszönen Flüchen kommentierte er den Moment, in dem das Mittel in der offenen Wunde zu wirken begann. Katharina und Johannes schwammen zurück an Land.
Carsten sah die zugespitzte Stelle, über die Bastian gelaufen wahr. Sie ragte hervor wie das obere Drittel einer Messerklinge. Als der Stein das Blut aufsog, dachte er sich zunächst nichts dabei, so sehr ähnelte das Gestein mit den vielen Löchern einem großen, grauen Schwamm. Doch schließlich dämmerte ihm, was gerade geschehen war.
„Hast du das auch gesehen?“, flüsterte Carsten.
„Was?“, fragte Bastian ungeduldig. „Verdammt, wir laufen doch Stunden durch diesen Scheißwald bis zum nächsten Dorf.“ Aus dem Spalt, den das Steinmesser ihm in den Fuß geschnitten hatte, regnete mehr Blut auf den Felsen, und wieder wurde es aufgesogen. Carsten glaubte sogar, ein schlürfendes Geräusch zu hören.
„Hast du's jetzt gesehen?“, fragte er.
„Was?“, schrie Bastian. „Was denn, verdammt?“
„Oh Gott, Schatz!“, rief Johannes. Er kniete sich neben seinen Freund wie der Kamerad eines verwundeten Soldaten. „Gott, Basti, warum passt du denn nicht auf, wo du hintrittst?“
„Der Stein hat dein Blut getrunken“, sagte Carsten. Jetzt hörten sie ihm zu. Bastian atmete laut. Es klang, als könnte er jeden Moment in eine erneute Tirade von Flüchen ausbrechen oder auch heulen.
„Was?“, fragte Johannes.
Carsten zeigte darauf, und alle sahen sie mit offen stehenden Mündern zu, wie der Stein gierig jeden neuen Tropfen Blut in sich aufnahm.
„Was ist denn das jetzt für ein Rotz?“, fragte Bastian. Die rauen Worte täuschten nicht über die Furcht hinweg, die in seiner Stimme lag.
„Schatz, steh auf“, flüsterte Johannes, als hätte er Angst, etwas zu wecken. Zu spät, dachte Carsten.
Bastian stützte sich mit beiden Händen ab. Johannes griff ihm unter die Arme. „Ich kann nicht“, sagte Bastian und machte ein verwirrtes Gesicht.
„Was soll das heißen, du kannst nicht?“, fragte Johannes. „Basti, bitte, du machst mir Angst, jetzt steh auf, bitte.“
„Ich kann nicht aufstehen! Ich klebe an diesen scheiß Steinen fest, verdammte Scheiße!“
„Hilf mir!“, schrie Johannes Carsten an. Der sah zu Katharina. „Geh ins Wasser“, sagte er. Katharina machte einen Schritt zurück in Richtung des Sees, schrie plötzlich auf und hielt ihren Fuß, so als wäre sie auf ein Insekt getreten. Als hätte sie etwas gestochen.
Oder gebissen.
„Katharina, geh ins Wasser, sofort!“, rief Carsten. Unter anderen Umständen hätte sie ihm für den Ton vermutlich eine geknallt.
„Hilfst du mir jetzt, du Arsch?“, schrie Johannes. Zusammen griffen sie Bastian unter die Arme und zogen ihn in den Stand. Die Haut an seinen Beinen zerriss einfach und blieb an den Steinen hängen. Bastian schrie. Carsten erschrak über die Leichtigkeit, mit der das Fleisch nachgegeben hatte. Es war wie aufgeweicht, als hätte jemand etwas hineingespritzt, um es gefügig zu machen. Er musste unweigerlich an den Verdauungssaft denken, den Spinnen ihren Opfern verabreichen, um das verflüssigte Innenleben aus den Chitinpanzern zu saugen.
Carsten sah runter auf seine stabilen Wanderschuhe. Die Sohlen schienen zu schmelzen, so als wäre er mit billigen Flip Flops über eine glühende südländische Teerstraße gelaufen. Sein Blick ging zu Johannes' unbekleideten Füßen.
„Du musst auch zurück ins Wasser“, befahl er.
„Ich lasse ihn nicht hier!“, gab Johannes zurück.
„Johannes verdammt, deine Füße, geh zurück ins Wasser, ich bringe ihn von den Steinen runter!“
Johannes stolperte ungläubig blinzelnd zurück und fiel auf den Hintern. Carsten sah die Sohlen seiner Füße. Sie waren blutig rot, durch Adern und Venen schimmerten weiß die Knochen. Offenbar hatte das Adrenalin den Schmerz bis dahin blockiert, doch jetzt kroch Johannes wimmernd in den See. Die Haut seiner Handflächen und Knie folgte ihm nicht.
Da, wo kurz zuvor noch ein großer Teil von Bastians Oberschenkel auf dem Felsen gehaftet hatte, war jetzt lediglich etwas Blut zu sehen, das langsam im Gestein verschwand. Bastian ging in die Knie. Carsten zog ihn in Richtung der Bäume, auf den erdigen Weg, der in den Wald führte. Es waren noch einige Meter und er spürte, wie seine Schuhsohlen mit jedem Schritt dünner wurden. Anders als das Blut wurde der Kunststoff nur abgelöst, nicht konsumiert.
Anstelle von Bastians Gekreische war ein lautes, panisches Atmen getreten. Carsten spürte die Steine unter seinen Füßen. Sie hatten sich zu seinen Socken durchgefressen. Er stöhnte erleichtert auf, als sie die weiche Erde erreicht hatten. Schmutz puderte Bastians nasse Wunden. Carsten rollte ihn auf den Bauch.
„Seid ihr in Ordnung?“, rief er Johannes und Katharina zu, die im Wasser trieben. Bastians Freund hatte die Arme um sie geschlungen.
„Er kann die Beine kaum noch bewegen!“, rief Katharina. „Was ist denn das bloß, verdammt nochmal, Carsten? Was sollen wir denn jetzt machen?“
Er starrte die Schwammsteine an.
„Ich weiß es nicht“, sagte er und drehte sich um. Direkt hinter ihm führte der Weg, den sie gekommen waren, zurück in den Wald. Ihm fielen die einsam gelegenen Bauernhäuser ein, an denen sie vorbeigegangen waren.
„Ich gehe und hole Hilfe“, erklärte Carsten. „Es wird ein bisschen dauern. Du bist nicht verletzt?“
„Kaum“, rief Katharina. Und wenn du Johannes nicht mehr halten kannst, dachte Carsten, lass ihn einfach raustreiben. Entsetzt schüttelte er den widerlichen Gedanken aus seinem Kopf.
Katharina sah nach links und rechts. „Vielleicht können wir irgendwo aus dem Wasser raus“, schlug sie vor.
Carsten blickte in beide Richtungen. Die Schwammsteine erstreckten sich jeweils bis zum Horizont. Wenn sie irgendwo nicht mehr das Ufer bedeckten, dann war es bis dahin ein Marsch von ein oder zwei Stunden. Vom Schwimmen ganz zu schweigen.
„Nein“, rief Carsten. „Ich hole Hilfe, ihr wartet!“
Er kniete sich runter zu Bastian, der zitterte, als hätte er Fieber. Das Atmen war leiser geworden. „Das ist alles nicht so schlimm“, sagte Carsten. „Wir bringen dich ins Krankenhaus.“
Das Wort kam so unverständlich über Bastians blasse Lippen, dass Carsten es zunächst nicht verstand. „Kalt“, wiederholte Bastian.
Carsten zog sein T-Shirt aus und deckte die freiliegende Muskulatur damit zu. Die Körpersäfte würden verkrusten und mit dem Stoff verschmelzen, sodass das Entfernen dieser provisorischen Decke die Wunde wieder aufreißen würde. Aber wenn alles gut ging, übernahm diesen Teil ein Arzt, der Bastian mit ein paar Spritzen in eine Dimension ohne Schmerz schicken konnte.
Als Carsten sich auf den Weg machen wollte, schrie Katharina: „Pass auf!“
Der Pfad war blockiert. Ein Schwarzbär stand da auf allen Vieren und sah Carsten an. Er machte ein putziges Bärchengesicht, als wäre er von den Dreharbeiten eines Disney-Tierfilms zu ihnen herübergestreunert.
Carsten schluckte. „Hey“, sagte er. „Na, Kumpel, wie geht’s dir?“
Der Bär antworte mit einem Schnüffeln, wobei seine Vorderpranken vom Boden abhoben und er seine Nase gen Himmel reckte.
„Hör mal, wir haben hier ein paar Probleme“, sagte Carsten leise. „Ich muss da an dir vorbei, in den Wald. Ich will dir nichts streitig machen, oder so, wir brauchen hier nur ein bisschen Hilfe, okay?“
„Was tust du?“, rief Katharina. „Oh Gott, beweg dich bloß nicht!“
Carsten ging langsam auf den Bären zu. Sein Herz raste. Er hielt die Hände in die Höhe, als wäre er der Held in einem Krimi, den der Bösewicht mit einer Pistole bedroht.
„Ich gehe jetzt an dir vorbei und du ...“
Und wenn ich an dir vorbei bin, was dann?, dachte Carsten. Wenn er dich in Ruhe lässt, was ist dann mit Bastian? Vielleicht hat der Geruch des Blutes den Bären überhaupt erst angelockt.
„Keine Alternative“, flüsterte Carsten. „Wir haben keine Alternative.“ Wenn er einfach hier wartete, würde Bastian auf jeden Fall sterben. Schaffte er es zu einer Farm, hätte ihr Freund zumindest eine Chance.
Als Carsten nahe genug an dem Bären war, dass er ihn hätte berühren können, erwachte das Interesse des Tieres an ihm wieder. Es schnaufte zweimal wütend. Dann riss es das Maul auf und stieß ein wildes Brüllen aus. Zähne. Alles, was Carsten in diesem Moment sah, waren Zähne. Vor Angst verkrampfte sein Unterleib, und es war dieser Krampf, der verhinderte, dass er sich in die Hose pinkelte.
Carsten ging ein paar Schritte zurück. Der Bär folgte ihm nicht. Stattdessen setzte er sich hin und machte wieder sein anderes Gesicht, das für die Kinderstunde auf dem Tierkanal. Carsten fasste all seinen Mut zusammen und deutete mit einem Schritt an, dass er noch einmal die Richtung ändern wollte. Sofort stand das Tier wieder auf den Hinterbeinen und brummte ihn böse an.
„Carsten, mein Gott, was ist denn da los?“, wollte Katharina wissen.
„Ich weiß es nicht“, rief er halblaut, aus Angst, seine Stimme könnte den Bären weiter in Rage bringen. „Ich glaube, er lässt mich nicht vorbei!“
„Was?“
Carsten schüttelte den Kopf, so als könnte er selbst nicht recht glauben, was er gerade gesagt hatte. „Er lässt mich nicht vorbei!“
Wenn ich fünfhundert Meter von hier in den Wald gehe, dachte Carsten, ab des Weges, einfach mittenrein, vielleicht lässt er mich dann in Ruhe. Zwei weitere Bären kamen zwischen den Bäumen hervor und postierten sich links und rechts von Carsten. Er lachte auf, kurz und humorlos. Konnten die blöden Viecher etwa Gedanken lesen? Nun war er gefangen, zwischen drei Bären und den gefräßigen Steinen. Er drehte sich zu Katharina um und machte eine Geste der Hilflosigkeit.
„Komm ins Wasser!“, rief sie ihm zu. „Irgendwo kommen wir schon raus!“
Carsten schüttelte den Kopf. „Ich komme nicht über die Steine! Sie haben meine Schuhsohlen zerfressen!“ Einen Moment lang dachte er daran, seine Shorts und seine Unterhose auszuziehen und um die Füße zu wickeln. Doch dann fiel ihm wieder ein, wie schnell sich die Steine durch seine Schuhe gefressen hatten. Bis zum Wasser waren es fünfzehn, zwanzig Meter.
Er setzte sich auf den Boden und beobachtete die Bären. Sie taten es ihm gleich. Offenbar waren sie nicht gekommen, um zu jagen oder zu fressen. Solange er nicht versuchte, sich in Richtung des Waldes zu bewegen, zeigten sie keinerlei Interesse an ihm. Carsten vergrub sein Gesicht in den Händen. Katharina rief ihm etwas zu, aber er konnte die Worte zu nichts zusammenfügen, das einen Sinn ergeben hätte. Johannes weinte. Nach einer Weile sang das Geflenne Carsten in einen erschöpften Schlaf.
Dem Schmerz nach zu urteilen hatte ihm jemand eine lange heiße Nadel in den Schädel gestochen. Carsten blinzelte kurz in die gnadenlose Sonne. Bastian hatte ihn geweckt. Er sprach. Stammelte unzusammenhängendes Zeug von Johannes, seiner Mutter, der Uni und der Fußballmannschaft, in der er spielte. Er kicherte und stöhnte qualvoll, manchmal beides gleichzeitig.
Carsten wollte aufstehen, sank aber sofort wieder in sich zusammen. Er zitterte und ihm war schlecht. Hitzschlag, dachte er. Seine Finger zuckten erschrocken zurück, als er sich durch die Haare fuhr. Sie waren heiß wie eine Herdplatte, die jemand vergessen hatte auszustellen.
Zuerst dachte Carsten, der wabernde schwarze Teppich, der sich um Bastian gebildet hatte, sei eine optische Täuschung, der Sonne und der Nadel in seinem Kopf geschuldet. Dann erkannte er Beinchen und Fühler, Flügel und Beißzangen aller Größenordnungen, Ameisen, Käfer, Moskitos und Gott wusste was noch. Jemand schien den Inhalt eines Biologiebuches über Bastian ausgeschüttet zu haben. Der Anblick ließ eine Waschtrommel in seinem Bauch rotieren.
Das Erbrochene lief nicht einfach über seine Lippen, es sprudelte in druckvollen Stößen aus ihm heraus. Ein Teil davon platschte auf die Felsen. Carsten wischte sich mit der Hand über den Mund. „Komm schon“, sagte er. „Leck es auf. Lass es dir schmecken.“
Nichts geschah. Es war wählerisch.
„Geht weg!“ Katharinas Stimme. „Geht weg! Haut ab, verdammt!“ Sie schaukelte Johannes Körper im Wasser hektisch hin und her. „Fische!“, schrie sie. „Die Fische fressen seine Füße!“
Das Wasser des Sees war kalt. Carsten wusste das, weil er selbst darin geschwommen war, damals. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Katharinas Muskeln erkalteten und das Blut so zäh durch ihren Körper floss, dass sie schläfrig wurde. Ganz abgesehen von den immer langsameren Schwimmbewegungen …
„Halt den Mund“, flüsterte Carsten. Bastians Gebrabbel, mittlerweile vollkommen unverständlich, hörte nicht auf. Die Welt vor Carstens Augen hatte begonnen, genau wie seine Glieder zu zittern, als würde sie beben. Die Übelkeit und die Kopfschmerzen ließen nicht nach, auch wenn es langsam kühler wurde, weil der Tag zu Ende ging.
Er würde sie nicht retten kennen können, keinen von ihnen. Katharina könnte es zumindest versuchen, sie war sportlich, joggte täglich. Aber sie musste Johannes loswerden, der sie Kraft kostete. Wieder ekelten die eigenen Gedanken Carsten an. Doch er wollte leben. Dass Katharina es schaffte, war ihm sogar noch wichtiger.
Bastian stieß ein langgezogenes Stöhnen aus. Er starrte ungläubig auf die Hand, mit der er nach seinem Hintern gegriffen hatte, vermutlich in einem Versuch, das Kribbeln zu beenden, dessen Verursacher er auf dem Bauch liegend nicht sehen konnte. Durch seine Finger tropfte ein Stück von ihm selbst. Das Stöhnen wurde lauter und mündete in dem erschöpften Versuch eines hohen Kreischens.
„Halt den Mund!“, sagte Carsten. „Bitte!“
Seine Gedanken polterten ungelenk durcheinander. Hitze, Liebe, die Kreischversuche und der Geruch von Kotze. Kein Arzt der Welt würde jemals diese Beine wieder zusammennähen können. Blutvergiftung, unumkehrbar. Insekten sind der Soundtrack des Sommers. Katharina, Katharina, Katharina. Schwarzbären fressen manchmal Aas.
Carsten tastete vorsichtig nach einem Stein, der keinerlei Ähnlichkeit mit den Dingern hatte, die das Ufer bildeten. Nicht verschwägert, nicht verwandt, dachte er. Die Bären stellten sich auf die Hinterläufe. Einer von ihnen knurrte.
„Was tust du?“, rief Katharina. „Carsten, nicht!“
„Es tut mir leid“, sagte Carsten.
Ich lüge, ich lüge, ich lüge, dachte er. Die Dinger von seinen Beinen sind in meinem Kopf und fressen mein Hirn. Unumkehrbar, für jeden Arzt der Welt, schwul oder hetero.
Mit der Kraft, die ihm noch geblieben war, ließ er den Stein auf Bastians Hinterkopf hinabfahren. Mehr als diesen einen Hieb brauchte es nicht, der Stein war groß. Bastian zuckte wie ein geköpftes Huhn. Katharina schrie, Nein, Nein, im Kanon mit Johannes. Es klang so irrsinnig, dass Carsten nicht sicher war, wie lange er ein Lachen noch würde zurückhalten können.
Johannes begann schließlich, Carsten zu drohen. Er befreite sich aus Katharinas Armen und schwamm dem Ufer entgegen, mit Schmerzensschreien, die in Wutgebrüll übergingen. Er kroch aus dem Wasser, unfähig, sich auf den hautlosen Sohlen seiner Füße zu halten. Auf allen Vieren setzte er seinen Weg fort.
„Was hätte ich denn tun sollen?“, schrie Carsten. „Es ist die einzige Chance, die wir haben!“
Er schleifte Bastian zu dem Bären, der direkt auf dem Weg saß. Das Tier schnüffelte kurz an dem dargebotenen Opfer und sah Carsten dann fast ein wenig beleidigt an.
„Friss!“, schrie Carsten. „Friss und lass mich in den scheiß Wald, verdammt!“ Der Bär nieste.
Carsten drehte sich zu Johannes um. Hitze und Grauen hatten sein Hirn gekocht, das Taktgefühl war dabei verdampft. „Verdammt, Johannes, ich hätte schwören können, dass es klappt. Sieh dir seine Beine an.“ Carsten schluchzte. „Sieh dir die Beine an, verdammt.“
Johannes wurde langsamer, so als würde er sich über eine klebrige Fläche bewegen. Immer, wenn er Carsten ansah, schien ihm das neue Kraft zu geben. Aber das reichte nicht. Schließlich brach er zusammen.
Einen Moment lang dachte Carsten, der Aufschlag hätte ihn bewusstlos gemacht. Dann sah er, dass Johannes sich wand und versuchte, von den Steinen loszukommen. Als er es schaffte, seinen Kopf zu heben, glotzten riesige Augen Carsten an. Johannes hatte keine Lider mehr. An der Stelle seiner Nase klafften nur noch zwei große Löcher. Seine schiefen Schneidezähne wurden nicht länger von Lippen verdeckt. Er kann sie nie wieder küssen, durchfuhr es Carsten. Keine Männer, keine Frauen, gar nicht mehr.
Er war froh, als Johannes endlich still war. Er hielt sich die Ohren zu und summte laut „Jammin“ von Bob Marley, um das schlürfende Geräusch und Katharinas Schreie zu übertönen.
Carsten erwachte schreiend bei Sonnenaufgang. Der Albtraum war im dichten Nebel seines Unterbewusstseins verschwunden, als er sich wieder beruhigt hatte. Trotzdem wusste er, wovon der Traum gehandelt hatte. Fühlte es. Steine, Bären und tote Freunde. Er fuhr herum. Etwas verrenkte sich knackend in seinem Hals, aber er nahm weder das Geräusch noch den Schmerz wahr.
„Katharina?“ Es war ein Flüstern. Als ihm klar wurde, dass sie nicht mehr da war, schrie er ihren Namen. Dann fiel es ihm wieder ein. Versuch es, hatten sie miteinander abgemacht. Hatten sie doch, oder? Versuch es, solange du noch genug Kraft hast, hatte er gesagt. Stimmte das nicht?
Carsten stellte sich vor, wie sie an Land ging und durch den Wald lief, irgendwann einen Highway entlang, gerettet von einem Trucker, wie im Film. Er glaubte, weit entfernt einen karmesinroten Fleck im Wasser treiben zu sehen, aber das konnte alles mögliche sein.
Carsten warf Erdklumpen nach seinen Bewachern und brüllte sie an. Seine Arme waren schlaff, die Wurfgeschosse schafften nicht einmal die Hälfte des Weges. Die Bären waren in ihrer Verwunderung widerwärtig niedlich. Einer kratzte sich am Ohr.
Es wurde dreimal hell und wieder dunkel. Schließlich fiel der Letzte in einen so tiefen, erschöpften Schlaf, dass der Anführer ihn unbemerkt auf das harte Ufer rollen konnte. Er erwachte, hatte aber nicht mehr die Kraft, sich in Sicherheit zu bringen. Das Gebrüll war kurz, doch so früh am Morgen schreckte es dennoch ein paar Vögel auf.
Der andere war bereits an seinen Wunden gestorben. Als er gefressen wurde, war nur ihr Schlürfen zu hören. Der Anführer atmete langsam, als er eine Pfote aufsetzte, bereit, sie beim ersten Anzeichen von stechendem Schmerz zurückzuziehen. Er wollte Vorsicht walten lassen, auch wenn die letzte Opfergabe schon nicht mehr vollständig angenommen worden war. Das war eigentlich ein sicheres Zeichen dafür, dass sie es befriedigt hatten. Nichts geschah. Die anderen warteten darauf, dass er das Signal gab, ihm zu folgen. Er tappste auf den See zu und begann zu fischen.