Ringtheater
Der Regen wollte nicht nachlassen. In der Dunkelheit zeichnete sich Dylans Umriss kaum von den rohen Brettern in seinem Rücken ab, nur die Zigarettenspitze glühte rot wie ein Hoffnungsschimmer. Müde fuhr Dylan mit der Hand durch sein feuchtes Haar. Es wurde allmählich zu lang, er musste es wieder schneiden lassen. Die kahle Stelle an seinem Hinterkopf ließ sich ohnehin kaum noch verbergen. Ein letztes Mal zog er an dem Zigarettenstummel, warf ihn in eine Pfütze und trat mit dem Absatz darauf. Seine Schuhe waren durchgelaufen, Feuchtigkeit drang durch die Sohlen. Das Geld reichte nicht für neue. In ein paar Monaten, vielleicht. Die Kinder brauchten Wintersachen. Sie wuchsen so schnell. Anne sollte mehr arbeiten. Sie wusste, dass sein Geld nicht reichte. Dylan kauerte sich in den spärlichen Schutz des überstehenden Wellblechdaches. Seine Hände zitterten, nicht nur vor Kälte, und er kramte hastig nach Löffel, Pulver und Feuerzeug. Kaum gelang es ihm, die Flamme lang genug am Brennen zu halten. Die Flüssigkeit war bernsteinfarben, fast zu bernsteinfarben. Trotzdem zogen seine tauben Finger sie begierig in die kleine Spritze auf. Der Stempel war gebrochen, und er mühte sich, beinahe hätte er etwas verschüttet. Vorsichtig schob er die Kanüle in seinen linken Handrücken. Oft konnte er die Vene nicht mehr benutzen. Schließlich richtete Dylan sich auf, vergrub die Spritze tief in der Manteltasche. Die Kanüle warf er fort, mit dem Plastikschutz darüber in die große schwarze Tonne. Unschlüssig blieb er daneben stehen. Er sollte nach Hause gehen, zu seiner Frau und den Kindern, doch er wartete. Die Tür mit den verwitterten roten Buchstaben, die sich mit Mühe noch als „Bühneneingang“ entziffern ließen, öffnete sich nur wenig später. Fannys Schritte eilten durch die Pfützen. Als sie Dylans Silhouette neben der Mülltonne entdeckte, blieb sie stehen. „Willst du mitfahren?“ fragte sie leise. Er nickte und löste sich aus dem Schatten des Hinterhofes.
Fannys Auto war alt und zugig. Sie schwiegen, während sie den Wagen durch den Regen lenkte, nur das gleichmäßige Quietschen der Scheibenwischer unterbrach die Stille. Dylan zündete sich eine Zigarette an.
In Fannys kleiner Wohnung saßen sie am Küchentisch. Fanny hatte Tee gekocht. Sie nahm seine Hand und streichelte mit dem Daumen über den Handrücken. Dylan schloss seine Finger um ihre. „Ich bin wieder drauf“, sagte er.
„Ich weiß“, erwiderte sie.
„Ich hab es versucht, so oft. Ich schaffe es nicht.“
„Mir ist kalt“, sagte Fanny, „lass uns ins Bett gehen.“
Fannys Bett war groß, doch sie krochen zusammen unter eine Decke, bis sie warm waren.
„Du mußt dir helfen lassen.“ Fanny legte den Kopf auf seine Schulter, und er hielt sie fest mit seinen langen Armen.
„Sie wollen immer, daß man redet. Ich will nicht reden.“
Fannys Hand strich zärtlich über seine Brust. „Bleibst du hier, heute nacht? Oder musst du zu deiner Frau?“
Er sah zur Decke hinauf. „Anne weiß, dass ich hier bin. Ich bin sicher, sie weiß sich zu amüsieren.“
„Stört es dich nicht? All die anderen Männer?“
Ein Muskel zuckte auf seiner Wange, aber er sagte: „Nein.“ Und nach einer Pause. „Sie würde es trotzdem tun. Wenn ich es nicht wollte. Eine offene Beziehung, das war immer ihre Bedingung. Sie hat ihre Affären, und ich habe meine.“
„Immer noch? Ich meine, hast du immer noch Affären?“
„Nein, nicht mehr. Mir fehlt die Lust.“
Am nächsten Morgen war Fanny früh wach. Dylans Wärme streichelte ihren Körper, und sie schälte sich ein wenig unter der Decke hervor und strich ihm sachte das Haar aus dem Gesicht. Er sah entspannt aus. Nur die dunklen Ringe unter den Augen waren nicht verschwunden, und im Licht der hereinfallenden Sonne sah sie die hässlichen Narben auf seinen Armen und Händen. Zärtlich fuhr sie mit dem Finger darüber, als könne sie ihm so Linderung verschaffen. Dann ging sie in die Küche und setzte Wasser auf, um Kaffee zu kochen. Sie holte die Zeitung herein und blätterte darin. Sie musste sich ein neues Engagement suchen, die Tage des alten Ringtheaters waren gezählt. Die Stadt förderte lieber andere Projekte, mit mehr Prestige und mehr Glamour. Fanny brühte den Kaffee auf und setzte sich an den Küchentisch. Dylans Uhr lag noch darauf, sie nahm sie in die Hand und roch daran. Ein Hauch von schalem Tabak und Männerschweiß. Auf der Rückseite entdeckte sie eine Gravur. Für Dylan, zum 30. Geburtstag, in Liebe, Anne. Fanny behielt die Uhr in der Hand. In Liebe, dachte sie, sie hat eine seltsame Art, jemanden zu lieben. Sie, Fanny, sie liebte Dylan. Für immer. Das war es, was sie gravieren ließe. Fanny goss Kaffee in zwei angestoßene Becher, rührte etwas Zucker in den einen und gab einen Schuss Milch in den anderen. Gerade wollte sie aufstehen und Dylan den Kaffee bringen, als er hereinkam. Trainingshose und Hemd von Fannys Exmann schlotterten um seinen mageren Körper. „Der Kaffee hat mich geweckt.“
Sie lächelte. „Guten Morgen. Geht's dir besser?“
„Ich glaube schon.“ Er setzte sich und umschloss den Becher mit beiden Händen. Der heiße Dampf stieg ihm ins Gesicht. „Du hast recht“, sagte er, „dass ich Hilfe brauche. Ich habe immer gedacht, ich brauche nur ein bisschen Willen. Aber es reicht nicht.“
„Was wirst du tun?“
Er hob den Blick. „Ich habe Angst.“
Sie suchte seine Hand und hielt sie fest. „Ich auch“, sagte sie.
Am Abend ging Dylan zu Fuß zum Theater. Er hatte Anne nicht gesehen, aber er nahm an, daß sie bald nach Hause kam. Sie ließ die Kinder nicht alleine über Nacht, so war sie nicht. Sie brachte die Männer mit nach Hause. In sein Zuhause. In sein Bett. Am Anfang hatte er geglaubt, es mache ihm nichts aus. Ihre Männergeschichten. Er war auch nur eine davon gewesen. Geheiratet hatten sie nur wegen der Kinder. Dylan lief Slalom um die Pfützen im Hinterhof. Jetzt, im Dämmerlicht, sah er noch schäbiger aus als bei Nacht. Durch den Bühneneingang trat er in den muffigen Korridor. Der Theatersaal war heute weniger leer als sonst, und das Publikum spendete Dylan langen Applaus. Nach der Vorstellung kam Bert in seine Kabine. Er druckste ein wenig herum, dann fragte er: „Gehen wir was trinken?“
In einer kleinen verrauchten Eckkneipe saßen sie am Tresen, und Bert spendierte schottischen Whisky. „Es ist vorbei“, sagte er, „noch diesen Monat, und dann werfen sie uns raus. Es wird wohl abgerissen. Und dann stellen sie einen Einkaufstempel hin, einen von diesen scheußlichen Türmen, wo es im Untergeschoss nach Fisch und Fritten riecht und man auf dem Weg ins Multiplex-Kino oben noch rasch Klamotten und billigen Schmuck kauft.“ Bert sah immer traurig aus mit seinen hellen Augen und dem schiefen Mund.
Dylan erwiderte nichts. Der Whisky brannte in seiner Kehle.
„Ich werde wahrscheinlich fortgehen“, sagte Bert. „Ein Freund hat mir was angeboten, in London. Musical. Wäre das nicht auch was für dich, Dylan?“
Dylan verzog das Gesicht. „Ich weiß nicht. Ich habe doch keine ausgebildete Stimme.“
Bert orderte mehr Whisky. „Hör zu, Dylan. Du bist gut. Ich mein das ernst. Du kannst überall was finden. Fernsehen. Versuch's doch mal beim Fernsehen.“
„Ja. Vielleicht.“ Dylan blickte in sein Glas.
In dieser Nacht kam er spät nach Hause. Bert und er waren noch lange durch die dunklen Straßen gegangen und hatten geredet. Über das Theater. Über die Kollegen. Über Anne und die Kinder. Dylan zog die Haustür leise zu. Er streifte die Schuhe von den Füßen und hängte den Mantel an die Garderobe, spähte vorsichtig ins Kinderzimmer. Anna hielt ihr Pony im Arm und Philipp das kleine Huhn, das überallhin mit musste. Einen Augenblick blieb Dylan dort stehen und lauschte ihren Atemzügen, dann schloss er die Tür leise und ging ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch stand eine geöffnete Flasche Wein und zwei benutzte Gläser. Anne hatte also Besuch gehabt. Dylan griff nach der Flasche und nahm einen großen Schluck. Er ließ sich auf das Sofa sinken und schloss die Augen. Langsam trank er den Wein, genoss den Schwindel, den er ihm nach und nach in den Kopf trieb.
Als er aufwachte, fiel Tageslicht durch die Fenster. Sein Hals war steif. Langsam richtete Dylan sich auf und warf einen Blick auf die Uhr. Halb sieben. Er stand auf und ging in die Küche. Die schmutzigen Gläser und die leere Weinflasche nahm er mit. Er öffnete die Tür zu dem winzigen Balkon, kochte Kaffee und setzte sich an den Tisch. Auf dem Regal neben der Balkontür stand ein Foto. Anne, Dylan und die Zwillinge. Letztes Jahr im Zoo, vor dem Straußengehege. Anne hatte es mit dem Selbstauslöser aufgenommen. Dylan rührte Zucker in den Kaffee.
Als Anne hereinkam, war sie nur mit Shorts und einem dünnen Oberteil bekleidet. Sie nahm einen Becher aus dem Schrank und schenkte sich Kaffee ein. „Warum bist du nicht ins Bett gekommen?“
„Ich wusste nicht, ob du alleine bist.“
Sie setzte sich und schlug die Beine übereinander. „Du warst letzte Nacht bei Fanny.“
„Ja.“ Das Oberteil verbarg Annes kleine Brüste kaum. „Sie machen das Theater zu.“ Stumm begann er, sich eine Zigarette zu drehen.
„Was hast du jetzt vor?“ fragte Anne.
„Ich versuche, einen Platz in der Klinik zu bekommen.“
„Hat Fanny dir das eingeredet? Du wirst es doch wieder abbrechen.“
Er sah sie an. „Du willst gar nicht, dass ich aufhöre, stimmt's? Dann könntest du mir nicht mehr drohen. Deswegen hilfst du mir nicht.“
„Mach dich nicht lächerlich. Die Kinder werden so oder so mir zugesprochen, ob du einen Entzug machst oder nicht. Und du und ich, wir wissen beide, dass du es nicht durchhältst. Du hast noch nie durchgehalten.“
Dylan sagte nichts. Er zündete die Zigarette an und beobachtete die rotglühende Spitze.