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- 19.02.2006
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Romulanisches Ale
Luis wusste sich nicht anders zu helfen, also schluckte er seinen Stolz herunter und suchte Gregor auf.
Nach dem siebten Klingeln öffnete sich die Tür einen Spalt. »Was willst du hier?« Gregors Gesicht war eine Maske der Ablehnung.
»Ich brauche deine Hilfe.«
»Ach, wie könnte denn ein schnöder Trekkie einem erlauchten Jedi helfen?«
»Ich weiß, ich habe mich das letzte Mal wie ein Arsch benommen. Ich hoffe, eine Flasche Romulanisches Ale genügt als Entschuldigung.«
Gregor hob eine Augenbraue. Luis ahnte, wie oft Gregor diese Bewegung vor dem Spiegel geübt hatte. Er nahm ihm die Flasche ab und ließ ihn ohne ein weiteres Wort ein.
Luis folgte seinem Freund ins Wohnzimmer und setzte sich ihm gegenüber auf ein Sofa. Gregor thronte auf einem Sessel, der dem Kommandositz der Enterprise nachempfunden war. Hinter ihm hing ein Poster, das Scotty zeigte.
Gregor fing Luis' Blick auf. »Sag es und ich verzeihe dir!«
Luis holte tief Luft. »Montgomery Scott ist ein wahrer Held.«
»Warum?«, fragte Gregor genießerisch.
»Kirk ist ein smarter Typ und Spock ist in seiner Logik unübertroffen - aber wer steuert die Enterprise tatsächlich? Was würden Kirks Kommandos nutzen, ohne Montgomery Scott, der die Enterprise zusammenflickt und aus ihr das Unmögliche herausholt?«
Nicht alle Argumente waren von der Hand zu weisen, musste Luis eingestehen, aber in Wirklichkeit, vermutete er, brachte Gregor dem Ingenieur so viel Sympathien entgegen, weil er, wie Gregor selbst, ein Nerd und Bastler war. Und das Unmögliche bezwang.
Wenn Gregor und Luis etwas soffen, kamen sie nie um eine Diskussion dieser Art herum. Und da sie immer soffen, wenn sie sich trafen, stritten sie auch jedes Mal.
Gregor verzieh es Luis nicht, dass er die Faktizitäten des Star-Trek-Universums anzweifelte und Luis ertrug es nicht, wenn Gregor Star Wars als Märchen abtat.
»Und ... ?«, hakte Gregor mit breitem Grinsen nach.
Luis seufzte. »Die Technologie der Enterprise und damit verbunden die Arbeit von Scotty ist visionär und theoretisch möglich. Haben wir es jetzt hinter uns?«
Gregor schenkte zwei Gläser Ale ein und prostete ihm zu. »IwlIj jachjaj.«
»Salut.«
Sie nahmen einen tiefen Schluck.
Luis griff nach der Flasche. Er brauchte Mut, um den Grund seines Hierseins zu erklären.
Gregor kam ihm zuvor. »Ich habe es hinbekommen.« Er strahlte über das ganze Mondgesicht.
»Der Beamer?«
Auf dem Höhepunkt ihres letzten Streites hatte Gregor behauptet, einen Beamer nach dem Vorbild der Enterprise bauen zu können.
Natürlich war das Experiment gescheitert und ja - vielleicht hatte Luis etwas zu viel Häme durchblicken lassen.
Das war vor etwa zwei Monaten gewesen. Privat hatten sie seitdem nichts mehr miteinander unternommen und in der Schule mieden sie sich, soweit es ging.
»Das ist ja großartig!« Er sah wie Gregor die Brauen misstrauisch zusammenzog.
»Nein, ehrlich«, beeilte sich Luis zu sagen. »Das macht alles viel einfacher. Ich ...«
»Ich weiß, dass du nicht wegen meines Beamers hier bist«, kappte Gregor Luis' Euphorie. »Lass mich raten, das Ale ist eine Bestechung, damit ich mir deine Kim-Geschichten anhöre, oder?«
Luis wurde rot. Ein weiterer ihrer Streitpunkte. »Naja, also im Prinzip ...«
»Hör zu, Luis. Da du es anders nicht raffst, sag ich es dir jetzt klipp und klar ins Gesicht: Kim spielt in einer anderen Liga. Sie könnte jeden haben. Jeden. Und du bist nun mal nicht die erste Wahl für Frauen. Für sie bist du unsichtbar, ein Niemand. Ich darf das sagen, denn ich gehöre in die gleiche Kategorie.«
»Weil wir auf Comics und Computerspiele stehen?«
»Warum bist du zu mir gekommen, Luis?«
»Weil du mein Freund bist.«
»Weil ich dein einziger Freund bin. Ich bin ein fetter Computernerd, der Programme schreibt, um seine Probleme mit dem Reallife zu kompensieren. Und du bist ein dürrer Comicnerd, der seine Freizeit mit Lesen und Zeichnen von Mangas verbringt.«
»Man könnte auch Künstler sagen. Viele berühmte ...«
»Nenn es, wie du willst. Zumindest lebst du in einer Welt, die nicht in Kims Universum angesiedelt ist. Wie Marvel und DC.«
»Ich verstehe, was du sagst. Aber ich weiß jetzt, dass ich kein Niemand bin.«
Gregor hob wieder eine Augenbraue. Spock würde vor Neid erblassen.
Obwohl sie allein in der Wohnung waren, beugte sich Luis vor. Es dauerte einen Moment, bis Gregor begriff und sich ebenfalls vorbeugte.
»Ich habe ... Kräfte.« Er sah ihn bedeutungsvoll an.
»Kräfte?«
Luis nickte.
»So wie Jedi-Kräfte?«, hakte Gregor nach.
Luis lehnte sich wieder zurück, sein Gesicht glühte in einem verlegenen Rot. »So ungefähr, ja.«
»Das ist jetzt eine Retourkutsche für den Beamer, oder?«
Luis nahm die Flasche, goss sich nach und leerte das Glas auf einen Zug. Dann blicke er Gregor fest in die Augen. »Das ist mein voller Ernst.«
Gregor holte sich die Flasche zurück, füllte sein Glas und trank es ebenfalls auf einen Zug. »Was kannst du? Gedankenkontrolle? Feuerbälle? Lichtblitze?«
»Ich kann ... Wind machen. Mit meinen Gedanken.«
»Ist ja krass. Seit wann geht das schon so?«
»Also eigentlich hat das mit Kim angefangen. Seit ich mit ihr im Leistungskurs bin.«
»Mit ihr und ihrem Freund, meinst du.« Gregor konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»So ist es. Und das ist auch der springende Punkt. Als Patrick einen Vortrag halten musste, habe ich ihm sein Buch aus der Hand geschlagen.«
»Reden wir vom selben Patrick? Einmeterneunzig, Kapitän der Basketballmannschaft, übersteigertes Ego, mit leichter Tendenz zur Reizbarkeit? Ich glaube, es wäre zu mir vorgedrungen, wenn du dich mit ihm angelegt hättest.«
»Das ist es ja.« Luis beugte sich wieder vor. »Ich habe es ihm mit der Macht aus den Händen gerissen.«
»Mit der Macht?«
»Naja, ich war so ... wütend auf ihn, da ist es einfach passiert. Und erinnerst du dich an seinen Sportunfall? Das war ich auch.«
»Es heißt, er hat sich das Bein beim Training gebrochen. Seit wann spielst du Basketball?«
»Ich hab mich zwischen den Geräten versteckt. Und als ein günstiger Augenblick kam, hab ich ... Wind geschickt.«
»Ein Buch aus den Händen zu reißen, das ist ja eine Sache, aber das mit dem Bein ...« Gregor sah ihn missbilligend ein.
»Ich weiß, ich weiß. Ich bin auch nicht stolz darauf. Aber ich ertrage es nicht, wie er mit Kim umgeht, wie er sie begrabscht. Mir dreht sich der Magen um, wenn ich daran denke, was er mit ihr ...« In Luis Stimme schwang ein Unterton, den Gregor dort noch nie wahrgenommen hatte. Ihn fröstelte.
»Du bist ja völlig besessen von Kim.«
Sie stürzten noch ein Glas. »Ich sag dir das jetzt, weil du mein Freund bist, Luis. Ich meine ... du solltest das doch am besten wissen: Das klingt für mich alles verdammtnochmal nach der dunklen Seite. Du weißt doch, wie das immer endet, oder?«
Luis nickte schuldergeben, war wieder ganz der dürre Nerd, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte und deswegen seine Träume in Comics auslebte.
»Das ist mir bewusst und deshalb will ich es auch nicht mehr mit mir allein austragen. Darum ziehe ich dich ins Vertrauen. Damit du mir hilfst.«
»Das weiß ich zu schätzen. Ich bin für dich da.«
Sie tranken.
Dann murmelte Luis: »Ich war bei Patrick in der Wohnung.«
Gregor verschluckte sich am Ale. »Woher weißt du, wo ...?« Er hustete, fing noch mal neu an: »Du bist bei Patrick eingebrochen?«
»Ich wusste, dass Patrick beim Training ist. Ich habe nur nicht mit Kim gerechnet. Sie hat anscheinend einen Zweitschlüssel. Es blieb mir keine andere Wahl, als mich im Kleiderschrank zu verstecken. Du kannst dir nicht vorstellen, wie demütigend es ist, zwischen Unterhosen und Socken deines Erzfeindes eingeklemmt zu sein. Erst als ich das Plätschern der Dusche hörte, traute ich mich wieder raus. Ich wollte mich aus dem Haus schleichen, so wie ich gekommen bin, aber eine Stimme riet mir, mich davon zu überzeugen, dass es Kim auch gutgeht und ...«
»Du gottverdammter Lüstling!«
»Versteh doch«, flehte Luis«, ich musste einen Blick riskieren! Ich musste einfach wissen, ob sie wirklich so perfekt ist, wie sie immer wirkt. Vielleicht würde mich das heilen, so dachte ich. Ungeschminkt, sich keines Publikums bewusst ...«
»Lass mich raten ...«
»Sie so zu sehen, nackt und unverfälscht, das war eine göttliche Erfahrung.« Luis Blick ging ins Leere und ein dümmliches Grinsen manifestierte sich auf seinem Gesicht.
»Hat sie dich erwischt?«, riss Gregor ihn aus seiner Erinnerung.
»Nein.« Luis schüttelte den Kopf. »Ich konnte in letzter Sekunde verschwinden. Sie hat mich nicht bemerkt.«
Gregor atmete auf. »Dann ist ja alles noch mal gut gegangen. Ich hoffe, das ist dir eine Lehre. Bei jemandem einzubrechen - was wolltest du überhaupt bei Patrick?« Gregor kam ein erschreckender Gedanke. »Sag nicht ...«
»Ich weiß, es war falsch. Und ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass ich niemals wieder so etwas tun werde. Und wenn du mir hilfst, dann hast du mein Jedi-Ehrenwort, dass ich meine Kräfte ...«
»Wobei helfen?«
Luis rollte verlegen sein leeres Glas zwischen den Händen. »Bei meiner Flucht habe ich versehentlich meinen Rucksack zurückgelassen.«
Gregor schenkte ihnen noch einmal nach. Erst dann traute er sich zu fragen: »Was ist in dem Rucksack?«
»Mein Skizzenbuch. Naja, es ist schon mehr als ein Skizzenbuch, es ist quasi ein fast fertiger Comic. Die Geschichte handelt von mir und Kim. Und sagen wir mal so, Patrick taucht auch darin auf. Und er kommt nicht sonderlich vorteilhaft weg ...«
»Du willst, dass ich dir beim nochmaligen Einbrechen helfe? Auf gar keinen Fall!« Gregor knallte sein Glas auf den Tisch.
»Ursprünglich wollte ich, dass du Kim ablenkst. Aber mit deinem Beamer geht das natürlich viel einfacher.«
»Kommt nicht in die Tüte!«
Luis packte Gregor bei den Schultern. »Hör zu, wenn du mir hilfst, stehe ich ewig in deiner Schuld. Du kannst mich bitten, worum du willst.«
Gregor wandt sich aus Luis' Griff. Die Berührung und die Verzweiflung in seiner Stimme waren ihm unangenehm.
»Es ist nicht nur das. Der Beamer ist ein Prototyp. Ich habe bisher nur meinen Hamster gebeamt.«
»Und es hat funktioniert?«
»Das schon, nur ...«
»Dann ist doch alles geklärt. Ich stelle mich als menschliches Versuchskaninchen zur Verfügung.«
Luis sah, wie es hinter Gregors Stirn arbeitete. Selbstverständlich wollte Gregor wissen, ob seine Erfindung etwas taugte. Aber er war noch nicht restlos überzeugt. Also setzte Luis einen drauf: »Und ich verspreche dir, nie wieder ein schlechtes Wort über Star Trek zu verlieren.«
»Nie wieder?«
Luis streckte ihm die Hand entgegen.
Gregor zögerte. »Ich brauche erst einen Beweis, dass deine Geschichte stimmt.«
»Zeig du mir deine Maschine und ich zeige dir einen Jedi-Trick.«
»Also gut.«
Gregor schlug ein.
Eigentlich hätte Luis erleichtert sein müssen, doch in ihm breitete sich ein mulmiges Gefühl aus, als er Gregor zur Kellertür folgte. Das letzte Mal hatte der Besuch in Gregors Refugium beinahe ihre Freundschaft zerschmettert. War es fair, das noch einmal zu riskieren? Noch konnte er diesen ganzen Wahnsinn abblasen. Und wer wusste schon, was das Beamen für Nebenwirkungen verursachte?
»Gregor?«
Sein Freund war bereits im Keller verschwunden. Die Tür stand offen, nach zwei Schritten war die Dunkelheit undurchdringbar.
Gregor und seine Spielchen. Luis spürte Ärger in sich aufwallen. Aber diese Blöße wollte er sich nicht geben. Vorsichtig glitt er in die Schwärze, die Arme tastend vorgestreckt.
Ein Summen hing in der Luft, nur gelegentlich von leisen Pieptönen unterbrochen.
Die Luft war trocken und verbraucht.
Ein Smartphone leuchtete auf. Gregor befand sich unmittelbar vor ihm.
»Bist du bereit?«
Mit einer theatralischen Geste zog er einen Finger über das Display. Kaltes LED-Licht flammte von der Decke und zauberte Rechner, Monitore und Kabelgewirr aus der Dunkelheit.
»Angeber«, schnaubte Luis, doch er war gegen seinen Willen beeindruckt. Der Keller sah aus, wie das, was er war: Der filmreife Hort eines überambitionierten Computernerds.
Das Einzige, was nicht in dieses Bild passte, war die Sonnenbank in der Mitte des Raumes. »Für dieses Hobby siehst du verdammt blass aus«, sagte Luis und folgte seinem Freund die Treppe hinunter.
Gregor nahm auf einem Hocker mit Rollen platz. Jetzt war er ganz in seinem Element. Mit bizarrer Anmut huschten seine Wurstfinger über die Tastatur und erweckten Bildschirme zu leuchtendem Leben.
»Das, mein Freund, ist der Beamer.« Gregor hackte auf eine Taste und die gewölbte Abdeckung der Sonnenbank öffnete sich mit einem Zischen.
Die Sonnenbank sah aus wie eine typische Liege aus einem Solarium. Ober- und Unterseite waren bestückt mit Leuchtstoffröhren und ummantelt von Glas. Von der Liege gingen etliche Kabel ab, erinnerten an Gliedmaßen einer mechanischen Krake, die sich durch den Raum schlängelten und in diversen Rechnern mündeten.
Luis stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Wie funktioniert es?«
»Im Prinzip gleicht es einem Navigationsgerät.« Gregor zeigte auf einen Monitor. »In diesem Programm gibst du dein Ziel an. Entweder du kennst die Koordinaten oder du zoomst dich über eine Google-Karte an einen bestimmten Ort und der Computer übernimmt das Einsetzen der Koordninaten.«
»Wie beim Geocaching.«
»So kann man es sehen. Alles, was sich unter der Liege befindet, wird dann an den festgesetzten Ort gebeamt.«
»Jetzt kann ich also einfach Patricks Adresse suchen und ...«
»Immer der Reihe nach«, sagte Gregor. »Erst bist du dran. Zeig mir einen Jedi-Trick.«
»Also gut. Aber wenn ich das mache, dann versprichst du mir, nie wieder Luke Skywalker ins Lächerliche zu ziehen.«
»Ich werde mich nie wieder über die Macht lustig machen. Aber Luke? Komm schon, den kann man einfach nicht ernst nehmen. Allein wie er ...«
»Versprich es!«
»Na schön.«
»Vulkanisches Ehrenwort?«
»Vulkanisches Ehrenwort.«
»Dann pass jetzt gut auf«, sagte Luis mit einem Lächeln. Er holte tief Luft und schloss die Augen.
Gregor fühlte, wie eine Gänsehaut seinen Rücken hinaufkrabbelte. Bildete er sich das nur ein oder sackte die Temperatur plötzlich ab?
Ein Gong ertönte. Gregor tat das, was er immer tat, wenn es an der Tür klingelte. Er ignorierte es. Es klingelte erneut. Und nochmals.
»So wird das nichts«, sagte Luis. »Ich muss mich konzentrieren. Erwartest du jemanden?«
»Haha. Hast du wem gesagt, dass du hier bist?«
»Nur meiner Mutter, aber die wird sich kaum die Mühe machen, hier aufzukreuzen.«
»Deiner Mutter?«
»Das war einfacher, als ihr zu sagen, ich steige bei dem Freund meiner großen Liebe ein.«
»Sehr weise du bist.«
Der Gong ertönte wieder. »Ich geh nachsehen, fass nichts an!« Gregor stampfte die Treppen nach oben.
Luis setzte sich auf den Drehhocker und besah sich das Programm genauer. Die Bedienung war denkbar simpel. Man brauchte lediglich ... Von oben polterten laute Stimmen.
»Wo ist der Drecksack?«
Luis kannte diese Stimme. Er hasste diese Stimme.
Patrick erschien im Türrahmen. Der Basketballer musste sich bücken, um durch die Tür zu passen. Gregor folgte ihm die Treppe hinab, beschwichtigend auf ihn einredend. Patrick nahm davon keine Notiz. Mit großen Schritten kam er auf Luis zu.
Luis spürte, wie er in sein altes Ich zurückrutschte. Er schien zu schrumpfen und verfiel in eine Schockstarre. Als Patrick sich vor ihm aufbaute, konnte Luis nur teilnahmslos mit aufgesperrten Mund zugucken, wie ihn Kims Freund auseinandernahm.
»Hast du eine Erklärung dafür, warum mich meine Freundin mitten im Training anruft und verlangt, dass ich nach Hause komme?«
Patrick stach mit einem riesigen Zeigefinger nach ihm. Luis stolperte zurück, doch der Schreibtisch in seinem Rücken vereitelte eine Flucht.
»Kannst du dir vorstellen, warum sie so aufgelöst war?«
Wieder bohrte sich ein Zeigefinger in Luis' Brust. Jede Berührung hinterließ einen blauen Fleck.
»Sie hat etwas gefunden, was nicht in meine Wohnung gehört. Na, klingelt es jetzt?«
Luis wappnete sich für den nächsten Zeigefinger, doch stattdessen präsentierte Patrick ihm Luis' Skizzenbuch. »Erkennst du es wieder? Nein, dann lass mich dir auf die Sprünge helfen.«
Patrick riss eine Seite aus dem Buch und hielt sie ihm vor die Nase. Luis in einer Samurairüstung, umringt von leblosen Körpern, niedergestreckt von seinem Schwert, an dem noch das Blut der Erschlagenen klebt. An seiner Seite, sich an ihn klammernd: Kim, in wallenden Gewändern, die wenig ihres perfekten Körpers der Fantasie überlassen. Voller Ehrfurcht blickt sie zu ihm auf.
Patrick riss eine weitere Seite heraus. Noch immer befinden sich Kim und Luis auf dem Schlachtfeld. Doch sie tragen keine Kleidung mehr. Luis liegt auf dem Rücken, Kim sitzt rittlings auf ihm, das Kreuz durchgebogen, den Mund zu einem wollüstigen Schrei aufgerissen. Hinter ihnen die untergehende Sonne.
»Diese Detailverliebtheit hat es mir wirklich angetan«, zischte Patrick. Ein feiner Speichelregen ging auf Luis nieder.
Natürlich war es Patrick nicht entgangen. Eine Gestalt inmitten der erschlagenen Feinde ist nicht tot. Vollkommen nackt, Hände und Beine im Rücken aneinandergefesselt, starrt sie mit gebrochenem Blick auf das in Ekstase verfallene Paar. Die Gesichtszüge sind genauso deutlich die von Patrick, wie der Knebel in seinem Maul von der Unterwäsche Kims stammt.
»Du bist ein verdammter Freak!« Patrick schlug Luis so heftig mit dem Skizzenbuch, dass dieser in einem Schauer von flatternden Seiten zu Boden ging.
Als Luis nach Luft schnappte, stopfte Patrick ihm die soeben präsentierte Szene in den Mund. Das Buch ließ er achtlos fallen.
»Wie schmeckt dir das? Ist es so geil, wie du es dir vorgestellt hast?«
»Das ist sicherlich alles nur ein furchtbares Missverständnis«, jammerte Gregor. »Wir sollten uns alle erstmal beruhigen und ...«
Keiner hörte ihm zu.
Patrick zog Luis zu sich hoch. »Na wo ist denn unser tapferer Samurai?«
Patrick schob sein Gesicht so nah an Luis, dass sich ihre Nasen beinahe berührten. In seinen Augen kämpften Wut und Verachtung um die Oberhand. »Das habe ich mir gedacht. Du bist ein Loser, ein Nichts!«
Luis schloss die Augen, suchte nach dem, was ihm Macht verlieh, fand es, griff danach und ...
- Plötzlich fuhr ein eisiger Wind durch den Keller -
Patricks Körper schmetterte rücklings gegen die Wand. Er knallte gegen den Sicherungskasten und sackte zu Boden.
Das Deckenlicht flackerte. Kurz wanderte ein Flimmern über die Bildschirme.
Luis spuckte das Papier aus.
Mit aufgerissenen Augen sah Gregor zu, wie Luis den bewusstlosen Patrick zur Sonnenliege schleifte.
»Was hast du vor?«
»Er wollte mich umbringen. Wir haben keine andere Wahl.«
»Umbringen? Nun mach mal halb lang. Wir rufen die Polizei und ...«
»Sag mir, Gregor, wie willst du der Polizei dein Labor erklären? Und glaubst du, Patrick wird uns hiernach in Ruhe lassen?«
In Luis Augen loderte eine Entschlossenheit, die Gregor ängstigte. Er wuchtete Patricks Körper auf die Liege, kam zurück und machte sich über die Tastatur her.
»Das darfst du nicht tun!«
Gregor zeigte an die Decke. »Das flackernde Licht deutet darauf hin, dass irgendetwas mit der Leitung nicht stimmt. Wenn wir Patrick wegbeamen und der Strom ausfällt, wird er niemals irgendwo ankommen. Dann ... verschwindet er einfach.«
Von Luis ging eine Kälte aus, die körperlich spürbar war.
»Dann überprüf das!« Luis nickte zum Sicherungskasten.
Gregor war froh darüber, etwas tun zu können. Er riss die eingebeulte Tür auf und fingerte an den Sicherungen herum.
»Sieht alles gut aus«, murmelte er. »Nur die eine ist etwas wackelig, aber das haben wir gl- ...«
Ein vertrautes Summen ließ ihn herumfahren. Die Röhren der Sonnenbank flammten auf. Das Summen schwoll an, wurde hochfrequenter, die Röhren leuchteten so grell, dass Gregor den Blick abwenden musste. Dann ein Lichtblitz, gefolgt von einem Zischen, das wie ein langes Ausatmen klang.
Als Gregor wieder hinsah, wusste er, was ihn erwartete.
Die Röhren waren erloschen. Sie knisterten leise, während sie abkühlten.
Die Liege war leer.
Gregor taumelte an Luis Seite. »Wo hast du ihn hingeschickt?«
Entsetzt starrte er auf den Monitor. »Die Antarktis? Bist du wahnsinnig?«
»Auf wessen Seite stehst du überhaupt?«, fuhr Luis ihn an.
»Er wird da sterben!«
»Hättest du es bevorzugt, wenn ich gestorben wäre?« Luis Augen weiteten sich. »Aaah, jetzt verstehe ich! Du willst sie für dich!«
Luis deutete anklagend auf das Skizzenbuch.
Gregor war gar nicht aufgefallen, dass er es aufgehoben hatte.
»Luis, ich ...«
»Ich habe gesehen, wie du Kim angegafft hast!«
Luis machte einen Schritt auf Gregor zu. Gregor wich zurück. Er zitterte. Vor Angst und vor Kälte.
»Natürlich«, sagte Luis, »wie konnte ich nur so blind sein? Du steckst mit Patrick unter einer Decke! Du hast ihn herbestellt, damit ihr mich loswerden könnt. Woher sonst hätte er wissen können, dass ich bei dir bin.«
»Er war zuerst bei dir«, winselte Gregor. »Deine Mutter hat ihm gesagt, wo er dich finden kann.«
Luis lachte auf. »Du müsstest dich selbst reden hören! Ihr wolltet mich aus dem Weg schaffen, weil ihr wisst, was Kim für mich empfindet!«
»Du bist ja völlig irre!«
»Ganz im Gegenteil, endlich ist mir alles klar!« Luis streckte die Hand nach ihm aus. Ohne ihn auch nur zu berühren, erwischte Gregor ein eisiger Stoß, der ihn von den Füßen riss.
Luis baute sich über ihm auf. Ein wahnsinniger Jedi. Ein Sith.
Gregor nestelte sein Handy aus der Tasche.
In Luis Gesicht breitete sich ein süffisantes Grinsen aus. »Sofern du nicht auch an einem Phaser gebaut hast, wird dir dein Handy jetzt wenig bringen, fürchte ich.«
»Angeber!«, sagte Gregor und schaltete alles Licht auf einmal aus. Augenblicklich wurde es vollkommen finster.
»Das wird dir nichts nützen!«, kreischte Luis. »Du kommst hier nicht ra-«
Etwas Schweres erwischte Luis von der Seite. Einmal, zweimal, etwas knackte, ein Schrei, ein dritter Schlag.
Als Luis sich nicht mehr regte, schaltete Gregor das Licht wieder an. Den Hocker, mit dem er Luis niedergeschlagen hatte, ließ er nicht los.
Luis blutete aus einer Wunde am Kopf, aber er atmete noch und stöhnte leise.
»Scheiße, was mach ich jetzt nur?«
Sollte er die Polizei rufen? Hier unten hatte er keinen Empfang. Er traute sich nicht, den Keller zu verlassen. Was wäre, wenn Luis in der Zeit aufwachte? Würde ihn eine Fessel aufhalten? Verdammt, er war nie bei den Pfadfindern gewesen, Gregor hatte keine Ahnung, wie man einen vernünftigen Knoten band. Konzentrier dich!
Er warf Luis über den Hocker und rollte ihn zur Sonnenbank. Es war gar nicht so leicht, den schlaffen Körper in die Liege zu zerren. Mehrmals kollidierte Luis Kopf unsanft mit dem Glas. Gregor hastete zum Computer. Seine Hände zitterten so sehr, dass er den Suchbegriff dreimal eingeben musste, bis die Maschine in der Lage war, aus seinem Buchstabenchaos einen Treffer zu generieren.
Wenn er die Polizei nicht zu sich führen konnte, musste er Luis eben zur Polizei bringen.
Die nächstgelegene Wache war acht Kilometer entfernt. Aber die Entfernung spielte keine Rolle.
Das Programm lud die Koordinaten.
»Gregor?« Luis drehte suchend den Kopf. Blut lief ihm aus einer Platzwunde über das Gesicht, doch er schien es nicht einmal zu bemerken.
»Es tut mir leid, die dunkle Seite ist zu stark in dir!«
»Tu das nicht!« Luis erhob sich. Oder wollte es zumindest. Er prallte mit dem Kopf an die Oberseite der Liege, klappte wieder zusammen.
Die Röhren flammten auf, das Summen schwoll an.
»Nein!«
Es geschah alles gleichzeitig.
Luis stieß seinen Arm vor und ein mächtiger Windstoß erschütterte das Labor, fegte Monitore und Tastaturen von den Tischen, doch diesmal war es nicht nur Wind, sondern ein Gewitter, das Luis heraufbeschwor, Blitze zuckten aus seinen Fingern, ließen Rechner aufplatzen, verteilten Schrapnellgeschosse aus Plastik und Metall. Kurzschlüsse, Funkenregen und über alledem schraubte sich das vertraute Summen in die Höhe, bis alles in einem Lichtblitz verging.
Gregor hustete. Zwei Rechner hatten Feuer gefangen, und setzten Rauch frei, der in kürzester Zeit in der Lunge kratzte und die Sicht erschwerte.
Doch was Gregor sah, reichte ihm aus, um zu verstehen, was geschehen war.
Luis lag nicht länger auf der Liege. Aber er war auch niemals bei der Polizeiwache angekommen. Luis hatte sich immer dagegen gewehrt, ein Niemand zu sein und nun hatte er sich im wörtlichen Sinne in Nichts aufgelöst.
»Das habe ich nicht gewollt.« Beim Kodex der Raumflotte.
Würgend kämpfte Gregor sich zur Treppe vor. Es war erschreckend, wie schnell sich der Rauch ausbreitete und wie rasch er ihm die Orientierung raubte. Er stolperte über den Hocker, mit dem er Luis niedergeschlagen hatte.
Als er seinen Sturz abfing, berührten seine Fingerspitzen ein Papierknäuel. Reflexartig griff er danach. Dann ertastete er das Treppengeländer und stolperte die Stufen nach oben.
Er wankte durch das Wohnzimmer, wich dem anklagenden Blick Montgomery Scotts aus und stürzte nach draußen ins Freie.
Als er die andere Straßenseite erreichte, verließen ihn die Kräfte und er sackte keuchend auf eine Parkbank. Langsam kam er wieder zu Atem. Das Feuer hatte sich bereits bis ins Wohnzimmer vorgearbeitet. Durch das der Straße zugewandte Fenster konnte Gregor den seltsam faszinierenden Tanz der Flammen beobachten.
In der Ferne hörte er die Sirenen der Feuerwehr.
Zittrig strich Gregor das Papier glatt, das er aus dem Keller gerettet hatte. Es war jene Zeichnung, die Patrick Luis in den Rachen gestopft hatte. Die Tinte war durch den Speichel verlaufen.
Luis Samuraikörper schien sich zu zersetzen, entstellte ihn zu einem körperlosen Dämon, der sich in Qualen wandt. Von Patrick war nur noch ein schwarz verschmierter Fleck übrig.
Einzig Kim hatte der Speichel kaum etwas angetan. Dank der vielen Schatten leuchtete ihr makelloser Körper überirdisch aus dem finsteren Setting hervor. Lediglich durch ihr Gesicht zogen sich Schlieren, sodass es schien, als weine sie. Ein Mundwinkel war zu einem spöttischen Grinsen verzogen.
Plötzlich kam Wind auf und riss Gregor das Papier aus den Händen.