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Sandfrau
Total bleich saß sie auf ihrem Bett mitten in dem mittlerweile aufgeräumten Zimmer. Sie wollte nicht auffallen, anderen keinen Grund für einen Konflikt geben. Hatte ihre Kleidung ordentlich verstaut und ihre Schulsachen sortiert. Nervös sah sie sich nochmals um. War auch wirklich alles aufgeräumt oder hatte sie doch etwas vergessen. Und immer noch war alles an seinem Platz. Sie fuhr mit ihren schweißnassen Hände über ihre Röhrenjeans. Ihr war klar, sie musste es heute tun, sie konnte es nicht länger geheimhalten, es bedrückte sie zu sehr. Viele hundert Mal hatte sie sich diesen Moment vorgestellt und überlegt, wie sie es ihnen am Besten beibringen sollte. „Komm Tara, trau dich endlich, es sind doch nur drei Worte!“, sagte sie leise zu sich selbst. Ruckartig stand sie auf und ging vollkommen abwesend zu Tür. Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter und öffnete sie leise. Sie hörte Stimmen aus dem Zimmer nebenan. Ihre Schwester und ihre Eltern sahen gerade fern. Sie schlürfte in das Wohnzimmer. Mit zitternden Knien stand sie ihrer Familie, die gemütlich auf dem Sofa saß, gegenüber. „Könntest du mal aus dem Bild gehen, ich seh nichts!“, sagte Karina, ihre kleine Schwester zu ihr. Sie wich zur Seite und sagte kaum hörbar: “Könntet ihr vielleicht ausschalten, ich muss euch was erzählen. „Och Mann, muss das wirklich sein? Das ist meine Lieblingssendung!“, erwiderte Karina. „Mach schon aus!“, meinte ihr Vater schroff. Widerwillig schaltete sie den Fernseher aus. „So und was ist jetzt bitte sooo wichtig?“, fragte ihre Schwester. Tara sah verlegen auf ihre Fussspitzen, ihre Hände waren immer noch klatschnass und ihre Knie wollten einfach nicht aufhören zu zittern. „Also.... Ähm... ich, ich muss euch was sagen“, fing Tara mit kraftloser Stimme an. „Mama, weißt du noch als ich mit Jonas zusammen war?“ „Klar weiß ich das noch, war ein netter Kerl. Aber was ist damit?“, antwortete ihre Mutter. „Gut. Ehrlich gesagt hat nicht er mit mir Schluss gemacht sondern ich mit ihm. Weil ich mich in jemand anderen verliebt hatte.“ „Ja sowas passiert. Und was ist daran jetzt so schlimm?“, wollte ihre Mutter wissen. „Diese Person hieß Isabella. Ich bin lesbisch“, sprach Tara es endlich aus und brach sofort in Tränen aus. Verschwommen konnte sie das Entsetzen im Gesicht ihrer Mutter sehen. Ihr Vater saß einfach nur regungslos da. Karina verzog keine Miene. Trotzdem merkte man ihr an, dass sie unbedingt was dazu sagen wollte. „Was denkst du dir eigentlich dabei?! Ist dir überhaupt klar, was das für unsere Familie bedeutet? Wenn sich rumspricht, dass du mit Frauen rummachst, find ich auch nie nen Freund. Es geht nicht immer nur um dich. Bild dir so nen Scheiß erst gar nicht ein!“, schrie Karina sie an. Tara wurde es auf einmal schwarz vor Augen. Als sie wieder aufwachte sah sie in das verstörte Gesicht ihrer Mutter. „Mädchen was machst du nur?“, fragte sie sie, „Wir wissen doch alle, dass du nicht so eine bist. Schau dich an, du trägst Röhrenjeans, Tops, immer körperbetont. Du hast schöne lange Haare und riechst nach guten Parfum. Du bist ganz sicher keine Lesbe!“ „Doch, das bin ich. Es ist so, ich habe versucht es zu ändern aber es geht nicht. Ich bin lesbisch. Und ihr könnt nichts daran ändern. Ich wollte nur, dass ihr es wisst.“, sagte Tara. „Nein so geht das nicht Tara. Ich werde das nicht zulassen. Du weißt doch gar nicht, was du da redest, du bist erst 16! Da hat man manchmal eben noch so Flausen im Kopf. Aber die werden wir dir schon noch austreiben!“, meldete sich ihr Vater zu Wort. „Ihr versteht mich nicht. Ich und auch niemand anders kann es ändern. Ich bin so.“, sagte Tara in Gedanken. Karina beugte sich über sie packte sie an den Schultern und schüttelte sie heftig. „Lass den Scheiß, ich will keine bescheuerte Lesbenschwester. Jetzt wo ich grade so beliebt bin und viele Freunde habe. Willst du etwa mein Leben ruinieren?! Du bist doch nur neidisch, geb's wenigstens zu!“ „Hör auf Karina. Ich möchte niemanden damit verletzen. Es tut mir leid, wenn ihr Schwierigkeiten wegen mir bekommt. Das war nicht mein Ziel, ich wollte nur nicht länger eine Lüge leben.“
Ihre Mutter saß fassungslos neben ihr. „Tara das geht nicht. Was werden unsere Nachbarn sagen oder Oma und Opa? Wir werden zum Gespött der ganzen Straße.“
„Ihr habt doch immer gesagt, es ist egal, was andere sagen. Und dass man sich so annehmen soll wie man ist?!“
„Ja Tara das ist natürlich richtig. Aber in diesem Fall ist das was anderes.“, meinte ihr Vater. „Schau dich doch um, es gibt viele hübsche Jungs, da ist sicher auch einer für dich dabei. Ich werde es nicht zulassen, dass du mit einem Mädchen rummachst!“
Tara stand auf. Sie hatte mit einer negativen Reaktion gerechnet aber nicht mit einer so extremen. Sie ging zur Haustür, warf sich ihre Jacke über, zog ihre Chucks an und ging nach draußen. Ihre Mutter rief ihr noch hinterher: „Tara, bleib hier! Wohin gehst du überhaupt?“. „Maria, lass das Mädchen gehen, sie kommt schon wieder wenn sie Hunger hat. Vielleicht tut ihr etwas frische Luft ganz gut.“, meinte ihr Vater. Doch das hörte Tara nicht mehr. Sie lief ziellos durch die Stadt. Sie dachte an nichts, sie fühlte sich einfach nur leer. Langsam wurde es dunkel aber sie wollte nicht nach Hause. Sie hatte keine Lust auf weitere Diskussionen. Warum konnte ihre Familie kein Verständnis für sie aufbringen? Sie fühlte sich so alleine und verlassen. Langsam lief sie über die Eisenbahnbrücke. Sah hinunter auf den reißenden Fluss. Er hatte eine enorme Anziehungskraft auf sie. Sie ging immer näher an das Geländer, beugte sich weit darüber. Sie hörte das schöne Rauschen. Langsam kletterte sie darüber. Da stand sie nun, mit den Händen die Gitterstäbe des Geländers umklammernd, nach vorne gelehnt. In diesem Moment fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich frei. Sie spürte den Wind und das spritzende Wasser. Sah, wie das Wasser immer näher auf sie zukam. Wie ihre Jacke durch die Luft nach oben gedrückt wurde. Sie flog ganze 5 Sekunden. 5 Sekunden lang war sie frei.