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Salsa
Grit hat es schon wieder getan. Sie hat die Aufsatzblätter zusammengerafft und in die unterste Schublade des Schreibtischcontainers gepackt. Sollen die Azubis doch noch eine Woche warten. Oder sie gibt die Arbeit erst nach den Weihnachtsferien zurück. Machen ja viele Kollegen. Es ist so langweilig zu korrigieren. Immer dieselben Einfälle, immer dieselben Fehler.
Ein Hauch von schlechtem Gewissen lässt sie einen Moment innehalten, dann aber holt sie doch die angebrochene Flasche Weißburgunder aus dem Kühlschrank, schneidet die Riesentüte mit den Kartoffelchips auf und versinkt, in eine Wolldecke gewickelt, im Fernsehsessel.
Der ist neu. Sie hat nicht viele Möbel bei ihrem Umzug in die Zweizimmerwohnung mitgenommen. Wozu auch? Bernd ist ja in der alten Wohnung geblieben, hat auch Geschirr, Bettwäsche und den Kater behalten. In den ersten Wochen nach der Trennung war es noch aufregend, sich neu einzurichten. Soll das Bett hundertzwanzig oder hundertvierzig Zentimeter breit sein? Ach was! Hundertzwanzig reichen. Da hat sie in dem kleinen Schlafzimmer noch Platz für ihr geliebtes Ergometer.
Nach zwei Monaten hat sie aufgehört zu trainieren. Es ist ja niemand da, der sie dazu antreibt. Inzwischen dient ihr das teure Gerät nur noch als Kleiderständer. Die an zwei Silvesternächten gefassten Vorsätze sind verpufft, die schicke Kurzhaarfrisur ist zu halblangen, mausgrauen Schnittlauchlocken mutiert. Wozu auch? Das ist die Grundmelodie, die Grits Alltag derzeit orchestriert. Sie weiß das.
Nach der Tagesschau zappt sich Grit durch ihre dreiunddreißig Kanäle. Schließlich bleibt sie, wie fast immer, bei einem Krimi hängen. Liebesfilme und Talkshows meidet sie. Was gehen sie die Sorgen anderer Leute an? Oder erst recht die Liebesschwüre?
Heute kann sie sich gar nicht richtig konzentrieren. Weihnachten steht vor der Tür, ihr graust davor. Zwar hat sie eine Einladung nach München zu ihrem Bruder. Keine Lust. Zu viel Heile-Welt-Kulisse mit nur notdürftig verbrämten Konflikten, ganz zu schweigen von der nervigen Geschenkeauspackerei, bei der immer so viel Begeisterung geheuchelt wird. Ob sie einfach verreisen sollte? Am besten eine Pauschalreise, bei der sie sich um nichts kümmern müsste? Aber nein, da trifft sie doch wieder nur auf Paare, hinter denen sie herdackeln würde.
Als Grit die zweite Flasche öffnet, klingelt es. Es ist schon nach zehn Uhr. Verdammt, schon wieder einer aus der WG über ihr, der den Schlüssel vergessen hat. Bin ich denn die Herbergsmutter hier? Ich glaube, ich muss da mal Klartext reden.
Sie drückt den Türöffner und tritt ins Treppenhaus, um den Frechling abzufangen.
„Hallo Grit“, sagt Manu, ihre alte Bekannte aus dem Gemeindezentrum. Grit hat sich schon eine Weile nicht mehr mit ihr verabredet. „Entschuldige, dass ich so spät klingle, aber ich habe noch Licht gesehen und da dachte ich … Störe ich?“
„Komm rein. Nee, du störst nicht. Gib mir deinen Mantel. Magst du ein Glas?“
Grit räumt hastig die vollgekrümelte Decke auf die Seite. Sie hat Manus aufmerksamen Blick registriert. Die kennt die ganze Geschichte mit der Trennung. Hat selber eine hinter sich. Grit spürt einen Stich, als Manu auf der Couch die langen, schlanken Beine lässig übereinanderschlägt.
„Ich komm' gerade vom GZ. Wir bieten dort einen Salsa-Kurs an für Frauen. Ziemlich cool. Heute war der zweite Abend. Hat Spaß gemacht. Leider haben sich bisher nicht so viele angemeldet, wie wir erwartet haben.“
„Lauter Frauen? Ist das nicht doof?“
„Der neue Vikar hat ein paar junge Männer aufgetrieben, Studenten und so. Nette Jungs sind das, besonders Lamin ... Er kommt aus Gambia.“
„Können die Salsa? Ich dachte, der Tanz sei lateinamerikanisch?“
„Ist er auch. Der Tanzlehrer stammt aus Brasilien, lebt aber seit zehn Jahren hier. Er und der Vikar sind alte Freunde.
„Und was hat das mit mir zu tun?“
„Nun ja, ich dachte, das wäre was für dich. Du hast früher doch gerne getanzt, oder?“ Manu lässt den Blick durch das Zimmer wandern. „Da sind ein paar Sachen, die ich noch nicht kenne. Du hast es hübsch hier. Wirklich ... Aber darf ich ehrlich sein? Ich glaube, du vergräbst dich zu sehr in deinem Frust. Geh unter die Leute, Grit, trink deinen Wein lieber in Gesellschaft.“
Die Röte schießt Grit ins Gesicht. Sie verschluckt sich und das Weinglas klirrt, als sie es auf den Couchtisch stellt.
„Wie meinst du das …? Willst du damit andeuten, ich trinke zu viel?“
„Kann ich dir nicht sagen. Aber allein mit einer Flasche … Ich kenne das von mir. Und ruckzuck bist du ein Kandidat für die AA.“
Grit fällt ein, dass sich neulich im Lehrerzimmer zwei Kollegen auffällig laut über die Anonymen Alkoholiker unterhalten haben. War das auf sie gemünzt? Plötzlich schämt sie sich auch wegen ihres Schlabberlooks. Wenn sie wenigstens vernünftige Jeans anhätte. Aber die hängen seit Monaten ungetragen im Schrank. Keine Chance, dass die noch passen. Manu dagegen ist von Kopf bis Fuß makellos gestylt, klar, sie kommt ja auch vom Salsa-Kurs.
Lateinamerikanisch. Grit hat ein Faible für Tango.
„Erzähl mir was von den Frauen, die mitmachen. Kenne ich die? Sind die von der Gemeinde? Und ist sie schwierig, die Salsa? So sagt man doch, oder? Und was zieht man dazu an?“
Plötzlich hat Grit ganz viele Fragen, sie merkt, dass sie Feuer gefangen hat. Es ist reichlich nach zwölf, als sie Manu zur Haustür begleitet.
Im großen, nüchtern und spärlich möbilierten Saal der Herz-Jesu-Gemeinde begrüßt der Vikar vier Neulinge. Die stehen abwartend zusammen, während die anderen bereits Tanzpaare gebildet haben. Unter den Neuen sind zwei blutjunge Frauen, eine langhaarige mit rotgefärbten Strähnchen, eine mit schwarzen Rastazöpfchen. Sie könnten glatt aus Grits Friseurklasse stammen. Die dritte Neue ist eine üppige Hausfrau in den Vierzigern, wie sie gleich in den ersten Minuten preisgibt. Mit der wird Grit mithalten können.
Die Begrüßung durch den Vikar ist kurz, aber herzlich.
„Schön, dass noch ein paar hierher gefunden haben. Tonio ist euer Tanzlehrer. Er wird euch garantiert in Schwung bringen. Und ja, wir duzen uns hier alle. Nachnamen kann man sich sowieso nie merken. Ihr könnt mich Borro nennen“. Der Vikar klatscht in die Hände, „Tonio, vamos!“
„Bitte stellt euch in einer Reihe auf, die Damen und Herren gegenüber. Wir üben die basics, zuerst den Schritt nach vorne, dann den side step. Achtet auf eure Haltung. Der Oberkörper bleibt gerade, die Bewegung kommt vor allem aus der Hüfte. Die Arme sind locker angewinkelt. Ich mach's nochmal langsam vor.“
Dann gibt Tonio dem Vikar am CD-Player ein Zeichen. Mit einem Trommelsolo setzt die Musik ein.
Grit hat sich neben Manu platziert, da kann sie wahrscheinlich was abschauen.
Die ersten Schritte misslingen komplett. Wenn Grit ihren Fuß nach vorne setzt, tritt Manu nach hinten. Beim side step rempelt sie ihre Nachbarin links an. Das Tempo ist für deutsche Verhältnisse rasend hoch. Die Herren gegenüber tanzen dagegen perfekt on the line. Es sieht großartig aus. Den Hüftschwung beherrschen sie wie Profis.
Nach fünf Minuten hat Grit den Rhythmus halbwegs eingefangen und sie bewegt sich, ohne auf die Füße zu starren. Ein Gefühl von Freude und Genugtuung steigt in ihr hoch. Ich kann es ja doch noch, mein Gott, wie habe ich das vermisst! Manu lächelt breit und nickt ihr zu. Nach zehn Minuten gibt es die erste Pause und etwas zu trinken. Neben den Flaschen mit Orangensaft und Sprudel steht ein Körbchen, in dem Fächer für die Damen liegen. Tonio hat sie mitgebracht. Keine schlechte Idee.
„Man müsste etwas mehr Deko haben und auch die Beleuchtung runterdimmen, so discomäßig halt“, schlagen die zwei Mädels vor. Borro nickt.
„Nächste Woche gibt’s erstmal Weihnachtsdekoration. Aber dann geht’s Richtung Fastnacht. Ich denke, da lässt sich was machen. Helfer sind immer willkommen.“
„Nächste Runde, bitte paarweise nebeneinander. Und, meine Damen, denkt daran, dass ihr Hüften habt.“
Die Paare vom letzten Mal haben sich schon gefunden. Grit stellt fest, dass Manu schon wieder mit dem dunkelhäutigen, geschmeidigen Afrikaner aus Gambia tanzt. Ein wirklich hübscher Kerl. Wahrscheinlich der beste Tänzer hier. Die Hausfrau hat sich den Vikar geangelt. Als der Tanzlehrer auf Grit zukommt, fühlt sie, wie ihre Beine zu Holzstelzen werden. Bloß nicht, denkt sie, ich möchte um Himmels willen nicht im Mittelpunkt stehen. Aber es hilft nichts, er lächelt sie an und sagt: “Nur keine Panik, jede kommt mal dran.“
Und dann funktioniert es besser, als sie befürchtet hat. Wenn sie aus dem Takt kommt, passt sich Tonio sofort an, die anderen sind ohnehin mit sich selber beschäftigt.
In der dritten Runde geht es um die übliche Tanzhaltung als Paar. Tonio winkt Lamin heran, er soll mit Grit tanzen. Der Gambier schüttelt den Kopf. Erst nach einem von lebhaften Gesten begleiteten Wortwechsel bewegt sich Lamin auf Grit zu. Mit hängenden Armen bleibt er vor ihr stehen. Grit kann seinen schrägen Blick an ihr vorbei nicht deuten. Als die Musik beginnt, streckt sie die Arme nach vorne. Der Gambier zuckt zurück, dreht sich zur Seite und fängt schallend an zu lachen. Grit wird heiß und kalt, sie versteht überhaupt nichts. Macht sie etwas falsch? Sie hat noch nie mit einem Schwarzen getanzt. Zum Glück ist die Musik so laut, dass die anderen Paare keine Notiz von dem merkwürdigen Paar nehmen. Also nochmals auf Anfang. Grit hebt erneut die Arme und auch Lamin rückt bis auf einen halben Meter heran. Doch wieder dreht er ab, lacht und lacht, er kann überhaupt nicht mehr aufhören. Da wird es Grit zu viel. Sie stolpert wortlos davon, holt Tasche und Mantel aus der Garderobe, zieht im Treppenhaus ihre Stiefel an. Im Schneeregen auf dem Weg nach Hause kühlt sie allmählich ab. Das Experiment Salsa ist gescheitert. Der lachende Lamin begleitet sie bis in die frühen Morgenstunden. In den Traumphasen bilden die anderen um sie und Lamin herum einen Kreis, ebenfalls lachend, mit höhnisch verzerrten Fratzen.
Erst eine Woche später, in der letzten Schulwoche vor Weihnachten ruft Manu an.
„Ich dachte, du würdest dich mal melden. Lamin war völlig verstört. Es hat eine Weile gedauert, bis ich herausgefunden habe, warum er so unkontrolliert gelacht hat.“
„Was heißt 'verstört'? Wenn jemand verstört sein konnte, dann doch wohl ich. Wahrscheinlich hatte er keine Lust, mit der blöden grauen Maus zu tanzen. Tonio musste ihn ja fast hinprügeln zu mir.“
„Sag mal, spinnst du? Lamin ist ein sehr liebenswürdiger Mensch. Und er hat's nicht gerade leicht. Hab ich dir erzählt, dass er zur Zeit hier im Kirchenasyl lebt? Er hat wahnsinnig Angst vor der Abschiebung.“
„Aber das erklärt doch nicht, warum er sich geweigert hat, mit mir zu tanzen.“
„Nein, natürlich nicht. Gelacht hat er, weil der dich vom Sehen her kannte, aus deiner Schule, wo er in der Putzkolonne arbeitet. Verstehst du, er findet es unmöglich, dass der Putzmann mit der Lehrerin tanzt. Es passt überhaupt nicht in sein Weltbild. Lehrer sind für ihn Respektspersonen. Und weiße Lehrerinnen sind für ihn tabu. Es war ein Verlegenheitslachen, Grit, er konnte sich ja nicht verständlich machen in der Situation.“
„In meiner Schule, sagst du? ... Oh je, da habe ich wohl überreagiert. Es war halt eine ganz miese Situation für mich. Verdammt, da muss ich doch noch gründlicher darüber nachdenken. Tut mir Leid.“
„Und … kommst du im Januar wieder zum Kurs? Der Vikar würde sich freuen und ich natürlich auch.“
„Was ist mit Lamin?“
„Weiß ich nicht. Seine Lage kann sich jeden Tag ändern, der arme Kerl. Aber ich gebe dir Bescheid. Ach ja, ich wünsche dir noch Fröhliche Weihnachten. Du bist übrigens keine graue Maus.“
Die Weihnachtskonferenz ist zu Ende. Einige haben es sehr eilig, sich zu verabschieden. Es gibt ja noch so viel zu erledigen. Grit gehört zu den Letzten, sie musste das Protokoll übernehmen. Umständlich sortiert sie ihre Unterlagen, sammelt Geschirr ein und rückt Stühle zurecht. Schließlich wartet zuhause niemand auf sie. Ein letzter Blick ins Fach. Vielleicht hat ja jemand noch eine Botschaft für sie hinterlegt. Aber da findet sie nichts, auch nicht die Stofftasche für alle Fälle. Ausgerechnet sie hat das größte Hexenhäuschen gewonnen. Ein Glückslos, andere hätte es zu gerne gehabt. Aber es gehört zu den ungeschriebenen Regeln, keine Tauschgeschäfte. Die mit Zuckerguss und bunten Smarties fantasievoll verzierten Lebkuchengebilde werden jedes Jahr von den Azubis der Bäckerfachgruppe produziert, die damit ihre Klassenkasse füttern.
Vorsichtig trägt sie den Gewinn vor sich her, Richtung Ausgang. Von weitem sieht sie die Putzkolonne anrücken. Ihr Herz setzt kurz aus, als sie Lamin in der Gruppe entdeckt. Hoffentlich stolpere ich nicht, das gäbe eine schöne Bescherung, denkt sie, also ist er noch nicht abgeschoben. Gott sei Dank.
Sie nickt der Putzchefin zu. Lamin hat Grit ebenfalls gesehen, er zögert und will sich an Grit vorbeimogeln. „Hallo … Lamin“, sagt sie und stellt sich ihm direkt in den Weg. „Warte doch einen Moment, bitte. Ich möchte dir etwas sagen.“
„Du böse mit mir?“ Lamins Augen schauen überall hin, nur nicht zu Grit.
„Ich böse mit dir? Aber nein, ganz im Gegenteil. Ich möchte dir etwas geben. Hier, das ist ein Hexenhäuschen aus Lebkuchen. Die Schüler haben es gebacken. Es hält lange, man kann es aber auch essen. Es ist hier Tradition.“
Sie streckt es ihm entgegen, Lamin hat keine Chance abzulehnen.
„Schöne Weihnachten noch und vor allem viel Glück.“
Beschwingt eilt Grit dem Ausgang entgegen. Sie muss sich nicht umschauen, um zu wissen, dass Lamin mit offenen Mund, das Häuschen auf den Armen, hinter ihr herschaut. Und erstmals freut sie sich über die Ferien und ihr gemütliches Heim.