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Samuel oder die Pigmentstörung
Samuel, der seinen Namen selbst englisch aussprach, hatte eine Pigmentstörung. Auf seiner tiefbraunen Wange strahlte ein 50 Cents-Stück großer, weißer Fleck. Wenn er sprach, bewegte sich der Fleck. Wenn er lachte, wölbte er sich. Wenn er trank, dehnte er sich. Der Fleck machte Samuels sämtliche Mimik mit, war einfach da, bedeutete gar nichts, sagte nichts aus über Samuel oder mich oder ein mögliches uns, und trotzdem musste ich hinsehen, die ganze Zeit über hinsehen. Wie hypnotisiert blickte ich nicht tief in Samuels dunkle Augen, sondern starrte nur auf den weißen Fleck.
Samuel war ein Internetdate. Die Fahrt mit dem Rad zu dem Café, in dem wir verabredet waren, war furchtbar gewesen. Um diese Jahreszeit war die Stadt voller Touristen. Ich entschied mich für die Prachtmeile, den Weg vorbei am Hauptbahnhof, Reichstag, Brandenburger Tor, Holocaust-Mahnmal, viel kleiner und auf der anderen Straßenseite das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, dann Potsdamer Platz. Der Fahrradweg war hier gut ausgebaut und breit, farblich abgesetzt und mit eigenen Ampeln ausgestattet. Die Alternative zur Prachtmeile wäre die Friedrichstraße gewesen, bis ganz zum Ende durch. Doch die Friedrichstraße ist die Hölle. Immer und momentan noch mehr als sonst. Der Zugverkehr der U6 zwischen den Stationen „Friedrichstraße“ und „Französische Straße“ war wegen des Baus der neuen U Bahn Linie 55 eingestellt. Die Baustelle nahm die komplette Kreuzung „Unter den Linden“ Ecke „Friedrichstraße“ in Beschlag und machte die Gegend in weiten Teilen unpassierbar. Die Asphaltdecke war weg, alle Ampeln provisorisch, große Teile der Gehwege abgesperrt. Alle Fahrgäste mussten in dem einem U-Bahnhof aussteigen und bis zur nächsten Station laufen, Fahrradfahrer konnten nur schieben, Autofahrer nur fluchen und große Umwege in Kauf nehmen und Rollstuhlfahrer auch. Das wusste ich aus eigener Erfahrung. Ein einziges Mal hatte ich versucht, den Rest des eingeengten Gehsteigs zu benutzen. Da war vor mir eines dieser immer beliebter werdenden Bierfahrräder gewesen, auf denen man von den Seiten strampelt und nur einer schaut nach vorne und in der Mitte gibt es eine Theke und alle, die strampeln, grölen auch. Zwischen mir und dem Bierfahrrad, das den ohnehin beengten Gehweg vollständig verstopft hatte, war eine Rollstuhlfahrerin unterwegs gewesen, die, so wie wir alle, nicht überholen konnte und laut fluchte und schimpfte, was jedoch in dem Gejohle der Bierfahrradfahrer unterging. Diese konnten sie von ihrer Position aus auch gar nicht sehen. Ich lief hinterdrein und hatte politisch unkorrekte Gedanken über Touristen.
Also entschied ich mich dieses Mal für den breiten Radweg entlang der Attraktionen, auch wenn das einen Umweg bedeutete. Aber viel schneller ging es dort auch nicht voran. Denn die Touristen hielten diesen gut ausgebauten farbigen Streifen für einen Teil des Bürgersteigs und so war er immer voll. Klingeln half bedingt. Andere bemerkten von sich aus den Unterschied, sobald sie ein Fahrrad sich schnell nähern sahen. Dann sprangen sie flink zur Seite und zogen dabei oft betroffene Gesichter, wenn sie ihr offensichtliches Fehlverhalten bemerkten. Das waren dann meistens Deutsche, Holländer oder Dänen. Ich hatte mal im Lonely Planet Berlin City Guide gelesen, dass man ausdrücklich davor warne, in Berlin als Fußgänger auf dem Fahrradweg zu laufen, dass das wirklich sehr gefährlich sei und bei den Radlern große Aggressionen auslösen könne. Heute wünschte ich mir, der Lonely Planet Berlin City Guide wäre beliebter und würde vielleicht auch einmal auf japanisch übersetzt und auf italienisch, spanisch, portugiesisch und russisch. Sonst würden meine großen Aggressionen irgendwann real.
Vom Potsdamer Platz aus fuhr ich schräg ab, vorbei an der Ruine des Anhalter Bahnhofs, dem HAU-Theater, der SPD-Parteizentrale. Der Fahrradweg war hier von Rissen und Wurzeln durchzogen und bisweilen zugewuchert. Aber so war wenigstens auch das Gehen darauf unkomfortabel. Am Halleschen Tor bog ich ab ans Ufer und auf die Straße. Prompt wäre ich fast von einem Auto mit nicht-Berliner Kennzeichen überfahren worden. Die nicht-Berliner Autofahrer hatten oft keinen Bezug zum Schulterblick. Ich fluchte laut und beschimpfte den ortsfremden Autofahrer, der bekam nichts mit und fuhr einfach weiter.
Samuel und ich waren in der „Roten Harfe“ am Heinrichplatz verabredet. Als ich ankam, war er wohl schon länger da und ich ziemlich abgehetzt. Seine Kleidung wirkte etwas schäbig, aber er wohnte hier in Kreuzberg, also konnte das Absicht sein. Wir begrüßten uns und ich setzte mich, wir bestellten Café, er den zweiten und ich schaute auf den weißen Fleck auf seiner Wange. Den hatte man auf dem briefmarkengroßen Passbild, das ich bisher nur von ihm kannte, nicht sehen können. Samuels Deutsch war stellenweise schlecht und er verwendete immer wieder englische Versatzstücke und phrasenweise verfielen wir gleich ganz ins Englische. Ich fand dieses Kauderwelsch amüsant, traute mich jedoch nicht zu lachen, da ich nicht wollte, dass Samuel dachte, ich mache mich über seine Deutschkenntnisse lustig. Und so lächelte ich nur nett und schaute auf den weißen Fleck in seinem Gesicht. Gerne hätte ich ihn gefragt, woher er käme. Doch auch das traute ich mich nicht. Dann kam mir das albern vor und ich fragte:
„Woher kommst du?“ Samuel schaute mich seltsam an.
„Aus Afrika“, antwortete er dann knapp.
„Ah. Und aus welchem Land genau?“
„Spielt das eine Rolle?“ Obwohl seine Antwort blöd war, war es mir peinlich. Verlegen schaute ich auf seinen weißen Fleck. Dann ärgerte ich mich stumm ein wenig. Wir bestellten nun zwei Bier und redeten weiter, über das, was ich so tat, über das, was er so tat, über seine Lieblingsfilme und über meine Lieblingsfilme. Ich sagte, dass ich gerne den "Tatort" sähe.
„Was ist das Tatort?“, fragte Samuel. Ich versuchte das Format zu erklären. Erst auf deutsch, dann auf englisch. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er es verstand. Also dachte ich mir Lieblingsfilme aus. Dann redeten wir über Musik. Die Bandnamen und Songtitel, die er nannte, hatte ich alle noch nie gehört. Aber ich lächelte und nickte und schaute dabei auf den weißen Fleck in seinem Gesicht. Das Gespräch langweilte mich. Samuel langweilte mich. Aber ich traute mich nicht etwas zu sagen aus Angst, er würde dann denken, ich fände ihn blöd, wegen seiner Hautfarbe. Ich wusste, dass es dafür im Deutschen einen eigenen Ausdruck gab, die positive Diskriminierung, ein Unwort, von dem ich bislang nicht so recht gewusst hatte, was es eigentlich meinte und was ich davon halten sollte. Nun bekam ich eine Ahnung. Also schaute ich auf Samuels weißen Fleck und schämte mich. Dann ärgerte ich mich wieder, dieses Mal über mich selbst. Das Gespräch zog sich hin. Wir bestellten noch zwei Bier, ich ein kleines. Nachdem ich es ausgetrunken hatte, sagte ich, dass ich nun gehe wolle. Samuel schaute mich an. Sein Blick erschien mir ausdruckslos.
„Hast du ein Problem?“, fragte er dann.
„Bitte?“, machte ich.
„Weil ich schwarz bin“, sagte er.
„Nein!“, rief ich und ärgerte mich über mich selbst, da ich den Eindruck hatte, viel zu laut und viel zu hastig geantwortet zu haben. Dann fühlte ich mich, als hätte ich gelogen und wurde rot, worüber ich mich wiederum ärgerte, so dass ich noch röter wurde.
„Ich geh jetzt“, sagte ich dann und tat es hastig. Vorher bezahlte ich noch die komplette Rechnung.
Ich schob das Rad den engen Bürgersteig entlang bis vor zum Moritzplatz. Der Gehweg war in diesem Teil der Stadt so voll, weil überall Tische und Stühle darauf standen, auch dort, wo es keine Gastronomie gab. Ich dachte an Samuels Pigmentstörung, die er mitten im Gesicht hatte. Dann fiel mir auf, dass ich sein Gesicht nicht hätte beschreiben können. Kurzes krauses Haar, schwarze Augen, dunkle Haut und einen weißen Fleck auf der Wange. Ab dem Moritzplatz gab es wieder einen gut ausgebauten Fahrradweg. Heimweg also nun doch über die Friedrichstraße. Ich gab Handzeichen und fuhr in den Kreisverkehr. Ein Golf kam auf mich zugerast. Ich schaute auf das Auto, das viel zu schnell war, dachte, dass es mich vielleicht erwischen würde und hoffte, dass niemand Samuel die Schuld dafür geben würde und ärgerte mich dann noch eine Zehntelsekunde, weil das schon wieder positive Diskriminierung war. Dann bremste der Golf so scharf vor mir, dass er sich mit quietschenden Reifen schräg stellte. Auf der Seite stand „Bon Jovi“, das konnte ich nun lesen. Es war die Golfgeneration. Darunter hatte jemand einen zweiten Aufkleber gleicher Größe aber in einer anderen Schriftart angebracht. „Böhse Onkelz“ stand dort. Ich starrte die beiden Bandnamen an. Berliner Kennzeichen, dachte ich. Dann ging von der Fahrerseite das Fenster herunter und ein Mann steckte den Kopf heraus. Er hatte einen Gelscheitel und trug eine ganz schmale Krawatte mit sehr kleinem Knoten.
„Tschulje, wa!“, brüllte er mich an und winkte: „Nischt für unjut. Tschulje!“ Er fuhr ganz langsam an mir vorbei und warf mir noch eine Kusshand zu. Ich starrte ihm kurz hinterher. Dann beeilte ich mich über den Kreisverkehr zu kommen. Auf dem Rückweg überlegte ich, ob es wohl sinnvoll wäre, zum nächsten Ersten wieder ein BVG-Monatsticket zu kaufen.