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Riskante Träume
Give it away schallt aus den Boxen und übertönt das Gemurmel im Raum. Der Lautsprecher hinten am Eingang scheppert, was mich schon lange nicht mehr stört. Den Qualm meiner Camel blase ich in Richtung Decke, beobachte, wie er flapp, flapp, flapp vom Ventilator verwirbelt wird. Während ich auf die Spitze meiner Zigarette puste und die Glut hell aufleuchtet, stelle ich mir vor, all der Mist hier drin ginge in Rauch auf.
Überschaubar ist es heute: acht, neun Gäste, ganz entspannt. Und Eva, aber Eva zähle ich nicht mit. Sie gehört ebenso zur Bar wie die Hocker zum Tresen oder die Moët-Flasche, die mir als Kerzenhalter dient und einen so dicken Wachsbauch hat, dass ich mich frage, wann das Ding endlich umfällt.
Der Typ, zwei Stühle weiter, geht mir auf die Nerven. Mit seinem lächerlichen Oberlippenbart, dünn wie ein Strich. Kaum hat er der ersten Halben einen Kurzen hinterhergejagt, legt er los, von wegen Scheißsystem und so. Ich kann das nicht mehr hören, immer dieselben Geschichten, über die da oben, treulose Fotzen oder Krebs. Früher hätte ich nachgefragt, mich am Geschwätz beteiligt. Heute nicht mehr. Heute mime ich höfliches Interesse oder ziehe den Stecker. Ganz professionell eben.
»Noch eins?«, frage ich und nehme das Glas vom Tresen.
Der Typ, dessen Litanei ich abwürge, nickt hölzern. »Ah, vielleicht doch lieber ein Radler, bitte.« Er reibt sich mit spitzen Fingern den Möchtegernbart.
»Klar«, sage ich und zapfe schon drauf los. Als ich den Sprudel eingieße, kommt Miriam durch die Tür. Das Bier läuft mir über die Hand, und ich schaue zu dem Typen, der sich noch immer den Strich von der Oberlippe zu reiben versucht. Eva daneben schmunzelt. Sie wirkt dabei so runzelig wie ein Ballon, der zu lange rumgelegen hat und dem langsam die Luft ausgeht. Das Gespritzte schiebe ich dem Mann vor den Latz. »So, Meister, das macht dann vierzehn-achtzig zusammen.« Ich trockne mir die Hände an der Schürze ab.
»Ach so, ja.« Er fummelt seinen Geldbeutel aus der Gesäßtasche, legt mir einen Zehner und einen Fünfer hin. »Stimmt so.« Und ich hoffe, er hat kapiert, dass das die letzte Runde für ihn ist.
Miriam ist ganz in Schwarz und hat eine Freundin im Schlepptau. Eine Hagere, die aussieht, als hätte sie ein Magengeschwür oder so – sie war schon öfter mit ihr hier.
Ich wische über das mit Brandflecken übersäte Holz des Tresens, dort, wo Miriam am liebsten sitzt, wenn frei ist.
»Na, ihr zwei, was darf’s sein?«, frage ich und kratze mich an einer meiner Koteletten.
»Zwei Gin Tonic«, sagt die mit dem Geschwür und ich unterdrücke die Frage, ob sie nicht eher einen Magenbitter trinken wolle.
»Zwei Gin Tonic, kommt sofort.« Ich mixe die Drinks und beobachte Miriam, wie sie der Freundin eine Hand auf den Oberschenkel legt, ihr was zuflüstert, und schon steht die erste Verwandlung im Gesicht der anderen geschrieben: Augen, die unerwartet leuchten können.
Miriam hat eine Gabe. Keine Ahnung, ob man das so sagen kann. Sie macht etwas mit Menschen, in denen was kaputt zu sein scheint. Wie eine Seelenchirurgin, ein Engel vielleicht, mit kurzen Haaren und eng beringten Ohren.
Natürlich schnappe ich hin und wieder Gesprächsfetzen auf, während sie sich ihren Patienten widmet: vom Freund verlassen, die Mutter gestorben. Ängste, enttäuschte Hoffnungen, ich kenne das nur zu gut. Der Unterschied: Lädt man seinen Müll bei mir ab, leuchtet bald gar nichts mehr. Meine Profession besteht darin, zu dimmen, bis es dunkel wird.
»So, bitte sehr. Lasst's euch schmecken«, sage ich und stelle die Drinks auf rote Papierservietten.
Der Bartmensch versucht, Eva anzumachen, ich mach's mir auf dem Hocker bequem, nehme einen Zug von der Kippe und lächele in mich hinein. Eva lässt den Typen abblitzen, wie erwartet, winkt nur ab und sagt kein Wort. Sie unterhält sich nicht gerne, hätte ich ihm gleich sagen können. Er kneift sich in die Nasenwurzel, trinkt aus und verabschiedet sich. Ich nicke nur und registriere, wie sich Evas Falten um den Mund herum kräuseln. Auch ich muss schmunzeln und stelle ihr ein Frischgezapftes hin.
Miriam und ihre Freundin sind die Letzten. Sogar Eva ist weg, es muss spät geworden sein.
»Und ihr macht die Stadt jetzt noch unsicherer, hm?«
Miriam lacht, ein Stückchen des rechten Schneidezahns fehlt, was ihr nur noch mehr Magie verleiht. »Wir schlendern wohl ins Rocky. Steff hier«, sie nickt Richtung Freundin, »will unbedingt noch tanzen gehen.«
»Und ein paar Typen aufreißen«, sagt Steff und formt die Lippen zu einem Kussmund.
Miriam sagt: »Mach du nur, ohne mich.« Und zu mir gewandt: »Ich muss wohl auf sie aufpassen.« Die Freundin knufft ihr die Schulter und ich ringe mir ein »Na dann, viel Spaß euch beiden« ab.
Nachdem ich abgeschlossen habe, gehe ich nach oben, zappe durchs Programm und schalte irgendwann aus. Der Kühlschrank brummt, ich drehe mich von links nach rechts – keine Ahnung, wie oft. Das Bett quietscht, die Decke klebt unangenehm an meinem verschwitzten Körper. Öffne ich die Augen, huschen Lichter vorbeifahrender Autos die Zimmerdecke entlang, als suchten sie etwas.
Ich frage mich, wie alt Miriam ist. Ende zwanzig, Anfang dreißig? Ich stehe auf, nehme mir die Camels vom Nachttisch und entriegele das Fenster. Sommerregenluft verhüllt den Gestank der Stadt. Irgendwo ein Martinshorn.
Ich stecke mir die Fluppe an. Zwei Schatten rennen mit über den Kopf gezogenen Jacken in den finsteren Hauseingang schräg gegenüber. Die Absätze klackern. Sie lachen und kaum sind sie im Trockenen, beginnt die Knutscherei. Ich sehe mir das eine Weile an, schnippe die aufgerauchte Kippe in die Nacht und lege mich wieder hin.
Es klingelt; dann wieder. Ich schalte die Lampe an und schaue zum Wecker auf dem leeren Bierkasten neben mir. Ein drittes Läuten. Ich schäle mich aus dem Bett und blicke durchs Fenster nach unten – es regnet noch immer. Eine dunkle Gestalt schaut zu mir hoch. Miriam? Ich stolpere nach unten und öffne die Tür.
Dicke Perlen tropfen von ihrem Haar, Make-up-Rinnsale durchschneiden das Gesicht.
»Hi«, sagt sie, dann ein Schluchzen.
»Was ...? Um Gottes willen, komm doch erst mal rein.« Ich lege ihr die Hand auf die Schulter, ziehe sie in den Gastraum und schließe die Tür. Der Geruch nach abgestandenem Rauch und schalem Bier liegt in der Luft.
»Entschuldige«, sagt sie und schwarze Teiche wachsen auf dem abgewetzten Dielenboden. Sie legt auf einmal die Arme um mich, ich erwidere es, erst zaghaft, bevor ich richtig zudrücke. Klitschnass und kalt wie ein Fisch ist sie. »Schon gut«, sage ich – sie bebt unter meinem Griff.
»Ich kam hier vorbei und ... Keine Ahnung«, sagt sie, »ich dachte, vielleicht kann ich kurz rein.«
»Klar«, sage ich. »Klar kannst du rein.«
»Ich hab nicht nachgedacht, weißt du, ich stand einfach hier und dachte ... du bist immer so nett und ...«
»Hey, alles okay. Ist okay.«
»Ich wusste einfach nicht wohin«, sagt sie.
»Weißt du was? Ich hole dir erst mal was Trockenes zum Anziehen und du trinkst einen Kaffee. Wie wäre das, hm?«
Ihr Kopf reibt an meiner Brust.
»Na, komm, geht auf's Haus.« Ich lockere den Griff und sie lächelt ein wenig.
Als ich mich von ihr abwende, sagt sie: »Ein Handtuch reicht schon. Und Schnaps wär mir lieber.«
Sommersprossen auf der Haut wie kleine Inseln auf einem See voll Milch. Ich betrachte die chinesischen Symbole, die sich Wirbel für Wirbel vom Nacken bis zum Steiß abzeichnen – eine geheimnisvolle Schrift, die mir etwas sagen möchte.
Ich wünschte, Miriam schliefe ewig weiter, wie Dornröschen, hundert Jahre. Meine Nase sucht nach Antworten in ihrem Haar, doch ich rieche nichts. Eine Hand findet meine. Miriam zieht mich enger zu sich ran, umklammert meinen Arm zwischen ihren Brüsten, als handele es sich um ihre Lieblingsdecke.
»Morgen«, flüstert sie.
»Morgen.«
Sie dreht sich zu mir und lächelt. Ich lächele zurück.
»Na?«, fragt sie.
»Na«, sage ich.
Wir küssen uns und sie spürt wohl meinen hart gewordenen Schwanz an ihrem Bauch. Wir lieben uns erneut, diesmal im Tageslicht und sie schließt nicht einmal die Augen – im Gegensatz zu mir. Dann schlafe ich ein.
»Ich hab Hunger«, sagt sie. »Hast du was da?«
Ich blinzele den Schlaf weg. »Hm?«
»Ob du was zu futtern hast?« Miriam hält den Kopf aufgestützt und tapst mir mit dem Finger auf die Nase.
»Scheiße, nein. Erdnüsse und Salzstängel, unten in der Bar.« Meine Zunge gleitet an den Zähnen entlang, ein säuerlicher Geschmack lässt mich das Gesicht verziehen.
»Gar nichts im Kühlschrank?«
»Vielleicht noch ein paar Eier und Milch.«
Miriam lacht. »Okay, Kochen ist wohl nicht dein Ding, oder?« Sie steht splitternackt auf und geht Richtung Küchenzeile. Ihre Brüste sehen aus wie bei einem kleinen Mädchen. Ich schäme mich, weil eine Menge ungewaschenes Geschirr rumsteht. Ich schäme mich für mein selbstgezimmertes Palettenbett, den Bierkasten als Nachttisch, den billigen Kleiderschrank und das muffige Miniaturbad, das sie gestern benutzt hat.
»Ich bin gelernter Koch!«
»Ehrlich?«
»Hab es sogar mal zum Chef de Cuisine gebracht.«
»Chef de Cuisine«, sagt sie.
»Ohne Witz!« Ich lache auf. »Hat mich zwanzig Jahre meines Lebens und meine Ehe gekostet.«
»Du warst verheiratet?« Miriam öffnet ein paar Schränke und kramt eine Pfanne hervor.
»Jepp. Hab' einen Sohn. Der hat aber schon lange die Schnauze von mir voll.«
»Wie alt?« Die Eier geben ein blubberndes Zischen ab, als sie in heißes Fett geschlagen werden. Ich stehe auf und greife nach meiner Hose.
»Michi ist siebzehn. Macht nächstes Jahr Abi.«
»Lässt sich das wieder kitten zwischen euch?«
»Vielleicht, keine Ahnung«, sage ich. »Hoffentlich.« Mein Hemd stinkt, ist mir lange nicht mehr aufgefallen, dass kalter Rauch so stinken kann. Ich hole mir ein neues aus dem Schrank, gehe ins Bad und finde Miriam kurz darauf am gedeckten Tisch sitzen, angezogen, vor einer dampfenden Pfanne voll Spiegelei, zwei Gläsern Milch und einem brennenden Teelicht, das sie – weiß der Geier wo – gefunden hat.
»Willst du heute über gestern reden?«, frage ich.
»Nein.«
»Und ... äh ... Steff? Ist mit ihr ...«
»Ihr geht’s gut.« Miriam hält den Teller vor den Mund und schiebt sich mit der Gabel die letzten Eikrümel hinein.
»Okay«, sage ich, »und das mit uns?«
»Was?«
»Na ja.«
»Ich gehe weg. Nächste Woche schon. Australien«, sagt sie.
»Australien?«
»Mein Onkel wohnt da. Hat Schafe, ’ne Farm.« Sie schmatzt geräuschvoll. »Ich will da mindestens ein Jahr bleiben. Vielleicht für immer«, sagt sie.
»Hey, das ... klingt gut, finde ich.« Ich versuche mich an einem Lächeln.
»Hast du was zum Schreiben?«
»Wie?«
»Na, Stift und Zettel.« Sie lacht.
»Klar, Moment«, sage ich und bringe ihr einen Block und einen Kugelschreiber. Sie beginnt zu zeichnen. Ich setze mich wieder und beobachte, wie sie gekonnt einen Strand mit Palme – eine Kokosnuss fällt hinab – das Meer und eine Sonne zeichnet, die eben hinter den Horizont flüchtet. Dann fügt sie eine Art Bude hinzu, zwei Barhocker davor, fette Boxen links und rechts, von denen Noten und zittrige Striche abgehen. Halb gefüllte Cocktailgläser stehen bald auf dem Tresen, und dahinter: ein Mann mit buschigen Koteletten, und, ja, jetzt erkenne ich es, eine Frau, mit kurzem Stoppelhaar und Ringen in den Ohren. Miriam dreht den Collegeblock um und schiebt ihn zu mir rüber. »Komm doch einfach mit?«
***
Es riecht noch nach Farbe, der neue Kühlschrank summt kaum hörbar vor sich hin, und nostalgische Werbeschilder – Coca Cola und Persil – schmücken ungewohnt die weiß gewordene Wand. Ich komme mir albern vor, voll Klischee, aber ja, gefällt mir trotzdem, ebenso die Nachttischchen mit Schublade, die Yuccapalme und das kleine Highboard im Shabbylook, auf dem die Glotze jetzt steht.
Die Postkarte pinne ich zu den anderen auf Kork, über dem Tisch. Jeden Monat kommt eine, immer ein Strandmotiv, immer ohne Text, aber manchmal mit einer hübschen Zeichnung drauf. Dann schaue ich auf das karierte Blatt ganz oben, auf das Miriam nicht nur einen Traum gezeichnet, sondern auch eine Nummer geschrieben hat, bevor sie gegangen ist. Eine Handynummer, die ich tausendmal gewählt habe, in Gedanken. Nur in Gedanken, alles andere wäre äußerst albern.
Der Umsatz passt heute, und ich bin froh, als die letzten Gäste zahlen möchten. Ein junges Paar – sie haben sich den ganzen Abend Botschaften zugeflüstert und bedeutungsschwere Blicke zugeworfen. Der Macker streckt mir einen Fuffi entgegen, gönnt mir großzügig Trinkgeld. Ich gebe raus und lege die Geldbörse nach hinten. »Tschö«, erwidere ich den Gruß der beiden, ohne mich umzusehen, und betrachte den weißen Sandstrand auf meiner Lieblingskarte, die seit Kurzem in der Bar hängt. Ich überlege, was gerade aus den Strandboxen wummert. So ein Café-del-Mar-Scheiß oder die Chilli Peppers. Ich hoffe auf Letzteres.
»Ein Mädchen?«
Ich zucke zusammen und schaue über die Schulter, habe Eva ganz vergessen. Irgendwie gehört sie echt zum Inventar. Eva hat selten nach etwas anderem als dem nächsten Drink gefragt.
»Ja«, sage ich.
»Und?«
»Was und?«
»Dein Mädchen?«
Ich lache kurz auf. »Sie will, dass ich nachkomme.«
»Karibik?«
»Australien.«
Eva nickt. »Australien ist scheiße.«
Wieder lache ich. »Bist du je da gewesen?«
»In einem anderen Leben.« Eva trinkt das halbe Glas in einem Zug aus. »Hat mir nichts als Ärger eingebracht.«
»So.« Ich sehe ihr in die grauen Augen und glaube, die Fältchen ringsum deuten ein Lächeln an.
»Na, was ist?«, frage ich. »Trinkst du noch einen, oder nicht?«
Sie sieht auf ihre Armbanduhr, dann wird die Tür geöffnet.
»Ich mache hier dicht«, rufe ich nach hinten.
»Schon gut«, sagt Eva, »ich gehe jetzt auch.«
»Nein«, sage ich, »du musst nicht ...«
»Doch, doch.«
Eva erhebt sich und geht zu dem Mann, der noch immer vorne an der Tür steht. Ich habe ihn nicht gleich erkannt, der lächerliche, dünne Bart ist weg. Der Typ legt den Arm um Eva und nickt mir zu.
Ich hebe die Hand zum Abschied.